Was ist los in Lateinamerika?

Auseinandersetzungen in Cochabamba, mehrere Protestierer wurden von der Polizei erschossen. Screenshot: Ruptly

Lateinamerika zwischen rechten Putschisten, linken Sozialreformern und ökonomischer Dauerkrise

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Lateinamerika droht, in politischen Konflikten und ökonomischen Dauerkrisen zu versinken1: In Chile2 versucht eine breite Volksbewegung, mit Massendemonstrationen nie dagewesenen Ausmaßes den neoliberalen Milliardär Sebastián Piñera zu stürzen bzw. ihm eine sozialere Politik abzutrotzen. Chile war Jahrzehnte lang das Experimentierfeld der neoliberalen US-Ökonomen und ihrer einheimischen Epigonen3, die so ziemlich alles privatisieren ließen, was zur kollektiven Daseinsvorsorge des Landes gehörte.

Nun wird die Rechnung dafür präsentiert: Vor allem die jungen Leute sind wütend über ihre trostlosen Zukunftschancen und die ihnen aufgebürdeten finanziellen Belastungen und rebellieren mit aller Kraft. In Brasilien4 hat sich ein rechtsradikaler Vertreter der "drei B" (Bullen, Bomben, Bibeln - also Rinderbarone, Militärkaste und evangelikale Sekten) durchgesetzt, der den Regenwald noch schneller den Interessen der Großagrarier und der Holzkonzerne opfert, die Indigenen massakriert, die Frauen diskriminiert und die Schwulen/Lesben und alle abweichenden Lebensstile verfolgen lässt.

In den "linken" Ländern wie Bolivien und Venezuela wurden die jeweiligen Präsidenten gestürzt oder stehen kurz davor. Argentinien wiederum wurde durch die angeblich so erfolgreiche neoliberale Politik der letzten Jahre5 endgültig an die Wand gefahren und steht ökonomisch mit dem Rücken zur Wand.

Die neue kolumbianische Rechtsregierung beendete mehr oder weniger den vielgelobten "Friedensprozess" mit der FARC-Guerilla6; Todesschwadronen hatten im Wahlkampf etliche FARC-Kandidaten, die als zivile Partei-Vertreter in die Wahlkampf-Arena gestiegen waren, getötet, so dass inzwischen ein Teil der FARC-Mitglieder die Hoffnung auf eine faire, zivile politische Beteiligung aufgegeben hat und wieder zu den Waffen greift, so dass das ganze "Spiel" von Terror und Gegenterror von neuem zu beginnen droht.

Die USA und ihr berüchtigter Geheimdienst CIA, die Lateinamerika seit den Zeiten der Monroe-Doktrin als den angestammten "Hinterhof" ihres globalen liberalkapitalistischen Imperiums betrachten, mischen offensichtlich und erklärtermaßen beim Rollback der linken Sozialreformer wie eh und je7 tatkräftig mit8, knüpfen Netzwerke, verbreiten falsche Gerüchte, laden Oppositionelle ins Weiße Haus ein, um sie gegen die unliebsamen Regierungen in Stellung zu bringen - militärische Unterstützung bei Bedarf eingeschlossen: Man verfügt da ja über jahrzehntelange Erfahrung und Übung …

Die charismatischen Volkstribune der Armen, bisweilen ebenso wenig gegen Korruption und selbstherrliche Machtallüren gefeit wie ihre Gegenspieler aus der einheimischen Bourgeoisie, konnten zudem nie eine eigene tragfähige ökonomische Basis unter ihrer Regie, d.h. jenseits der dominierenden Privatmacht der Plantagenbesitzer, Rinderzüchter und Bergbauunternehmer schaffen, sondern wurden nach und nach zwischen den gegensätzlichen Interessen der weißen Grundbesitzerklassen, ausländischen "Investoren" und urbanen Eliten einerseits, den indigenen Bauern, Landarbeitern und Dienstleistungsangestellten andererseits aufgerieben, nachdem die Basis ihrer sozialen Umverteilungsprogramme, die Rohstoffpreise am Weltmarkt, wieder unter Druck gerieten.

Abhängigkeit vom Rohstoffexport

Die absolut trostlose Situation, in die diejenigen Länder Lateinamerikas, die sich vom Weltmarkt und der Suprematie der USA zu befreien suchen, immer wieder zurückfallen, erklärt sich nicht nur, aber doch wesentlich aus einem grundlegenden politökonomischen Sachverhalt: Extraktivistische Rohstoffökonomien, die als abhängige Zulieferer der kapitalistischen Industriestaaten unterwegs sind, verfügen nicht selbst über die zentralen Bedingungen ihres Wirtschaftens, da Preise, Nachfragevolumina und darüber vermittelt Produktionsbedingungen und Handelsströme von den Staaten bestimmt werden, in denen die Musik des Weltmarkts spielt.

Da hilft es wenig, wenn "progressive" Regierungen die temporären Höchststände der Preise auf bestimmten Rohstoffmärkten nutzen, um Umverteilungsprogramme durchzusetzen - weder ist der Preisboom von Dauer, da er von den Wechselfällen der industriellen Konjunkturen der maßgeblichen Subjekte des Weltmarkts abhängt, noch schafft man sich durch reine Umverteilungsmaßnahmen eine neue, anders geartete produktive Leistungsgrundlage für das jeweilige Land - die Produktionsverhältnisse bleiben die alten, sei es in sozialer oder technischer Hinsicht.

Ein paar Liter Milch hier, ein paar gesundheitspolitische Maßnahmen dort, ein Mehr an Beteiligung fast überall - man denke z.B. an Lulas Sozialprogramme oder an Chavez‘ Stadtteilpolitik - mögen den armen Leuten sicher gut tun; sie ersetzen aber keine Veränderungen in der Art und Weise, in der in diesen Ländern Wirtschaft organisiert und veranstaltet wird, was vor allem die Abhängigkeit vom Rohstoffexport zeigt: Fallen die Öl-, Soja- oder Kupferpreise, ist der Spielraum für die Verteilungsmaßnahmen schnell wieder weg und der Frust der enttäuschten Massen umso größer.

Rohstoffe sind eben kein Reichtum an sich, sondern stellen in einer industrie- und finanzkapitalistischen Weltökonomie nur mehr oder weniger teure Grundstoffe, Voraussetzungen oder "Ingredienzien" für eine rentable industrielle Produktion dar, aus der der eigentliche Reichtum der kapitalistischen Welt, die erfolgreiche Kapitalvermehrung erwächst. Deswegen sind auch die Staaten mit einer global schlagkräftigen Auto-, Maschinenbau-, Rüstungs-, Computer- oder Handy-Produktion, vielleicht einer unschlagbaren weltumspannenden Handelslogistik oder - in zunehmendem Maße - global verwertbaren Datenkommunikationsstrukturen und -plattformen auf den vorderen Plätzen und nicht die Rohstofflieferanten.

Kommt zu dieser ökonomisch-strukturell schwachen Markt- und Machtposition noch die Scheu dazu, sich mit den herrschenden Clans bzw. den allmächtigen Großgrundbesitzerklassen anzulegen und paart sich das damit, dass die eigene "progressive" Elite sich in das durch und durch korrupte politische System in der Regel schnell bruchlos einreiht, dann ist der Weg zu Erscheinungen wie im heutigen Nicaragua9 offen, in dem die mit ausgewählten Konzernen und wirtschaftlich führenden Klans paktierende Ortega-Sippe sich längst von den Prinzipien & Idealen des Sandinismus verabschiedet hat und als gewalttätiger Gegner selbst ihrer ehemaligen Anhänger und Mitstreiter agiert.

Linkspopulistische Politik blieb abhängig von den Rohstoffen

Sogar bei denjenigen, die grundlegende Sympathien für die "bolivarischen Revolution" von Hugo Chavez in Venezuela und ähnliche Programme hegen, sollte die Einsicht fällig sein, dass z.B. die schiere Verstaatlichung von Ölreserven bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber dem Zustand der Ölindustrie, ja der nationalen Industrie insgesamt kein Weg irgendwohin ist. Zum einen hängt der Finanzspielraum für die im Vordergrund stehende kompensatorische Sozialpolitik vom Weltmarktpreis für Öl ab, zum anderen hat eine nicht gewartete und nicht kontinuierlich erneuerte Ölförderungstechnologie immer geringere Fördermengen zur Folge, was die Einnahmen reduziert. Sinkt schließlich auch noch der Weltmarktpreis für Öl, bricht das ganze sozialpolitische Gefüge zusammen und es geht nur noch um den Machterhalt pur - wie stets in solchen ausweglosen Extremsituationen.

Fazit: Mit steigenden Rohstoffeinnahmen kann man zwar leicht eine linkspopulistische Politik fahren und so vorübergehend zum Volkshelden aufsteigen, aber man wird die Abhängigkeit von eben diesen Rohstoffen und ihrer weltmarktvermittelten Preisbewegung nicht los. Wenn man dann noch versäumt - oder auch einfach die ökonomischen Mittel und/oder die politische Durchsetzungsmacht dafür nicht mobilisieren kann -, mit dem Geld in die zentrale Bedingung der Unabhängigkeit, eine moderne Fördertechnologie sowie eine eigene industrielle Basis zu investieren, gehen bei der nächsten Krise der Rohstoffpreise die Lichter aus und vorbei ist es mit dem schönen "Verteilungsspielraum".

Das nimmt jedoch nichts davon weg, dass die Politik der linken Regierungen bei all ihren Differenzen und Divergenzen die Beteiligung der Indigenen, Bauern, Landlosen und Lohnabhängigen an den Früchten des Rohstoffreichtums ihrer Länder im Fokus hatte und dabei im Rahmen der von ihr nicht verschuldeten Grenzen und trotz der von ihr zu verantwortenden Fehler und Halbheiten durchaus erfolgreich war. In Bolivien, Venezuela und Brasilien verbesserte sich zunächst die Lebenslage der viel beschworenen "breiten Massen" - bis die Rohstoffpreise wieder sanken, die politischen Gegner im Lande, dabei gezielt gefördert durch die USA, ihre Störfeuer vervielfachten und sich das mangelhafte Grundkonzept einer Fokussierung auf die Umverteilung von Überschüssen aus dem Verkauf der natürlichen Reichtümer geltend machte.

Medien und politischen Eliten der westlichen Welt messen mit zweierlei Maß

Denn ihre Erfolge bei der besseren Versorgung der "Abgehängten" werden ihnen von den maßgeblichen Subjekten der kapitalistischen Weltwirtschaft eben nicht honoriert, im Gegenteil - die Medien und politischen Eliten der westlichen Welt messen in der Beurteilung der linken und rechten Regierungen des Subkontinents wie stets mit zweierlei Maß.

Es hat sich eher bestätigt, dass die Bundesrepublik eine US-hörige Außenpolitik in Lateinamerika betreibt und zudem doppelte Standards anlegt. Denn den Präsidenten von Honduras hat sie ohne weiteres anerkannt. Doch Juan Orlando Hernández hatte bei den zurückliegenden Wahlen verfassungswidrig ein weiteres Mal kandidiert. Ihm wurde aus Berlin unmittelbar zur Wiederwahl gratuliert.

Heike Hänsel, BT-Abgeordnete der Linken und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

Morales konnte dies offensichtlich nicht passieren; Bolsonaro hingegen wurde nach seiner Wahl von Trump bis Maas freudig als wichtiger Wirtschaftspartner und Verbündeter begrüßt, wobei der deutsche Außenminister zumindest pro forma an die gemeinsamen "Werte" erinnert hatte, an die Bolsonaro sich doch bitte ein wenig halten möge. Danach war von einer Kritik an der sofort einsetzenden Diskriminierung der Schwulen & Lesben, der Massakrierung der Indigenen und der noch exzessiveren Vernichtung des Regenwalds nicht viel zu hören.

Was immer im Vorfeld der Machtübernahme von Militär und rechten Politikern - die selbst ernannte evangelikale "Übergangspräsidentin" Jeanine Añez erklärt die Herrschaft der Bibel für angebrochen - in Bolivien daher geschehen sein mag: Morales war eben nie ein Wunschkandidat der westlichen Arbeitgeberverbände, Handelskammern und Politiker, da sein Bestreben, die Lithium-Vorräte und sonstigen Rohstoffe durch Verstaatlichungen und/oder staatliche Abschöpfungsmechanismen auch für die Verbesserung der Lage der einheimischen indigenen Bevölkerung zu nutzen, dort auf wenig Gegenliebe stieß.

Da sind Figuren wie einst Pinochet, heute Bolsonaro und Piñera, die sich offen zur Herrschaft der einheimischen Bourgeoisie und ihrer auswärtigen Förderer, Investoren und "Kundschaft" bekennen und dieser rücksichtslos alle Hindernisse aus dem Weg räumen, schon leichter zu "händeln" - das macht ihre "Verlässlichkeit" und Berechenbarkeit aus, die unumgänglich ist, wenn z.B. in Brasilien unzählige deutsche Firmen den dortigen Absatzmarkt ebenso nutzen wie die billigen Arbeitskräfte, über deren Botmäßigkeit rechte Politiker und Militärs zuverlässig wachen.

Für Deutschland ist Brasilien der wichtigste Handelspartner in Lateinamerika, exportiert werden vor allem Maschinen und Anlagen. Aus brasilianischer Sicht ist Deutschland der mit Abstand bedeutendste Handelspartner in der EU. (…) Mit über 800 ansässigen Unternehmen aus Deutschland ist São Paulo der größte deutsche Industriestandort weltweit.

GTAI

Die ökonomischen Interessen bestimmen auch hier letztlich die Richtung des parteilichen Urteils. Das Demokratiegerede ist, analysiert man die Sache genauer, nur Beiwerk und gebetsmühlenartig vorgetragener Legitimationsmechanismus: So blieben Beweise für einen angeblichen "Wahlbetrug" seitens Morales bisher aus; die inkriminierten Vorfälle bewegten sich gemäß den bisherigen Analysen im Rahmen von Unregelmäßigkeiten, wie sie auch Europa und die USA kennen. Gerade die USA schrecken vor nichts zurück, wenn es um die Etablierung einer handlungsfähigen Regierung geht: Da wird beispielsweise der Stimmenüberhang von Al Gore gegenüber George W. Bush schlichtweg unter den Tisch fallen gelassen, da werden Wahlbezirke "umgeschnitten" und Wahlberechtigte je nach Ausweis zurückgewiesen, damit ja das Ergebnis passt.10

Andersherum: Wie auch immer das Ganze im Einzelnen letztlich gewesen sein mag: Kein Faschist und keine Diktatur können in Lateinamerika übel genug sein, dass nicht die westlichen Außenminister (wie Maas im Falle von Bolsonaro und Piñera) "gemeinsame Werte" entdecken, derer gemahnt wird, sobald diesen moralischen "Werten" handfestere Werte der ökonomischen Art zugrunde liegen.

Daraus erklärt sich die generelle Unterstützung der weißen Eliten Lateinamerikas durch den Westen; dadurch werden die ökonomischen Restriktionen einer umverteilenden linken Politik in Lateinamerika absichtsvoll politisch potenziert - von "Sozialismus" kann ja bei diesen Programmen kaum die Rede sein, da es ihnen an den Mitteln zur ihrer eigenen Umsetzung letztlich gebricht, weil ihre Protagonisten nur aus sich heraus die Rolle ihrer jeweiligen Länder als Objekte des Weltmarkts nicht abstreifen können.

Dass die Lage so hoffnungslos erscheint, liegt nicht an der "mangelnden politischen Kultur" der betroffenen Länder, sondern an den Gesetzen des neoliberalen Weltmarkts. Für lateinamerikanische Staaten gibt es jenseits der Rohstoffplünderung keine echte Perspektive. Dort aber, wo wenig Wertschöpfung stattfindet und der Kuchen klein ist, verwandelt sich der Staat in eine Arena der Verteilungskämpfe. Die Linksregierungen haben versucht, die Rohstoffeinnahmen etwas ausgewogener zu verteilen. Doch seit die Nachfrage auf den Weltmärkten stockt, ist es damit vorbei. Das neoliberale Modell, das jetzt mit aller Macht zurückkehrt, wird die soziale Krise weiter vertiefen. Die Unruhen in Lateinamerika sind nicht nur, aber auch die Kehrseite einer ökonomischen Globalisierung, die Länder in Besitz nimmt, aber deren Bevölkerung nicht braucht.

Raul Zelik

Im Rahmen der herrschenden Weltwirtschaftsordnung sind die lateinamerikanischen Staaten demgemäß widerständige bis willfährige Opfer der marktradikalen Globalisierung des Kapitals, das einen nicht unerheblichen Teil der Weltbevölkerung für seinen strikt an der Profitmaximierung ausgerichteten Verwertungsprozess nicht benötigt. Darüber können auch fast 40 Jahre Finanzialisierung der kollektiven Daseinsvorsorge und - damit verbunden - der Ersatz staatlicher Leistungen und einkommensbasierter Nachfrage durch Verschuldung nicht hinwegtäuschen.

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