Was hilft bei Depression?

Antidepressiva offenbar nicht - Neue Untersuchung spricht von Placebo-Effekten, Studienautor Reinhard Maß findet die Idee, Tabletten könnten helfen, gar "absurd"

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Deutschland wird immer depressiver. Jährlich erkranken hierzulande deutlich mehr als fünf Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression; die Zahl der Behandlungsfälle hat sich seit der Jahrtausendwende damit mehr als verdoppelt. Frauen trifft es häufiger als Männer, immer öfter sind Kinder und Jugendliche unter den psychisch Erkrankten. 2016 zum Beispiel wurden allein 15.446 Kinder und Jugendliche wegen einer Depression stationär in einem Krankenhaus behandelt.

Wunderwaffe Anti-Depressiva?

Neben der gedrückten Grundstimmung leiden depressive Menschen meist an einer ausgeprägten Antriebsstörung. Sie kämpfen gegen einen als bleiern empfundenen Zustand, die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen. Sie berichten von Konzentrationsstörungen, zum verminderten Antrieb addieren sich Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Nach den "Nationalen Versorgungsleitlinien Depression" sind Antidepressiva und Psychotherapie die wichtigsten Säulen bei der Behandlung.

Die 2008 gegründete Nationale Depressionshilfe bezeichnet die - nicht nur hierzulande - massiv eingesetzten Antidepressiva auf seiner Homepage als wirkungsvolle Hilfe im Kampf gegen die stille Krankheit. Im Deutschlandbarometer der Stiftung, die sich selbst als "pharma-unabhängig" bezeichnet, heißt es: "Antidepressiva (…) wirken gezielt gegen die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn."

"Absurde Idee"

Genau das bestreitet nun der Psychologe Professor Reinhard Maß vom Klinikum Oberberg (Zentrum für seelische Gesundheit Marienheide). Er hat gemeinsam mit vier Co-Autoren eine breit angelegte Studie vorgelegt, veröffentlicht in "Comprehensive Psychiatry". Es geht um Placebo-Effekte in der Psychiatrie.

Maß und sein Autorenteam kommen zu dem Schluss: Nur wer an die Wirkung von Antidepressiva glaubt, darf von ihnen Linderung erwarten. Über den Placebo-Effekt hinaus hätten die Pillen auf eine Depression nach ihren Untersuchungen vermutlich keinen Einfluss. Für die Erhebung wurden 574 Frauen und Männer über fünf Jahre (2012 bis 2017) psychotherapeutisch begleitet und befragt. Dabei machten die Probanden detaillierte Angaben zum Grad ihrer Traurigkeit, zu den Themen Schuldgefühle, Schlafgewohnheiten, Suizidgedanken, Sexualität. Psychologe Maß ist sich sicher: "Je mehr man verstanden hat, welche Lebensumstände eine Depression verursacht haben, desto absurder erscheint die Idee, Tabletten könnten helfen."

Auf der Spurensuche nach der Wirkung der umfänglich eingesetzten Antidepressiva hatte es bereits zu früheren Zeitpunkten Metaanalysen gegeben, die eigentlich bereits Hinweise lieferten. So ist durchaus bekannt: Viel ärztliche Zuwendung plus Placebo wirken so gut wie das "echte" Medikament, so meinte unlängst beispielsweise Winfried Rief, Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg.

Was muss sich ändern? Die Lebensbedingungen

Noch einmal Studienautor Maß: Der "Glaube" an Antidepressiva sei "tief in unserer Gesellschaft verwurzelt". Die Wirksamkeit der Tabletten werde überschätzt, leider auch unter Fachkollegen. Die nach wie vor verbreitete Annahme, eine Depression werde durch einen Mangel an Serotonin im Zentralnervensystem verursacht, gelte als nicht mehr haltbar.

Depressionen kann man nicht wie gebrochene Knochen behandeln (…). [Sie] können erst verschwinden, wenn sich die Lebensbedingungen ändern. Und dabei hilft keine Pille, sondern Psychotherapie.

Prof. Reinhard Maß, Klinikum Oberberg

Jeder von uns kennt Fälle von Depression - in unserem beruflichen wie auch privaten Umfeld gibt es immer mehr Menschen mit depressiven Erkrankungen - und immer wieder Pillen, Pillen, Pillen. Gemäß der Deutschen Depressionshilfe ist auch das nähere Umfeld der Depressiven, wenn auch indirekt, betroffen; Wissenslücken führen da leicht zu Unverständnis und Fehlinterpretationen, denn - ein Beispiel nur - Rückzug und Gefühllosigkeit werden oft nicht einmal innerhalb der Familie als krankheitsbedingt erkannt.

Der Glaube an die Pille bröckelt

Eine "Depression" belastet insofern Partnerschaft, Familie und oft auch das soziale Umfeld in hohem Maße: 84 Prozent der Erkrankten haben sich während ihrer Depression aus sozialen Beziehungen zurückgezogen. Umso dringender die Frage: Wie der Erkrankung am besten beikommen, und: Welche der bislang als "Säulen" der Behandlung gepriesenen Standbeine sind tatsächlich erfolgversprechend? Gehören immer noch mehr Pillen dazu?

Die jüngst veröffentlichten Studienergebnisse lassen aufhorchen, versetzen dem "Glauben" an die Pille einen Dämpfer. Die millionenfach eingesetzte Wunderwaffe Anti-Depressiva, die auch von "pharma-unabhängiger" Seite gern als wirkungsvoll deklariert wird, wird offenbar überschätzt. Zum Nutzen der Patienten, zu denen immer häufiger auch Kinder und Jugendliche zählen? Eine berechtigte Frage.

Aber Vorsicht! Psychopharmaka nicht selbst absetzen! Der Mediziner rät, unbedingt einen Arzt zu konsultieren. Denn der Körper habe sich meist an das Medikament gewöhnt, daher sei es wichtig, vorsichtig und schrittweise vorzugehen. Absetzen, so der Experte, ist daher nur unter ärztlicher Aufsicht geboten, im Alleingang kann es zu - sogar beträchtlichen - Komplikationen kommen.