Peter Handke. Zum Beispiel

Gedanken zu einer Praxis

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Persönliche Vorgeschichte. 1997 bereiste ich zusammen mit einem Freund den kriegszerstörten Balkan. Wir sahen im bosnischen Bihać ein Volksfest. Zu martialischen Klängen einer Rockband fuhren Panzer vor (auf einer Leinwand) und die Menge jubelte zu. Wir sahen in Sarajevo die Gräber in den Parks und den Markt, wo eine Granate über sechzig Menschen in den Tod gerissen hatte.

Wir übersahen bei der Weiterfahrt in die Republik Srpska den kleinen Ort Pale, wo sich Karadžić angeblich versteckt hielt, und fanden den Gesuchten dafür an den Schaufenstern der Läden in Višegrad aufgeklebt. Don‘t Touch Him. Das stand auf den Plakaten. Versuchte man auf Englisch eine Auskunft zu bekommen, wandten die Gesichter sich ab. Wir sahen Zerstörungen allüberall (außer ganz vorne an der Küste) und sprachen in Kroatien und Bosnien mit Menschen, die während des Krieges da gelebt hatten. Touristen waren keine zugegen, stattdessen die IFOR-Soldaten der NATO.

Im Vorfeld wurde von der NZZ und vom Tages-Anzeiger signalisiert, man würde sich für Berichte interessieren, wir sollten sie zusenden. Wir sandten zu. Veröffentlicht wurde nichts. Was mochte der Grund gewesen sein? Schlecht geschrieben? Zu politisch für den Reiseteile? Zu persönlich für Politik? Dass wir ein falsches Schema aufgeschlagen hätten, Gut und Böse vertauscht: Das jedenfalls konnte der Grund nicht sein.

Wer für den Krieg verantwortlich zeichnete, war uns schon vor der Abreise klar gewesen. Und daran änderten die drei Wochen auf dem Balkan nichts. Wie auch? In Sarajevo zeigten die Menschen hoch zu den Bergen und sagten, da hätten sie gestanden, die Serben, und die Stadt beschossen. Jahrelang. Und so war es in unseren Texten zu lesen und an der Richtigkeit dieser Aussagen zweifle ich auch heute nicht.

Nun also, ein Vierteljahrhundert später, wird Peter Handke mit dem Nobelpreis versehen, den er in früheren Jahren kritisch beurteilt hat. Und darauf die Stellungnahme aus den Redaktionen. Von Genozid-Leugner oder Verharmloser ist die Rede. Von Irrsinn und Blackout. Damit wurde Handke schon einmal gekennzeichnet.

Neu sind Wörter wie Scheiße und Arsch dazugekommen. Nein, nicht in Trump-Tweets, sondern in Beiträgen von Redaktoren und Schriftstellern. Und wie ich das so lese, fällt mir ein: Es mochte damals vielleicht doch nicht an unserer Schreibweise gelegen haben und nicht daran, dass die Berichte in kein Ressort gepasst hätten.

Vielmehr könnte das Zugesandte an etwas gescheitert sein, das mir bei der Kommentierung der Nobelpreisvergabe entgegenbrandet: Eine Wucht und ein Geist darin. Dabei bekam Handke, in unseren damaligen Berichten als Angestellter der deutschen Literatur kurz und abwertend erwähnt, durchaus das "richtige" Etikett verpasst. Aber das reichte vielleicht nicht. Es gab nämlich Passagen, die andeuteten, weiß Gott behutsam, dass die Linien nicht ganz einfach zu ziehen seien.

Dafür verantwortlich waren zwei Frauen. Zwei kroatische Serbinnen, beide um die vierzig. Schwestern, aufgewachsen in Zagreb. Die Mutter Serbin, der Vater Kroate. Eine der beiden, wir trafen sie zu Beginn der Reise auf der Insel Cres, lebte bereits seit Jahren als Zahnärztin in der Schweiz. Sie fädelte das Zusammentreffen mit ihrer Schwester ein, die über alle Kriegsjahre hin im kroatischen Hinterland in Karlovac ausgeharrt hatte. Die Erfahrungen dieser Frauen aber stimmten mit dem Urteil in unseren Köpfen nicht überein.

Vor allem die Aussage Dušankas aus Karlovac, einer Bhagwan-Anhängerin, die Politik Titos und mit ihr das alte, kommunistische Jugoslawien sei der Friedensbotschaft Oshos erheblich näher gekommen als etwa die neue Politik eines Tudjmans und der Nationalstaaterei, aber ebenso Brankas Hinweis, auch Serben hätten unter Vertreibung, Mord und Vergewaltigung gelitten, namentlich etwa in Vukovar, und davon sei nirgendwo zu lesen, verwirrte uns.

In unseren Texten gaben wir - auf vergleichsweise wenigen Zeilen - den Erfahrungen der Frauen Raum und deuteten unsere Verwirrung an. Eine leise Differenzierung: So würde ich das heute nennen. Das Urteil aber, mit dem wir losgezogen, ließen wir bestehen.

"So spricht Wahn"

In einem Weltbild, wie es der Empörung über die Nobelpreisvergabe für Handke zugrunde liegt, hat eine Differenzierung, wie leise sie auch immer sei, nicht Platz. Da ist mehr als Eifer am Werk. So spricht Wahn. Die Andeutung einer anderen Perspektive bereits sprengt den Rahmen. Gefällt, gefällt nicht. Daumen rauf, runter. Das ist das Kennzeichen der Ordnung, die nichts duldet außer sich selbst. Verwirrung allein ist schon Verbrechen. Von Fragen nicht zu reden. Und ja, Handke stellte in Frage. Noch immer.

Die Person Handke totschießen. Die Sache totschießen. Dass die Personalisierung ein allererstes Instrument der Massensteuerung ist, haben Psychologen, Soziologen und Medienwissenschaftler immer wieder herausgestellt. Nicht zuletzt, weil sich Gut-Böse-Schemen schlecht auf komplexe Sachlagen, bestens aber auf einzelne Gesichter anwenden lassen. Bei Preisen und Wettbewerben ist die Personalisierung gesetzt. Kein Wunder vergibt eine Ordnung Preise.

Preisträger sind Gesichter, die in die richtige Richtung weisen. Sie sprechen für das System, das die Preise vergibt (Stanišić - zu ihm später - tat es vorbildlich). Und fällt ein Preis für einmal auf das falsche Gesicht, ein "böses" (vielleicht aus strategischen Gründen gar?), so ändert sich daran nichts. Bloß gilt es in diesem Fall, das Vorbild sekundenschnell in eine Zielscheibe zu verwandeln.

Schießt man die Person über den Haufen, ist die Sache, die man ihr in den Mund legt, mit gestorben. Das funktioniert immer, wenn die persönliche Diffamierung greift. Deshalb wird die Zielscheibe nicht als Träger einer Argumentation aufgebaut. Es soll ja der Mechanismus nicht erkennbar sein. Und so finden wir auch nicht ein einziges Argument aus Sicht Handkes in dieser "Debatte". Seine Position erscheint abgekoppelt von jeder Logik.

So bleibt er frei zugänglich für die Wertungen, die man zu verpassen hat: Irrsinn. Und ist die Person entblättert, getrennt von jedem Argument, zieht sie dann wie von selbst die Attribute an. Schläger, Schänder. Als Beleg irgendein Brief einer Ex-Freundin, egal. Totalitarismus agiert im Ungefähren und wer will schon an Zuschreibungen herumnörgeln, die so schrecklich sind, dass die Empörung alsbald auf den überschwappt, der sie in Frage stellt.

Wie veraltet dagegen die Vorstellung, man könnte sich gänzlich auf die Sache konzentrieren. Eine andere Position sachlich darstellen. Mit Argumenten, die selbstverständlich kritisch zu beleuchten wären. Altes Zeug, wie gesagt. Journalismus der 1970er, vielleicht der 1980ern noch. Nein, Handke muss mit abgesägten Hosen gezeigt werden. Argumente stören das Bild, das man für die Hetze braucht.

Wie Hetze geht. Bei Assange - mittlerweile abgemagert wie ein KZ-Häftling - kann es mustergültig studiert werden. Wurde es still um ihn und also um die Sache, da stellte die schwedische Justiz das Verfahren wegen Vergewaltigung ein. Kam wieder politische Bewegung auf und bestand dadurch die Gefahr, dass Assanges fundamentale Machtkritik, konkret: das Aufdecken von Mechanismen der geopolitischen Machtsteuerung durch die USA, erneut ins Blickfeld rücken könnte, so war die schwedische Justiz verlässlich zur Stelle und schob das eingestellte Verfahren neu an. Nicht um ein juristisches Resultat zu erzielen, sondern als Teil eines Vernichtungsmechanismus‘.

Wer den Process von Franz Kafka kennt, kann das nicht überraschen. Und steht die Macht auf dem Spiel, kennt die Zersetzung keine Grenzen. Angestellte des westlichen Wertebündnisses haben Assange systematischen Vernichtungsmethoden ausgesetzt (der Schweizer UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer, von den Medien äußerst marginal erwähnt, bezeichnet die Behandlung Assanges als Folter), um ihn am Ende als entmenschlichtes Subjekt vorzuzeigen. Wie ein Hund - so endet der Process.

Nachdem man ihn mit Foltermethoden zerstört hat, schreiben die Zeitungen, die davon berichten, anlässlich der kürzlich erfolgten Einvernahme: "Assange machte einen verwirrten Eindruck." Klingt Erstaunen heraus? Geht mehr an Zynismus? Wer getan, was Assange getan, endet im Irrsinn. Etwas anderes ist nicht vorgesehen. Den Missbrauchsvorwurf aber konnte man strecken, die Dinge sind gelaufen.

Handkes "Fall" liegt etwas anders. Die Zersetzung läuft über Worte, die physische Dimension der Demontage bleibt weg. Was nicht unbedingt heißt, Handke wäre weit davon entfernt gewesen - gut denkbar, dass ein Leugnungsparagraph griffe und einer, der gesagt, was Handke gesagt, zöge die juristische und also physische Zerlegungsapparatur auf sich. Vielleicht war es das dünne Seil der Kunst, das Handke über dem Abgrund hielt.

Das Muster der persönlichen Diffamierung indes zeigt sich sowohl bei Assange wie bei Handke. Ist der Kritiker zum Schläger, zum Schänder oder Vergewaltiger gemacht - über Sexualität ist immer noch viel zu erreichen, die Befreiung gründlich misslungen -, ist seine Kritik an Instanzen, die geopolitisch schlagen und schänden, tot. Alles ganz einfach. Die geopolitische Dimension von Handkes Kritik an der einseitigen Schuldzuweisung im Balkankrieg gilt es denn auch im Auge zu behalten (dazu später), die Einheitlichkeit des Handke-Urteils ist ja kein Zufall.