Vom ideologischen Konstrukt der Hochbegabung

Bild: Gerd Altmann/Pixabay License

Meinung: Wie Medien unreflektiert neoliberale Ideologie verbreiten, wenn es um Bildung geht

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In diesem Beitrag wird der Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial - Hochbegabten-Förderung in Deutschland nur mittelmäßig" vom 7. November 2019 aus der Sendung "Campus & Karriere" als exemplarisch für eine politische Ideologie herangezogen, die von Medien häufig verbreitet wird, wenn es um das Schlagwort "Hochbegabung" geht.

[DLF-Einleitung durch Sprecherin]:
Begabtenförderung: Das Wort hatte jahrelang einen etwas schalen Beigeschmack in Deutschland. Es klingt ein Bisschen nach Elite und nach Kaderschmieden - und beides wurde hier bis weit in die 90er-Jahre argwöhnisch beäugt. Inzwischen fördern alle Bundesländer Begabte - Hochbegabte. Aber oft nur punktuell, nicht ausdauernd oder zu spät. Oder es gibt eben nur ein Paar Inseln der Begabtenförderung wie spezielle Internate. Dünn gesät und heiß begehrt. All das wurde gerade noch mal beim Tag der Hochbegabung in Stuttgart deutlich. Thomas Wagner war da.

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

In der Redaktion des Deutschlandfunks mag "Begabtenförderung" keinen fahlen Beigeschmack haben. In großen Teilen der Gesellschaft wird man über ein solches Wort eher lächeln, die Augen verdrehen oder voller Entsetzen einen Meinungsartikel schreiben - wie diesen hier.

Die Tests und das echte Leben

In diesem Beitrag geht es um "Hochbegabung". Dabei wird im Prinzip der Maßstab angelegt, dass ein Mensch in einem Intelligenztest einen Wert von über 130 Punkten erlangt. Wenn die Art und Weise, wie er oder sie denkt, also dem schematisch-technokratischen Denken entspricht, das in solchen Tests abgefragt wird. Die folgenden sieben Aspekte werden jedoch nicht abgefragt in solchen Tests, obwohl sie von hoher Wichtigkeit sind für das eigene Leben:

  1. Wie man ein historisches Ereignis souverän analysiert und seine Bedeutung auf die heutige Zeit überträgt.
  2. Wie man seinen Körper und Geist in Kombination gut einsetzt, um Dinge zu kreieren.
  3. Wie man einen brillanten Satz formuliert (nicht nur korrekt, sondern kreativ).
  4. Ob man in der Lage ist, eigene Verhaltensweisen bewusst zu steuern, die einen dazu befähigen, in friedlicher Koexistenz mit anderen Menschen zu leben.
  5. Ob man versteht, was die psychologischen Beweggründe eines Menschen sind (einschließlich einem selbst).
  6. Ob man in der Lage ist, sich Gedanken zu machen über den Sinn des Lebens und die eigenen Ziele im Leben.
  7. Wie man Umstände und Systeme konstruktiv infrage stellt, um zu Schlussfolgerungen zu kommen, welche Rolle man in ihnen spielen kann und möchte.

All das wird in regulären IQ-Tests nicht getestet - und tausend Dinge mehr, die im Leben eines Menschen darüber entscheiden, ob er sich gut zurechtfindet, ob er glücklich und ausgeglichen ist. Aber schauen wir einmal, was in dem Betrag gesagt wird:

[DLF:] Hochbegabte haben ein großes Potenzial, das zu hohem Leistungsvermögen führen kann. Dafür müssen überdurchschnittliche Begabungen ausreichend gefördert werden. Doch in der Realität wird die Wissbegierde betroffener Schüler oft nicht gestillt: Sie fühlen sich häufig gelangweilt.

Hochbegabung muss einem nicht in die Wiege gelegt sein. So hat es auch Caroline Quast erlebt. Sie ist Abiturientin an einem Technischen Gymnasium in Karlsruhe.

"Man könnte es mit dem Begriff Spätzünder bezeichnen. Ich war in der Grundschule noch nicht so gut. Dann habe ich einen ungewöhnlichen Weg gemacht. Ich bin auf die Realschule, habe mich dann immer verbessert, habe dann einen Einser-Schnitt gehabt und bin jetzt auch im Gymnasium so im Einser-Bereich unterwegs", erzählt die Schülerin.

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Gleich der erste Absatz beginnt mit mehreren Behauptungen und Setzungen. Es wird etwa impliziert, dass die sogenannte Hochbegabung mehr sei als nur exzellente Schulnoten und schulische Leistungen. Kein Wort davon, dass der Begriff "Hochbegabung" durchaus sehr umstritten ist.

Unklar bleibt auch, ob Hochbegabung ein Fluch oder ein Segen ist. Liest man andere Artikel zum Thema, dann muss man wohl häufig auch von einem "Fluch" ausgehen. Demnach wünschen sich 90% der Eltern in Befragungen, kein sogenanntes hochbegabtes Kind zu bekommen. Kein Wunder, denn viele dieser Kinder haben demnach mit größeren sozialen Problemen zu tun oder würden sogar schlechte Schulnoten bekommen, weil sie im Unterricht unterfordert seien.

[DLF:] Und damit gilt Caroline Quast als Hochbegabte, obwohl dafür längst nicht mehr nicht nur Notendurchschnitt und IQ alleine ausschlaggebend sind. Auffassungsgabe, Formulierungsfähigkeit, Schlagfertigkeit - auch das gehöre dazu, hieß es in Stuttgart. Caroline Quast würde daher gerne viel mehr erfahren als das, was im Unterricht angeboten wird: "Ich hatte tatsächlich vor einem Jahr eine Tiefphase, weil mir bewusst geworden ist, dass, sobald ich ein Thema im Unterricht interessant fand, gesagt wurde: Ja, aber das ist jetzt nicht für das Abi relevant, also machen wir das auch nicht, und ich dann das Gefühl hatte, wenn‘s spannend wird, wird abgeschnitten.

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Hier wird nicht erwähnt, weshalb Frau Quast als "Hochbegabte" gilt. Da werden neben dem Intelligenzquotient noch ein paar Kriterien genannt, ohne diese zu spezifizieren oder offenzulegen, was nun der Unterschied zwischen einer sehr guten Schülerin und einer Hochbegabten sein soll.

Was hält solche Menschen denn davon ab, nach dem Unterricht in die Schulbibliothek zu gehen und sich ein Buch auszuleihen? Oder sich im Internet weitergehend einzulesen? Würden diese Menschen lernen, eigenständig zu agieren (so wie auf reformpädagogischen Schulen), dann kämen sie selber darauf, wie das geht und bräuchten kein Schulsystem, dass wie bei einem Baby jedes Häppchen von Wissen mit einem Löffel füttert.

[DLF:] Gelangweilte Hochbegabte fördern: Hier der große Wissensdurst, dort das reguläre Unterrichtsangebot, das Hochbegabte eher langweilt als fordert - ein weit verbreitetes Phänomen. Häufig sitzen sie Schulbank an Schulbank mit regulären Schülerinnen und Schüler. Wie sie aber dennoch, ihrer Begabung entsprechend, fordern und fördern? Hier stellten die Experten in Stuttgart verschiedene Konzepte vor - beispielsweise die Einrichtung so genannter "Hochbegabten-Oberstufenzüge" an 15 baden-württembergischen Gymnasien, unter anderem am Bismarck-Gymnasium in Karlsruhe. Dort war Peter Gilbert bis vor kurzem Schulleiter:

"Man ist manchmal schneller. Man ist oft abstrakter. Man hat die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte sehr viel schneller darzustellen oder mit den Schülern solche komplexen Sachverhalte auch schneller zu erarbeiten, was in der Regelklasse auch zu einer Überforderung führen kann."

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

In diesem Abschnitt werden alle Lehrer "normaler" Schulen über einen Kamm geschoren, so als gäbe es keine Lehrer, die in der Lage wären, unterschiedlichen Fähigkeiten in einer Klasse gerecht zu werden. Absurd an dieser Passage ist auch, dass die angebliche zeitweilig empfundene Langeweile einiger weniger (2%) der Schüler Grund genug dafür sein soll, dass das gesamte Schulsystem überarbeitet und an diese EinsPlus-Schüler angepasst werden soll, die ja im Leben später ohnehin keine Probleme haben, einen Job zu finden (auch wenn sie sich beim Job dann langweilen könnten).

Was diese Menschen nicht schaffen, so mein Eindruck aus der Sendung, ist, sich intelligent in der Welt zu verhalten, in die sie nun einmal geboren wurden. Der US-amerikanische Schriftsteller William Faulkner hat es auf Punkt gebracht: "Intelligenz ist die Fähigkeit, seine Umgebung zu akzeptieren". Eben das, wozu die angeblich Hochbegabten also offensichtlich nicht ansatzweise in der Lage sind.

[DLF:] Hochbegabten-Gymnasium in Baden-Württemberg Neben den 15 Hochbegabten-Kursstufen hat Baden-Württemberg in Schwäbisch-Gmünd gleich auch noch ein eigenes Landesgymnasium für Hochbegabte eingerichtet. Lukas Schachner unterrichtet dort Physik, Technik, Latein und Italienisch: "Wir haben eine ausgewählte Gruppe von Schülern. Wir haben kleinere Klassen. Wir haben viele Unterstützungssysteme, Mentor-Systeme. Jeder Schüler hat einen individuellen Lehrer zugeordnet Man nimmt das Kind sehr individuell wahr."

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Also damit wir das richtig verstehen: Die Schüler, die sowieso keine Probleme haben, im Unterricht mitzukommen, die bekommen noch einen daraufgesetzt, einen besseren Betreuungsschlüssel, bessere Infrastruktur usw.? In einem Schulsystem, in dem an allen Ecken und Enden gespart wird, packt man noch eine Schippe drauf, für diejenigen, die keine Hilfe benötigen, um ihren Schulabschluss zu machen?

Für das Nichtzurechtkommen im Leben aufgrund angeblicher Überintelligenz wäre ohnehin eher ein Psychotherapeut als die Schule zuständig. Man könnte das alles statt Hochbegabtenförderung auch anders nennen: verkehrte Welt.

[DLF:] Nur: Deutlich mehr Interessenten als Plätze zur Verfügung stehen wollen jedes Jahr aufs Hochbegabten-Gymnasium. Die, die dort nicht ankommen, müssen auf die herkömmlichen Schulen. Dort, so eine oft gehörte Forderung in Stuttgart, müssten mehr Angebote außerhalb des regulären Unterrichtes wie Arbeitsgemeinschaften und Zusatzkurse anbieten. Immerhin bestehen in Baden-Württemberg als bisher einzigen Bundesland in 66 Städten sogenannte "Hector-Kinderakademien" für Hochbegabte - mit großem Zulauf. Denn: Gerade die Förderung von Hochbegabten im Grundschulalter sei besonders wichtig, damit sich die Talente rechtzeitig entfalten können, so die Experten.

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Pathologischer "Wettbewerb des Humankapitals"

Zulauf haben solche Gymnasien sicherlich deshalb, weil einige ehrgeizige Eltern ihre Kinder im pathologischen "Wettbewerb des Humankapitals" besser positionieren wollen. Und das alles wird gefördert von einer grünen Wissenschaftsministerin Theresia Bauer. Ihr bisheriges Meisterstück: Die Einführung von "Studiengebühren für Nicht-EU-Studierende und Zweitstudium" im Jahr 2016.

Was ist nur geworden aus der dereinst linken Partei "Bündnis 90/Die Grünen"? Deren Chef, der Renegat und turbokapitalistische Wirtschaftsmann Winfried Kretschmann (ehemals Kommunistische Studentengruppe/Marxisten-Leninisten) auf der rechten Überholspur locker einen Horst Seehofer abhängt und der neoliberalen Spur einen Friedrich Merz.

Diese Landesregierung handelt mit ihren Programmen im Einklang mit neoliberalen Organisationen und Lobbys, die bereits seit Jahren daran arbeiten, die freie Entfaltung der Persönlichkeit aus dem Bildungssystem zu drängen.

Wer die Agenda heute bestimmt, offenbart sich im Übrigen auch an unerwarteten Orten. Wenn man nach Statistiken zu den Schlagworten "Elitenförderung" oder "Hochbegabung" sucht (z.B. auf Statista.com), die sich mit der Akzeptanz in der Gesellschaft befassen, findet man fast nur Befragungen, die von Bertelsmann-Organisationen, etwa der Bertelsmannstiftung oder von "arvato online services" durchgeführt wurden. Aber auch von "Roland Berger" oder anderen neoliberalen Thinktanks. Also Quellen, auf die sich vielleicht "Campus & Karriere" beziehen mag, die aber wohl kaum als objektiv zu bezeichnen sind.

Die demokratische Legitimation von Hochbegabten- und Elitenförderung ist ohnehin überaus zweifelhaft. Die Bevölkerungsmehrheit hat mehr Nach- als Vorteile dadurch, dass wenige Prozent der Kinder auf Kosten der Allgemeinheit extra Ressourcen zugewiesen bekommen.

[DLF:] Deutschland mittelmäßig im internationalen Vergleich Dennoch ist Baden-Württemberg bei der Hochbegabten-Förderung kein "Musterländle" und Deutschland im internationalen Vergleich eher Mittelmaß. Das zeigt sich am Anteil der Hochbegabten an der Gesamtschülerzahl im internationalen Vergleich, wie der Bildungsforscher Professor Ulrich Trautwein von der Universität Tübingen erklärt:

"Die obersten Kompetenzen-Stufen, also das, was nur manche Schüler erreichen - da sieht man, dass es in Singapur 15 Prozent sind, in Deutschland sind es nur einstellige wenige Prozent. In dieser Gruppe sind dann Schülerinnen und Schüler aus manchen ostasiatischen Ländern fast drei Mal so häufig vertreten wie die in Deutschland."

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Der internationale Wettbewerb ist bekanntlich der große feuchte Traum für Wirtschaftslobbys, Bildungspolitiker und wettbewerbsbewusste Ellenbogenmenschen in der Leistungsgesellschaft. Institutionen und Leute, die kaum andere "Werte" anerkennen, die über Geldverdienen, Wirtschaftswachstum und merkantilistische Wirtschaftsmacht hinausgehen.

Der Wettbewerb wird spätestens dann zum Selbstzweck, wenn gar nicht mehr klar ist, was am Ende das Positive daran sein soll, in den Rankings "aufzusteigen". Entweder die Mehrheit der Menschen profitiert davon in Form höherer Lebensqualität und höheren Glücks oder ein solcher Wettbewerb ist nicht im Sinne der Gesellschaft insgesamt.

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