Iran-Proteste: Wiederholt sich 1979?

Foto: Fars News Agency/CC BY 4.0

Die letzten Wochen verdeutlichen, dass Gewalt und Willkür die Machtbasis der iranischen Regierung formen

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Die Proteste in Iran, die sich an Benzinpreiserhöhungen entzündeten und rasch zu Demonstrationen gegen das Regime, gegen Repressionen, Korruption und Armut ausweiteten, sind weitgehend abgeebbt, die tagelangen Internetsperren großteils aufgehoben. Einzelne Städte und Gemeinden haben allerdings bis heute keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zum Netz, was darauf hindeutet, dass punktuell noch immer Proteste stattfinden.

Während die Regierung das Ausmaß lange herunterspielte, haben die Revolutionsgarden inzwischen doch eingestanden, dass 28 Provinzen und rund 100 Städte betroffen waren - also fast das ganze Land. Nach offiziellen Zahlen wurden 7000 Personen festgenommen und 130 getötet. Amnesty International spricht von über 160 Toten, oppositionelle Quellen gar von mehr als 450.

Laut Amnesty wurde damit begonnen, die Leichname der Opfer an ihre Familien zu übergeben - allerdings erst, wenn diese die Kugeln bezahlt haben, mit denen ihre Angehörigen getötet wurden. Eine Praxis, die bis zu den Anfangstagen der Islamischen Republik zurückreicht, und die wohl kaum geeignet ist, die Wut der Bevölkerung auf das Regime zu besänftigen.

Schießbefehle werden eingestanden

Inzwischen haben mehrere Offizielle offen eingestanden, Schießbefehle gegeben zu haben, so auch die Abgeordnete Leila Vaseghi, die sagte: "Wir gaben die Anweisung, das Feuer zu eröffnen."

Sowohl im Parlament als auch in den Medien beharken sich die unterschiedlichen Fraktionen. Einzelne Abgeordnete haben die Gewalt gegen Demonstranten in ihren Wahlkreisen offen kritisiert und wurden dafür hart angegangen und erhielten teils Morddrohungen. Vertreter der Hardliner-Fraktion forderten andrerseits wiederholt die Todesstrafe für Demonstranten.

Sie machten wie üblich entweder unkonkret "ausländische Agenten" oder konkret die USA, Israel und Saudi-Arabien für die Proteste verantwortlich, was sie auch an den zahlreichen gezielten Angriffen auf Banken, Behörden und andere Regierungseinrichtungen festmachen.

Oppositionsvertreter sowie auch Anhänger der Regierungsfraktion um Präsident Hassan Rohani mutmaßten hingegen, dass jene Angriffe von den Hardlinern selbst angestiftet worden sein sollen, um die Machtlosigkeit der Regierung vorzuführen - was zumindest angesichts der Anfang 2020 anstehenden Parlamentswahlen nicht ganz unplausibel ist.

Nicht nur auf den Straßen, auch innerhalb des politischen Systems eskalieren die Konflikte. Hardliner und Gemäßigte stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der durch die einseitige Kündigung des Atomabkommens durch die USA wieder aufflammende Lagerkonflikt spiegelt das.

Die Führer der "Grünen Bewegung" melden sich zurück

Die Hardliner um Revolutionsführer Chamenei wollen aus dem Pakt, den sie von Anfang an nicht guthießen, um jeden Preis aussteigen und befeuern diese Haltung mit der schrittweisen Aufkündigung der Abmachungen, während das Rohani-Lager am Abkommen festhalten will - gerne auch mit dem Verweis darauf, dass Iran weiterhin Waffen weder kaufen noch verkaufen darf, wenn der Vertrag bricht.

Doch die Hoffnung auf eine funktionierende europäische Unterstützung schwindet, während die EU eine zutiefst indifferente Haltung zeigt. Es scheint, als würden Deutschland, Frankreich und die anderen beteiligten Staaten die Menschenrechte einer Rettung des Abkommens unterordnen, so zurückhaltend blieben sie in ihrer Verurteilung der massiven Gewalt gegen die Demonstranten.

Die bis heute unter Hausarrest stehenden Führer der "Grünen Bewegung", Mir Hossein Mussavi und Mehdi Karroubi, verglichen die aktuelle Lage unlängst mit der Situation unmittelbar vor der Islamischen Revolution 1979. 2009 hatte es nach Wahlfälschungen zugunsten einer zweiten Amtszeit von Mahmoud Ahmadinejad landesweite Proteste gegeben, die blutig niedergeschlagen wurden - allerdings ist die Gewalt der jüngsten Proteste ungleich höher und es zeigen sich auch strukturell deutliche Unterschiede.

Die Hardliner und die Mehrheit

Damals protestierte die urbane Mittelschicht friedlich gegen Wahlbetrug, heute entlädt sich die Wut der wirtschaftlich untersten Schichten gegen die Regierung, die konsequent ihre Versprechungen nicht einhält. Und mag die jüngste Protestwelle ein punktueller und sichtbarer Ausbruch gewesen sein, brodelt es doch seit Jahren im Land.

Die großen Gewerkschaften von Lehrern, LKW-Fahrern oder Fabrikarbeitern reihen einen Streik an den anderen, und auch hier richtet sich die Wut nicht primär gegen die US-Sanktionen, die vom Regime für alles Übel verantwortlich gemacht werden, sondern vorwiegend gegen Korruption und eine Politik, die Steuergelder lieber in die Ausweitung ihres Einflusses im Irak, Libanon, Palästina und anderswo steckt, anstatt die Probleme im Inland wie etwa die explodierende Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Trotzdem sind die anstehenden Wahlen kein Hoffnungsschimmer. Zwar laufen sie formal demokratisch ab. Aber zum einen werden allzu oppositionelle Kandidaten im Vorfeld vom mächtigen Wächterrat ausgesiebt, zum anderen ist das Parlament, das zeigte sich auch wieder im Konflikt um Benzinpreiserhöhungen und dem Umgang mit den Protesten, weitgehend machtlos, sobald es um wirklich gewichtige Entscheidungen geht.

"Die iranischen Hardliner wissen, dass sie keine Mehrheit hinter sich haben", sagt Nader Hashemi gegenüber Qantara:

Und wenn es freie und faire Wahlen gäbe, würden Kandidaten, die der Außen - und Innenpolitik Ali Khameneis kritisch gegenüberstehen, voraussichtlich gewinnen. Mit der Anwendung extremer Gewalt will man der Bevölkerung gegenüber signalisieren, dass jede Form des Widerstandes zwecklos ist und schwerwiegende Folgen für jeden haben wird, was gleichzeitig die Verzweiflung des Regimes widerspiegelt.

Nader Hashemi

Wie groß ist also die Wahrscheinlichkeit, dass es in absehbarer Zeit zu einer neuen Revolution kommt? Trotz der Parallelen zu 1979 wohl eher gering. Zum einen fehlt eine klare Struktur und Zielsetzung ebenso wie eine Führungsfigur, die damals Chomeini verkörperte. Zum anderen sind die oppositionellen Strömungen höchst unterschiedlich.

Es gibt jene, die Reformen innerhalb des bestehenden Systems wollen; dann gibt es die Schah-Anhänger, die sich eine Rückkehr zur Monarchie wünschen; außerdem zahlreiche unterschiedliche Linke aber auch islamische Strömungen - das alles unter einen Hut zu kriegen dürfte aktuell kaum denkbar sein.

Trotzdem drängt die Zeit für eine Lösung all der brodelnden Konflikte. Denn ein Regime, das sich nicht mehr auf Mehrheiten in der Bevölkerung stützen und seine Macht nur noch durch Gewalt und Willkür sichern kann, wird sich nicht ewig halten können.