Störfaktor Intelligenz

Warum Vorurteile gegen Hochbegabte kaum auszurotten sind

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Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Hochbegabtenförderung hat Christopher Stark hier kürzlich abgeliefert: Vom Ideologischen Konstrukt der Hochbegabung - und dabei kaum ein Klischee über Intelligenz und Hochbegabung ausgelassen. Das Konzept der Hochbegabung sei ein "ideologisches Konstrukt" und Hochbegabten-Förderung ein Auswuchs neoliberaler Ideologie, behauptet der Kollege. Obwohl der Begriff der Hochbegabung "sehr umstritten" sei, werde in den Medien einfach davon ausgegangen, "dass die sogenannte Hochbegabung mehr sei als nur exzellente Schulnoten und schulische Leistungen". "In großen Teilen der Gesellschaft" dagegen würde man "über ein solches Wort eher lächeln, die Augen verdrehen …".

Uneingeschränkt zuzustimmen ist der letztgenannten These, zumindest für die deutsche Gesellschaft. Begriffe, die Teile der Gesellschaft nicht hören mögen, gibt es indes zuhauf. So manche Zeitgenossen geraten etwa außer sich, wenn sie das Wort "Mietendeckel" hören und schreien dann unwillkürlich "Enteignung, Planwirtschaft, Kommunismus!" Das muss also nichts heißen.

Zurück zu den Hochbegabten: Warum benötigten "diese Menschen" überhaupt eine spezielle Förderung, fragt Stark. Dieser argumentative Kurzschluss ist sattsam bekannt. Immer wieder postulieren Intelligenzskeptiker einerseits, Hochbegabung gebe es gar nicht, um andererseits zu behaupten, "angeblich" Hochbegabte müssten doch wohl in der Lage sein, sich selbst in jeder Lebenslage zu helfen. Wenn sie das nicht können, etwa weil sie wegen dauerhafter Unterforderung geistig abschalten oder wegen ihrer Andersartigkeit gemobbt werden, sollen sie halt einen Psychotherapeuten aufsuchen. Die landläufige Vorstellung, Hochbegabte seien durchwegs emotionale Krüppel und sozial inkompatibel, die in solchen Äußerungen aufscheint, ist längst widerlegt, zum Beispiel durch eine schottische Längsschnittstudie.

Damit wir wissen, worüber wir reden, vergegenwärtigen wir uns die von der amerikanischen Psychologin Linda Gottfredson erarbeitete Definition, auf die sich 52 führende Intelligenzforscher geeinigt haben:

Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Fähigkeit, die unter anderem die Fähigkeiten zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zum Problemlösen, zum abstrakten Denken, zum Verstehen komplexer Ideen, zum raschen Auffassen und zum Lernen aus Erfahrung einschließt.

Zimbardo/Gerrig: Psychologie, München 2008, 331

Definition von Intelligenz

Wer ein wenig tiefer in die Literatur zum Thema eintaucht, wird rasch feststellen, dass das Konzept der Hochbegabung in etwa so umstritten ist wie Chemtrails oder der menschengemachte Klimawandel. Die psychologische Forschung ist sich weitestgehend einig nicht nur über die Definition von Intelligenz, sondern auch über die Validität von IQ-Tests und deren Bedeutung als Prädiktor für Lern- und Berufserfolg. Intelligenz ist in der Bevölkerung normalverteilt, so wie auch die Körpergröße. Der Mittelwert ist 100. Hochbegabung beginnt per definitionem bei 130, was zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert entspricht und gut 2 % der Bevölkerung betrifft.

Von großer Bedeutung ist die folgende Beobachtung: Menschen können in verschiedenen Teilbereichen - logisch-mathematisch, sprachlich, räumlich etc. - unterschiedlich begabt sein, doch gibt es zwischen diesen Teilbereichen positive statistische Zusammenhänge. Wer in einem der Teilbereiche besonders hoch oder besonders niedrig begabt ist, ist es tendenziell auch in den anderen Teilbereichen. Aus dieser Beobachtung lässt sich ableiten, dass es eine allgemeine Intelligenz, den sogenannten Generalfaktor der Intelligenz, geben muss, eine Ressource, die sich auf alle Teilleistungen auswirkt, die in IQ-Tests geprüft werden.

Doch viele Menschen sperren sich vehement gegen solche Erkenntnisse und behaupten unverdrossen, es sei gar nicht geklärt, was Intelligenz überhaupt sei und es gebe noch viele andere "Intelligenzen", die in IQ-Tests sträflich vernachlässigt würden. Zudem seien diese komischen Aufgaben in Intelligenztests für das wahre Leben doch vollkommen irrelevant. Häufig wird auch fälschlicherweise angenommen, die Aussage, dass Intelligenz in den Genen verankert sei, bedeute, dass Umwelteinflüsse keine Rolle spielten. Das behauptet zwar kein ernstzunehmender Wissenschaftler, wird aber nicht selten zum Anlass genommen, Intelligenzforschung in toto abzulehnen.

Wer sich von den genannten Vorurteilen kurieren lassen möchte, dem sei der recht knapp gehaltene und leicht lesbare Aufsatz "Intelligenz: kein Mythos, sondern Realität" von Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer empfohlen.

Zum Beleg dafür, was so alles umstritten sein soll, führen Intelligenzskeptiker gerne die von dem amerikanischen Erziehungswissenschaftler Howard Gardner in den 1980er-Jahren entwickelte Theorie der multiplen Intelligenzen ins Feld. Neben den in herkömmlichen IQ-Tests abgefragten Teilleistungen brachte Gardner weitere Intelligenzen ins Spiel, wie etwa die musikalische Intelligenz, die soziale Intelligenz oder die naturalistische Intelligenz, die angeblich nicht nur für Naturforscher und Tierärzte, sondern auch für Köche sehr wertvoll sein soll. Nicht fehlen darf auch die körperlich-kinästhetische Intelligenz, die Stark in seiner Aufzählung von Kompetenzen, die in IQ-Tests nicht abgefragt werden, mit den Worten umschreibt: "wie man seinen Körper und Geist in Kombination gut einsetzt, um Dinge zu kreieren".

Nun wird niemand bestreiten, dass solche Kompetenzen ihre Bedeutung haben. Wer zwei linke Hände hat, sollte besser keine Karriere als Chirurg anstreben. Der Punkt ist nur: Die genannten Kompetenzen sind keine "Intelligenzen", sondern Persönlichkeitsmerkmale, die weder miteinander noch mit der allgemeinen Intelligenz zusammenhängen und sich darüber hinaus auch nicht zuverlässig messen lassen. Gardners Theorie gilt daher in Fachkreisen längst als widerlegt und wird nicht mehr weiterverfolgt. Doch unter deutschen Lehrern und auch bei einigen Erziehungswissenschaftlern erfreut sie sich nach wie vor großer Beliebtheit. Reißenden Absatz finden auch Bücher, die zu belegen versprechen, dass emotionale "Intelligenz" viel wichtiger für schulischen und beruflichen Erfolg sei als Intelligenz.

Das Gegenteil ist der Fall: Diverse Metastudien auf der Basis hunderter Einzelstudien haben belegt, dass Intelligenz der bedeutendste Faktor für schulischen und beruflichen Erfolg ist. Fleiß, Motivation, Sozialkompetenz und Selbstvertrauen sind nachrangige Erfolgsfaktoren. Folglich kann auch schulische Förderung keine Wunder bewirken. Kaum jemand würde wohl auf den schmalen Trichter kommen, jeder Nachwuchsfußballer könnte eine ähnlich steile Karriere hinlegen wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo, wenn er nur ausreichend gefördert würde. Die Einsicht, dass eine Person mit herausragender emotionaler "Intelligenz" und einem IQ von 100 kaum zum Big-Data-Spezialisten taugen wird, ist dagegen längst nicht jedem gegeben.

Auch wenn es manchem nicht ins Weltbild passt - die Angehörigen verschiedener Berufsgruppen sind im Schnitt unterschiedlich intelligent. So liegt etwa der durchschnittliche IQ von Rechtsanwälten bei 120, der von Malern und Lackierern bei 90. Was jedoch nicht bedeutet, dass es nicht auch einige hochbegabte Maler gäbe.

Hochbegabte können ihr Potenzial in unserem Schulsystem oft nicht ausschöpfen

Es ist im Übrigen ein Irrglaube, die Intelligenzforschung gehe davon aus, "dass die sogenannte Hochbegabung mehr sei als nur exzellente Schulnoten und schulische Leistungen" (Stark). Intelligenz ist nicht "mehr" als gute Noten, sondern eine von mehreren Voraussetzungen dafür. Dass Hochbegabte ihr Potenzial in unserem Schulsystem oft nicht ausschöpfen können, zeigen die Ergebnisse des großangelegten Marburger Hochbegabtenprojekts unter Leitung des Psychologen Detlef H. Rost, an dem in den 1980er- und 1990er Jahren rund 7.000 Schüler teilnahmen. Danach lag der Notenschnitt der hochbegabten Schüler in der neunten Klasse bei 2,3. Der Durchschnitts-IQ der Schüler mit den besten Noten lag bei 117. Nur rund 15 Prozent von ihnen waren hochbegabt.

Trotz dieser auffälligen Diskrepanzen schätzt Rost den Anteil der Underachiever nur auf 12 Prozent, da er "Minderleister" als Schüler definiert, deren Schulleistungen unter dem Durchschnitt liegen. Doch sollten hochbegabte Schüler nicht eigentlich deutlich besser abschneiden als der Durchschnitt? Viele Psychologen und Erziehungswissenschaftler sehen dies so und gehen deshalb von bis zu 50 Prozent Underachievern aus. Gründe dafür kann es viele geben: individuelle Unzulänglichkeiten wie ein Mangel an Fleiß und Ausdauer, aber auch psychosoziale Probleme aufgrund von dauerhafter Unterforderung, Ausgrenzung oder Mobbing. Wer sich gelegentlich mit Betroffenen unterhält oder Erfahrungsberichte liest, wird feststellen, dass nicht wenige hochbegabte Schüler das Lernen weitgehend einstellen, um schlechtere Noten zu bekommen - in der Hoffnung, dann von ihren Mitschülern stärker akzeptiert zu werden.

Was spricht also dagegen, Hochbegabung bei der individuellen Förderung von Schülern ebenso zu berücksichtigen wie die verschiedensten anderen Eigenschaften auch? Stark begründet seine ablehnende Haltung damit, dass eine Förderung der "EinsPlus-Schüler" auf Kosten der individuellen Förderung der übrigen Schüler gehe. Offenbar verwechselt er Hochbegabte mit Hochleistern. Die schulischen Hochleister, die meist nicht hochbegabt, sondern "nur" überdurchschnittlich begabt sind, mögen tatsächlich meist "keine Probleme haben, einen Job zu finden", das gilt aber nicht unbedingt auch für Hochbegabte.

Hochbegabte sind keine Hochleister, sondern gerne nonkonform

Ressentiments gibt es sowohl gegen Hochbegabte als auch gegen Hochleister, die häufig in einen Topf geworfen werden. So sagte mir einmal ein Manager, in seinem Unternehmen würden Bewerber mit "zu guten" Noten gleich aussortiert, die seien nicht teamfähig. Und Gerrick von Hoyningen-Huene, damals Juraprofessor an der Universität Heidelberg, sagte im Jahr 2003 dem Wochenmagazin Stern (Nr. 16): "Extrem Intelligente sind eigenwillig, nicht führbar, die werden zu Bedenkenträgern. Wir sind ein Massenbetrieb, da können wir mit Spinnern nichts anfangen."

An dem letztgenannten Vorurteil ist durchaus etwas dran. Hochbegabte sind nach Expertenmeinung tatsächlich meist nonkonform und neigen dazu, Regeln, Maßgaben und herrschende Meinungen kritisch zu hinterfragen - so wie zum Beispiel Samira El Ouassil, Ex-Kanzlerkandidatin der PARTEI und Mitglied des Hochbegabtenvereins Mensa, die deutsche Medienlandschaft. Ein Ausbau der Hochbegabtenförderung wird daher sicher nicht zu mehr "Stromlinienförmigkeit" führen und sie zielt auch nicht darauf ab, dass "die Gesellschaft für 2% zu Ungunsten von 98% der Schüler umgekrempelt" (Stark) wird.

Bekanntlich gab es in der DDR, im Gegensatz zur alten BRD, ein flächendeckendes System der Begabtenförderung. Nach der Wende wurde es plattgemacht. Was mögen sich die Kommunisten nur dabei gedacht haben? Verfolgten sie insgeheim eine neoliberale Agenda? - Wohl kaum. Sie dürften vielmehr der Überzeugung gewesen sein, dass die gesamte Gesellschaft davon profitiert, wenn Talente gefördert werden. Stark ist dagegen der Auffassung, die Bevölkerungsmehrheit habe "mehr Nach- als Vorteile dadurch, dass wenige Prozent der Kinder auf Kosten der Allgemeinheit extra Ressourcen zugewiesen bekommen". Mit derselben Begründung könnte man auch die Förderung von Lernbehinderten ablehnen, von denen ein Großteil am Ende doch nicht in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden kann.

Auswirkungen der sozialen Auslese in der Bildung

Doch Stark hat noch ein weiteres Ass im Ärmel: Von einer besseren Ausschöpfung individueller Potenziale profitiere nur die Wirtschaft, nicht aber die breite Masse. Wenn Deutschland bei internationalen Schulvergleichsstudien, vor allem in den obersten Kompetenzstufen, schlecht abschneide, sei dies folglich egal. Zugleich beklagt Stark, die soziale Selektion im Bildungssystem und die Chancengerechtigkeit würden nicht ausreichend gewürdigt - ein Widerspruch in sich. Dass in Deutschland der Bildungserfolg, so stark wie in kaum einem anderen Land, von der sozialen Herkunft statt von der Begabung abhängt, impliziert ja gerade, dass individuelle Potenziale vernachlässigt werden.

Dies betrifft längst nicht nur Hochbegabte. Vielfach belegt ist, dass Schüler aus ärmeren Familien bei gleicher Leistung schlechtere Noten erhalten als Kinder reicher Eltern. Zudem erhalten sie bei gleichen Noten deutlich seltener eine Gymnasialempfehlung. Unser Bildungssystem trägt folglich mehr die Züge einer Ständegesellschaft als die einer Leistungsgesellschaft. Die Auswirkungen der sozialen Auslese für die Gesellschaft beschreibt Elsbeth Stern wie folgt:

Wenn Intelligenz sich nicht durchsetzt, kriegen wir Probleme. Bei mancher Hausarbeit frage ich mich schon, wie die Leute an die Uni kommen konnten. Da werden Menschen durch die Schule und an die Universität geschleust, die vielleicht einen Abschluss hinkriegen, aber trotzdem nicht kompetent sind. Gleichzeitig haben andere das Potenzial für ein Studium, bekommen aber keine Möglichkeit. So wird in Gymnasien und Universitäten der Grundstein dafür gelegt, dass in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen nicht die Intelligentesten und Kompetentesten sitzen.

Elsbeth Stern

Dass es in Deutschland, anders als zum Beispiel in den USA, bislang kaum Begabtenförderung gibt, dürfte kaum darauf zurückzuführen sein, dass der Neoliberalismus hierzulande noch in den Kinderschuhen steckte. Ressentiments gegen Menschen, die irgendwie anders erscheinen und sich von der Masse abheben, haben bei uns Tradition. Sie sind eingebettet in einen Kult der Mittelmäßigkeit. Genies werden dem gemeinen Deutschen erst halbwegs sympathisch, wenn sie ihm auf Normalmaß zurechtgestutzt präsentiert werden, so wie der Mathematiker Carl Friedrich Gauß und der Naturforscher Alexander von Humboldt in dem Bestseller "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann. Und im Gegensatz zu anderen Fußball-Nationalmannschaften hat die deutsche traditionell keine Stars, die von den Medien in den Vordergrund gehoben würden. "Wir" haben "die Mannschaft".

Dazu kommt das ständische Denken, das in der von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht Konjunktur hat. "Schuster, bleib bei deinen Leisten!" wird heute übersetzt mit: Der Zahnarztsohn Maximilian muss Abitur machen, für die Leiharbeitertochter Leonie reicht der Hauptschulabschluss. Wenn man ahnt, dass Maximilian ein wenig unterbelichtet sein könnte, trifft es sich ganz gut, nicht zu wissen, ob Leonie möglicherweise intelligenter ist.

Noch besser aber ist es, sich eine Ideologie zurechtzustricken, nach der Intelligenz ohnehin irrelevant ist. Wenn niemand hochbegabt ist, sind es ja irgendwie auch alle, so wie angeblich alle Frauen schön sein können, wenn sie die richtigen Kosmetikprodukte kaufen, und jeder Mann zum Frauenheld werden kann, wenn er nur oft genug ins Fitnessstudio geht und das richtige Deo benutzt. Die Einsicht, dass Intelligenz als größtenteils angeborene Eigenschaft der Selbstoptimierung Grenzen setzt, widerspricht diametral dem neoliberalen Menschenbild und kann daher eine narzisstische Kränkung verursachen. Die Wut der Gekränkten richtet sich dann gegen die Kränker: gegen die ungeliebten Erkenntnisse der Intelligenzforscher oder die Menschen, die sich "einbilden", hochbegabt und daher "etwas Besseres" zu sein.

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