Amri: Die seltsamen Wege eines angeblichen Attentäters

Bild: Andreas Trojak/CC BY 2.0

Veröffentlichte Videoaufnahmen werfen die Frage auf, wo der verdächtige Tunesier zur Tatzeit des Anschlages vom Breitscheidplatz war

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zwischen 20:02 und 20:03 Uhr wurde der Anschlag in Berlin am 19. Dezember 2016 verübt. Nach Darstellung der zentralen Ermittlungsorgane war es der Tunesier Anis Amri, der den Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz lenkte. Anschließend soll er zum U-Bahnhof Zoologischer Garten geflüchtet sein, von wo er in den Stadtteil Wedding gefahren sein soll, wo er wohnte.

Den genauen weiteren Fluchtweg aus Berlin Richtung Nordrhein-Westfalen konnte die Bundesanwaltschaft nicht rekonstruieren. Es gibt eine Videoaufnahme, die Amri am 19. Dezember 2016 im U-Bahnhof Zoo zeigt und die bei genauer Betrachtung grundlegende Fragen aufwirft. Die etwa 30 Sekunden lange Sequenz hat der Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) im August 2019 veröffentlicht (Video ganz unten).

Laut Zeitstempel taucht Amri ziemlich genau um 20:04:00 im Blickfeld der Kamera auf, schlendert einen langen Gang entlang, für den er etwa 30 Sekunden braucht und streckt dann den Zeigefinger in die Videokamera. Der Punkt ist: Amri begibt sich auf diesem Gang nicht zur U-Bahn, sondern er kommt von ihr, und er ist auf dem Weg nach draußen ins Freie. Der U-Bahn-Ausgang befindet sich am Rande des Busbahnhofes in der Nähe des Haupteinganges zum Zoologischen Garten.

Nach der offiziellen Tathergangs- und Fluchtversion wäre Amri also vom Tatort Breitscheidplatz geflohen und wäre in der U-Bahn-Station verschwunden, wo sich zwei U-Bahn-Linien kreuzen. Er hätte zwei Bahnsteige überwinden müssen und wäre dann nicht mit der U-Bahnlinie 9 Richtung Wedding gefahren, wo sich seine Unterkunft befand, sondern ist am Ende des Bahnsteiges wieder nach oben zum Ausgang gegangen und zwar Richtung Tatort Breitscheidplatz. Er flieht nicht, sondern bleibt da. Welchen Sinn macht das?

Die Strecke vom Tatort über den verkreuzten U-Bahnhof bis zum Ausgang beim Busbahnhof ist etwa 400 bis 500 Meter lang. Dafür hätte der mutmaßliche LKW-Täter maximal eineinhalb Minuten Zeit gehabt. In dem Schritttempo, mit dem Amri für einen etwa 50 Meter langen Gang 30 Sekunden braucht, hätte er es in dieser Zeitspanne nur schwer schaffen können.

Gibt es also eine andere Erklärung für den Weg des Verdächtigen durch diesen U-Bahngang, der zum Ausgang führt? Kam Amri vielleicht erst kurz vorher mit der U-Bahn-Linie 9 am Bahnhof Zoo an und begab sich dann Richtung Breitscheidplatz. Dann wäre er bei der Tat nicht dabei gewesen. Jedenfalls hatte sich Amri im Laufe des Tattages mehrfach mit der U-Bahn in der Stadt bewegt. Aufschluss könnten die anderen Videoaufnahmen geben, die im gesamten U-Bahnhof gemacht werden. Am Anfang des Ganges, den Amri entlangläuft, ist beispielsweise eine weitere Überwachungskamera angebracht. Auch der Bahnsteig der U 9 wird rund um die Uhr gefilmt.

Nach Auskunft der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) hat die Polizei sehr schnell nach dem Anschlag sämtliches Videomaterial der Verkehrsbetriebe sichergestellt. Welche Polizeibehörde das war, will das Unternehmen nicht sagen. Anzunehmen ist, dass es sich um das Landeskriminalamt Berlin handelte, das anfänglich noch die Ermittlungen und die Fahndung leitete, ehe das Bundeskriminalamt den Fall übernahm.

Auf dem Videomaterial müsste unter Umständen zu erkennen sein, welchen Weg Amri durch den U-Bahnhof nahm, wann und von wo er über den Bahnsteig der U 9 lief und ob er eventuell mit einem Zug der U 9 aus Richtung Norden ankam.

Das Videomaterial müsste, wenn es seinen normalen Ermittlungsgang ging, bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe als oberster Strafverfolgungsbehörde des Staates vorliegen. Seit vor kurzem bekannt wurde, dass aber sowohl Bundesnachrichtendienst (BND), Bundesverfassungsschutz (BfV) als auch das Bundeskriminalamt (BKA) der Bundesanwaltschaft (BAW) Beweismittel vorenthalten, - Videos nämlich, die von einem ausländischen Nachrichtendienst gekommen sein sollen - ist auch das fraglich.

Angaben dazu, welches Videomaterial sie vorliegen hat und ob es korrespondierende Aufnahmen zum Gang Amris durch den U-Bahn-Tunnel gebe, verweigert die Karlsruher Behörde aus "grundsätzlichen" Gründen. Sie äußere sich nicht dazu, "ob und welche Beweismittel in den von uns geführten Ermittlungsverfahren erhoben" werden.

Die Frage ist aber eine für die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die sich in diesen Wochen geradezu einer Explosion von Widersprüchen im Anschlagskomplex Breitscheidplatz/Amri gegenüberstehen sehen.