"Nichts verhindert mehr ökologische Nachhaltigkeit als sozioökonomische Ungleichheit"

Christoph Butterwegge zu den sozialen Gegensätzen in der Bundesrepublik und die möglichen Auswirkungen der Migration

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In seinem Buch Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland gelingt Christoph Butterwegge eine schonungslose Bestandsaufnahme der Bundesrepublik.

Herr Butterwegge, Ihr Buch trägt den Titel Die zerrissene Republik. Wie manifestiert sich allgemein diese Zerrissenheit und worauf ist diese zurück zu führen?

Christoph Butterwegge: Seit vielen Jahren vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich, was sich nicht bloß im Portemonnaie der Menschen niederschlägt, sondern auch in der Art, wie und in welchem Quartier sie wohnen, sowie in ganz unterschiedlichen Bildungschancen, Gesundheitszuständen und Lebenserwartungen. Als extreme Form der Ungleichheit führt die materielle Armut auch im Kultur- und Freizeitbereich zu vielfältigen Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Belastungen.

Dieser Umstand hat es materiell besser gestellten Schichten immer schon erleichtert, die Armen nach dem Motto "Geld macht ohnehin nicht glücklich" regelrecht zu verhöhnen, verleitet darüber hinaus jedoch heute noch manche Kommentatoren dazu, Armut zu subjektivieren, zu individualisieren beziehungsweise zu biografisieren, sie mithin auf Sozialisations- beziehungsweise Kulturdefizite oder die "Bildungsferne" der Betroffenen zurückzuführen.

"Die Armut ufert bis zur Mittelschicht aus"

Wie hat sich die Politik der rot-grünen Bundesregierung, also die Hartz-Reformen auf der einen Seite und die Deregulierung des Bankenwesens, die Privatisierung der Infrastruktur und die steuerliche Privilegierung von Wohlhabenden auf der anderen auf diese Zerrissenheit ausgewirkt?

Christoph Butterwegge: Eine kapitalistische Gesellschaft ist aufgrund ihrer privatwirtschaftlichen Eigentumsstruktur durch sozioökonomische Ungleichheit zwischen einer Minderheit, der die Unternehmen, Banken und Versicherungen gehört, sowie einer Mehrheit gekennzeichnet, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, ohne dass dies immer zu einem auskömmlichen Lohn gelingt.

Unter dem stärkeren Einfluss des Neoliberalismus haben die politisch Verantwortlichen, auch und vor allem die Spitzenrepräsentanten der rot-grünen Koalition auf Bundesebene, den Arbeitsmarkt dereguliert, den Sozialstaat demontiert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip betrieben.

Im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: "Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen." Auch die Liberalisierung des Finanzmarktes sowie die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und sozialen Risiken haben zur tieferen Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Während sich der Reichtum in wenigen Händen konzentriert, ufert die Armut bis zur Mittelschicht aus und zerfasert die Sozialstruktur der Gesellschaft.

Dadurch hat die Angst vor dem sozialen Abstieg zugenommen, das Parteiensystem und die repräsentative Demokratie sind in die Krise geraten und Ausgrenzungsideologien wie Rassismus, Nationalismus und Sexismus, mit denen Unterprivilegierte nach dem Prinzip "Teile und herrsche!" auseinanderdividiert werden, greifen stärker um sich. Hier sehe ich die Hauptursachen für den sozioökonomischen Polarisierungsprozess, der auch politische Erosionstendenzen nach sich zieht.

"Kardinalproblem der Gesellschaft"

Hat sich der öffentliche Diskurs seit dieser Zeit verändert?

Christoph Butterwegge: Nur als der Neoliberalismus durch die globale Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrise in einer Legitimationskrise steckte, ohne dadurch allerdings seine hegemoniale Stellung zu verlieren, wurde die wachsende sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland für kurze Zeit ziemlich breit thematisiert. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur den französischen Ökonomen Thomas Piketty und seinen Weltbestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert" sowie Papst Franziskus und seine Enzyklika "Evangelii Gaudium", die scharfe Kritik am bestehenden Wirtschaftssystem übten und damit bis in bürgerliche Kreise hinein Gehör fanden, ohne die öffentliche Meinung jedoch nachhaltig für das Kardinalproblem der Gesellschaft zu sensibilisieren.

In meinem Buch behandle ich neben den politischen und medialen Ungleichheitsdiskursen, die selten in die Tiefe gehen, auch die Art und Weise, wie führende Soziologen das Kardinalproblem der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich vernachlässigen, verharmlosen oder leugnen. Selbst wenn sie von Klassen sprechen, wird der Begriff kulturalisierend verwendet und die Existenz einer Klassenherrschaft, von Ausbeutung und Unterdrückung bestritten.

"Schröder brach mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes"

Für die SPD bedeutet der Begriff "Agenda 2010" wahltechnisch gesehen: Erst zwanzig Millionen Wähler, dann zehn Millionen und jetzt noch weniger Menschen, die sich in Umfragen zu der Partei bekennen. Diese Entwicklung war recht einsehbar. Warum haben sich die Genossen trotzdem sehenden Auges zu dieser für sie ruinösen Politik entschlossen? Welchen Anteil hatte Gerhard Schröder persönlich an dieser Entwicklung?

Christoph Butterwegge: Entscheidend war die Übernahme der neoliberalen Sichtweise, dass Markt, Konkurrenz und betriebswirtschaftliche Effizienz im Mittelpunkt stehen müssen, damit der "eigene" Wirtschaftsstandort auf den Weltmärkten reüssieren kann, durch führende Sozialdemokraten. Spitzenfunktionäre der Parteihielten - dem Zeitgeist folgend - immer stärker das neoliberale Signalwort "Freiheit" statt der beiden anderen sozialdemokratischen Grundwerte "Gerechtigkeit" und "Solidarität" hoch, von der Ursprungsforderung nach Gleichheit ganz zu schweigen.

So konstatierte Gerhard Schröder in einem Essay zum140. Jahrestag der Gründung seiner Partei: "Unser oberstes Leitbild ist die Freiheit der Menschen, ihr Recht auf ein Leben in Würde, Selbstbestimmung und freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten in einem solidarischen Gemeinwesen." In seiner berühmtesten Regierungserklärung sprach Schröder am 14. März 2003 im Bundestag nicht weniger als 18 Mal von "(Eigen-)Verantwortung", in seiner Rede auf dem Berliner Sonderparteitag der SPD am 1. Juni 2003 sogar 19 Mal von "(Wahl-)Freiheit". Mit dem damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück übernahm ein Gefolgsmann Schröders den neoliberalen Gerechtigkeitsbegriff und brach mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes, als er die soziale Gerechtigkeit im November 2003 auf die Sorge des Staates um die Leistungsträger verkürzte:

"Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie [!] - muss sich Politik kümmern.

Steinbrück wurde Finanzminister im ersten Kabinett Merkel, das CDU, CSU und SPD nach der Bundestagswahl am 18. September 2005 bildeten.

"Äußerst repressive Migrationspolitik"

Wie wird sich die Migrationspolitik der Bundesregierung mutmaßlich auf die soziale Spaltung dieses Landes auswirken?

Christoph Butterwegge: Die restriktive, zum Teil sogar äußerst repressive Migrationspolitik der Bundesregierung - ich denke da an demonstrative Massenabschiebungen und die verschärfte Abschiebehaft - trägt dazu bei, dass Flüchtlinge heute in einem Großteil der politischen Öffentlichkeit eine Feigenblatt-, Ablenkungs- und Sündenbockfunktion erfüllen: Statt die Kluft zwischen Arm und Reich in einer sozioökonomisch wie politisch zerrissenen Republik zu skandalisieren, konstruieren insbesondere die Boulevardmedien lieber ethnische, religiöse und kulturelle Abgründe zwischen "uns" sowie "den Fremden". Einheimische und Zuwanderer werden systematisch gegeneinander ausgespielt, die Letzteren für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht.

Durch die Erfindung einer durch "Flüchtlingskrisen" und "illegale Masseneinwanderung" bedrohten Republik werden die gesellschaftlichen Frontlinien verwischt, die wahren Gefahren für die Demokratie unter den Teppich gekehrt und Einheimische aufgehetzt, bis sie fälschlicherweise glauben, dass sich "die Deutschen" gegen "die Invasoren" wehren müssen, nicht etwa die Arbeitenden gegen die Investoren. Längerfristig bleibt die Zu- beziehungsweise Einwanderung überwiegend mittelloser Flüchtlinge nicht ohne gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung von Armut und sozioökonomischer Ungleichheit in Deutschland. Wenn nicht alles täuscht, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich dadurch zusätzlich.

Bei unveränderten Macht- und Mehrheitsverhältnissen besteht sogar die Gefahr einer dauerhaften Unterschichtung unserer Gesellschaft durch Zuwanderer. Wenn die Dominanz rassistischer Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft dazu führt, dass die Geflüchteten arm bleiben und sozialer Ausgrenzung unterliegen, ist ethnische Unterschichtung eine mögliche Folge.

Was sind die drängendsten Probleme, welche die Politik heutzutage angehen müsste? Sehen Sie einen gesellschaftlichen Akteur, der die Politik in diese Richtung unter Druck setzen könnte?

Christoph Butterwegge: Auf den ersten Blick scheint es zwar so, als sei es vordringlicher, die ökologischen Probleme zu lösen, als eine sozialökonomische Transformation und eine Überwindung des Kapitalismus in Angriff zunehmen, anders gesagt: als ginge die Gattungsfrage (Sicherung der Existenzgrundlagen durch Abwendung der Klimakatastrophe) der Klassenfrage (Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung und Beseitigung der sozioökonomischen Ungleichheit) voran. Schaut man jedoch genauer hin, wird schnell deutlich, dass nichts ökologische Nachhaltigkeit mehr verhindert als sozioökonomische Ungleichheit. Letztlich beschwört die für den Kapitalismus konstitutive Ungleichheit die ökologische Katastrophe geradezu herauf, weshalb dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem baldmöglichst überwunden werden muss, damit die Menschheit überleben kann.

Mehr sozioökonomische Gleichheit ist wirtschaftlich sinnvoll, ökologisch notwendig, moralisch geboten, verteilungsgerecht und politisch möglich. Armut kann im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden, da beide systembedingt und integrale Bestandteile des Finanzmarktkapitalismus, aber auch zwei Seiten einer Medaille sind. Reichtum entsteht schließlich nicht trotz der Existenz von Armut, vielmehr gerade durch deren Erzeugung. Korrekturen der Sekundärverteilung durch Umverteilung von Oben nach Unten, etwa mittels einer spürbaren Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer oder die Einführung einer Millionärsteuer reichen allerdings längst nicht mehr aus, um die Kluft zwischen Arm und Reich wieder zu schließen.

Vielmehr sind auch tiefgreifende Strukturveränderungen bis hin zur Vergesellschaftung nötig, damit sich die sozioökonomische Ungleichheit nicht mehr permanent reproduziert. Ein "revolutionäres Subjekt", das die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen bringt, ist zwar nicht in Sicht. Aber die Bereitschaft vieler Menschen, progressive Bündnisse über Parteigrenzen hinweg zuschließen, ist gewachsen. Gewerkschafter, Akteure in Religionsgemeinschaften, Hartz-IV-Gegner in den Wohlfahrtsverbänden, Globalisierungskritiker und Antifa-Initiativen wissen, dass sie nur gemeinsam erfolgreich sein können.

Von der "Fridays for Future"-Bewegung werden zahlreiche Jugendliche erfasst, mobilisiert und politisiert, die bisher nicht rebelliert haben. Auch hat der jüngste SPD-Parteitag gezeigt, dass ein "Weiter so!" der Großen Koalition selbst in einer Regierungspartei an Rückhalt verliert. Insofern bin ich zwar weiterhin ein "Pessimist des Verstandes", aber gleichzeitig ein "Optimist des Herzens", wie sich Antonio Gramsci bezeichnet hat. Altes ist im Umbruch, das Neue im digitalen Finanzmarktkapitalismus jedoch noch nicht durchsetzungsfähig.

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