Was hatte das BKA gegen die Quelle, die Amri beschattete?

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages bestreitet ein BKA-Beamter in verheerender Weise die Vorwürfe eines Staatsschützers aus Düsseldorf und stellt damit seine Behörde erst Recht unter Verdacht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Aussage des leitenden Kriminalbeamten R.M. aus Nordrhein-Westfalen vor vier Wochen im Bundestag hat die Tagesordnung des Ausschusses jetzt über den Haufen geworfen. Das Gremium muss klären, wer lügt: der Kriminalhauptkommissar aus Düsseldorf oder ein BKA-Mann inklusive seiner Behörde und das Bundesinnenministerium gleich mit. Dazu wurden jener BKA-Mann namens Philipp K. als Zeuge geladen sowie ein Oberstaatsanwalt der Bundesanwaltschaft namens Dieter Killmer. Nach der getrennten Einzelvernehmung wurden am Ende alle drei, M., K. und Killmer, noch gemeinsam vernommen, sie blieben bei ihren Aussagen. Dokumentiert ist nun aber, dass die Lüge offiziell in den Anschlagskomplex Einzug gehalten hat. Das wiederum entspricht durchaus seinem Werdegang.

Am 14. November 2019 hatte Kriminalhauptkommissar (KHK) R.M., der die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen IS-Statthalter in Deutschland Abu Walaa leitet, Folgendes ausgesagt: Eine Quelle des nordrhein-westfälischen LKA, die sogenannte VP 01, die sowohl die Gruppe um Abu Walaa in der DIK-Moschee in Hildesheim bespitzelte als auch engen Kontakt zu Anis Amri pflegte, sei vom BKA systematisch abqualifiziert worden, um sie "aus dem Spiel zu nehmen" und von Amri abzuziehen (Der Amri-Skandal erreicht Ex-Innenminister de Maizière).

Amri gilt den Ermittlern heute als der Attentäter vom Breitscheidplatz, verantwortlich für zwölf Tote. Dass auch das inzwischen längst nicht mehr so sicher und seine genaue Rolle bei dem Anschlag offen ist, sei an dieser Stelle nur vermerkt. Einzig gesicherter Fakt ist, dass er um die Tatzeit herum in der Nähe des Tatortes Breitscheidplatz war.

Ende 2015, Anfang 2016 berichtete die VP 01 jedenfalls über Anschlagsphantasien Amris. Dennoch habe das BKA die VP 01 "kaputtschreiben" wollen, so der Zeuge R.M. vor vier Wochen. Der BKA-Vertreter Philipp K. habe ihm in einem Vier-Augen-Gespräch erklärt, die Order dazu käme von "ganz oben", sprich von dem BKA-Kriminaldirektor Sven Kurenbach und aus dem Bundesinnenministerium.

Dieses Vier-Augen-Gespräch soll im Anschluss an eine Besprechung zu dem Problem "VP 01 und Anis Amri" am 23. Februar 2016 in Räumen der Bundesanwaltschaft stattgefunden haben. Teilnehmer waren Vertreter der Karlsruher Behörde, des BKA, des LKA NRW, des LKA Niedersachsen sowie zwei Führungsbeamte der VP 01. Viele Einzelheiten dieser Besprechung sind inzwischen verifiziert und stützen die Version von R.M. Zu dem in Frage stehenden Vier-Augen-Gespräch kann allerdings nur derjenige Auskunft geben, der laut R.M daran teilgenommen habe: Philipp K.

Er bestritt, dass es ein solches Gespräch gegeben habe, sein Problem sei aber, dass er ein Gespräch, das nicht stattgefunden habe, ja nicht beweisen könne. Er bot an, sich vereidigen zu lassen, das sei sein einziger Beitrag, den er leisten könne. Und wörtlich: "Wenn es die Möglichkeit der Vereidigung gibt, bitte machen Sie das, vereidigen Sie mich!" Möglicherweise ein kalkulierter Vorschlag mit Showcharakter, denn der Ausschuss dürfe ihn nicht vereidigen, wie der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler (CDU) erklärte. Als Zeuge dürfe er aber auch nicht uneidlich falsch aussagen.

Im Laufe der Befragung verfing sich der Erste Kriminalhauptkommissar zusehends in Widersprüchen. Es falle ihm schwer, auf die Aussage von R.M. zu antworten, sagte er in seinem anfänglichen Statement, denn er kenne den Wortlaut von dessen Vernehmung nicht. Was er wisse, sei aus "zweiter Hand", aus der Presseberichterstattung und Twitter-Nachrichten aus der damaligen Sitzung.

Das wunderte den Abgeordneten Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), denn wenn Philipp K. nicht wisse, was R.M. ausgesagt habe, wie könne er es dann bestreiten. "Was ist die Grundlage Ihres Bestreitens?", so Notz, und als der Abgeordnete Volker Ullrich (CSU) dann von dem Zeugen verlangte, nur knapp zu sagen, ob es damals am 23. Februar 2016 in Karlsruhe ein Vier-Augen-Gespräch zwischen ihm und R.M. gab, sagte Philipp K. zunächst, er könne sich nicht erinnern, das sei drei Jahre her. Dann ergänzte er sogar, er könne nicht ausschließen, dass ein solches Gespräch stattgefunden habe.

"Schließe ich aus"

Am 15. November 2019, einen Tag nach der Aufsehen erregenden Aussage von R.M. im Bundestag, hatte Philipp K. allerdings in einer dienstlichen Erklärung zu Protokoll gegeben, ein solches Vier-Augen-Gespräch habe es nicht gegeben. Auf diese dienstliche Erklärung stützte sich auch der Sprecher des Bundesinnenministeriums (BMI), als er am 15. November in der Bundespressekonferenz erklärte, "bereits ein inhaltliches Vier-Augen-Gespräch hat es nicht gegeben". Weiter sagte der BMI-Sprecher, dass der "Untersuchungsausschuss bereits über diese Erklärung informiert" wurde.

Nun wollte der Ausschuss also wissen, wie es sein kann, dass Philipp K. am 15. November in einer dienstlichen Erklärung ein Vier-Augen-Gespräch mit R.M. bestreite und heute sage, er könne sich nicht erinnern, könne es aber auch nicht ausschließen? Es folgte die nächste Kehrtwende und der Zeuge erklärte dann doch: "Ich kann ausschließen, dass ein solches Vier-Augen-Gespräch stattgefunden hat. Das von dem Zeugen R.M. laut Presse berichtete Vier-Augen-Gespräch fand nicht statt."

Das reichte dem Ausschuss nicht. Ausschussmitglied Ullrich fragte auch die inhaltlichen Punkte ab, die der NRW-Kriminalbeamte R.M. benannt hatte. Dass die V-Person (VP) "zu viel Arbeit mache"? Das gesagt zu haben, wollte der Zeuge K. erneut "nicht ausschließen". Später nahm er das "zu" wieder weg. Oder: Dass die VP "vom Spiel zu nehmen" sei? Antwort: "Schließe ich aus." Dass es eine Anweisung "von ganz oben" gegeben habe? Antwort: "Schließe ich aus." Dass eine solche Anweisung von "Kurenbach" kam? - "Schließe ich aus." - Von "Thomas de Maizère"? - "Schließe ich aus." - "Aus dem Bundesinnenministerium"? - "Schließe ich aus."

Wie kam es überhaupt zu der dienstlichen Erklärung von Philipp K.?, wollte der Ausschuss wissen. Hat er sie selber formuliert oder hat sie ihm jemand vorgegeben? K.s schon archetypische Antwort: "Weder noch". Rekonstruiert wurde schließlich Folgendes: Noch am Abend des 14. November, dem Tag jener folgenschweren Zeugenaussage, rief ihn aus dem Bundesinnenministerium (BMI) Ministerialrat Jens Koch an, der Abteilungsleiter für öffentliche Sicherheit. Er wollte wissen, was da im Ausschuss erzählt wird und K. erzählte es ihm. Koch war im Oktober selber als Zeuge im Bundestag geladen, weil er maßgeblich an der Abschiebung des Amri-Komplizen Bilel Ben Ammar im Februar 2017 beteiligt war.

Am nächsten Morgen kam es im Bundeskriminalamt in Berlin zu einer Dienstbesprechung mit Philipp K. und Vorgesetzten. Dazu war auch das Bundesinnenministerium mit mehreren Vertretern zugeschaltet. Unter ihnen der Verantwortliche für die Begleitung des Untersuchungsausschusses sowie der Sitzungsvertreter des BMI im Ausschuss, Michael Vogel. Vogel soll, so Philipp K., im Laufe des Tages noch angerufen und gesagt haben, es sei "an der Zeit, eine Erklärung" abzugeben. K. will da schon selbstständig damit angefangen haben, sie zu schreiben, weil ihm klar gewesen sei, dass er irgendwann eine solche dienstliche Erklärung abgeben müsse.

Um 14:52 Uhr am 15. November reichte Vogel diese dienstliche Erklärung K.s im Sekretariat des Untersuchungsausschusses (UA) ein. Doch schon um 12:15 Uhr hatte Vogel im UA-Sekretariat einen Sprechzettel abgegeben, in dem steht, das BMI erkläre, dieses Vier-Augen-Gespräch habe es nicht gegeben. Auf Nachfrage erklärte Philipp K., er sei bereit, die dienstliche Erklärung auch an Eides statt abzugeben.

BMI-Vertreter Vogel ist durch sein Handeln zum Zeugen im Untersuchungskomplex geworden und könnte streng genommen nicht mehr an den Sitzungen des Ausschusses teilnehmen. Das gleiche trifft aber auch auf den Vertreter des Justizministeriums in der Runde zu, der ebenfalls in die Abschiebung Ben Ammars involviert war und trotzdem nach wie vor an den Ausschusssitzungen teilnimmt, selbst den internen.