Türkei schafft Fakten für ihre Annexion von Teilen Nordsyriens

Foto: ANF

Wie in Afrin im Nordwesten Syriens baut die Türkei eine Mauer um die von ihr besetzten Gebiete im Nordosten

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Die türkische Regierung schafft Fakten. Wie in Afrin im Nordwesten Syriens baut die Türkei eine Mauer um Ra's al-'Ain (kurdisch: Serekaniye) und Tall Abyad (kurdisch: Gire Spi), um diese Gebiete von Syrien abzuspalten. Auch die Umsiedlung von sunnitischen Turkmenen und Uiguren aus der Türkei und Idlib hat begonnen. Das erinnert an die Annektion des heutigen Hatay und Nordzyperns.

Anders als im Fall der Krim schweigt Europa und sieht tatenlos zu, wie Erdogan sein neo-osmanisches Reich häppchenweise verwirklicht. Eine internationale Konferenz im Europaparlament in Brüssel machte Vorschläge zur Lösung des Krieges in Nordsyrien.

"Das Vorgehen auf der Krim ist eine Annexion, die man Russland nicht durchgehen lassen kann", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2014 und setzte sich für Sanktionen gegen Russland ein, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim für eine Zugehörigkeit zu Russland stimmte.

Vier Jahre später annektiert die Türkei Gebiete in Nordsyrien gegen den Willen der dortigen Bevölkerung. Merkel ist lediglich "besorgt"; von Sanktionen gegen die Türkei kann keine Rede sein, obwohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestages von einer völkerrechtswidrigen Handlung spricht:

Mangels Vorliegen einer Selbstverteidigungslage lässt sich in der Errichtung einer türkischen "Sicherheitszone" in Nordsyrien auch keine völkerrechtlich zulässige Selbstverteidigungshandlung sehen. Selbst für den (hypothetischen) Fall, dass eine Selbstverteidigungslage bestünde, lassen Kommentierungen in den Völkerrechtsblogs keinen Zweifel an der Unangemessenheit der türkischen Militäroperation.

Wissenschaftliche Dienste, Bundestag

Die Türkei verweist in diesem Zusammenhang auf das sogenannte 'Adana-Abkommen' von 1998, das nach ihrer Auffassung den Einmarsch der Türkei legitimiere. In diesem Punkt kommt der wissenschaftliche Dienst ebenfalls zu einer anderen Einschätzung: "Ein Recht zur unilateralen 'Invasion' ergibt sich aus dem Adana-Abkommen nicht. Dies bestätigt nicht zuletzt die vehemente syrische Reaktion auf den türkischen Vormarsch. Das Adana-Abkommen schafft, wie der ehemalige Leiter der Nachrichtenabteilung im Generalstab der Türkei İsmail Hakkı Pekin gegenüber dem Internetportal der Deutschen Welle Qantara.de erklärt hat, die Grundlage für eine Zusammenarbeit, aber nicht für (türkische) Alleingänge auf fremdem Territorium."

Anfang Dezember begann die türkische Armee, das von ihr besetzte, ca. 120 Kilometer lange und 30 Kilometer tiefe Gebiet zwischen den Grenzstädten Tel Abyad/Gire Spi und Serekaniye/Ras Al-Ain durch den Bau einer Betonmauer vom syrischen Staatsgebiet abzutrennen. Der Gouverneur der türkischen Provinz Urfa, Abdullah Erin, gab kürzlich die Ernennung von türkischen Beamten bekannt, die als Landräte in Serekaniye und Gire Spi regieren sollen.

Dies zeigt, ähnlich wie zuvor in Dscharablus, al-Bab und Afrin, dass es der Türkei nicht um die Schaffung einer sogenannten 'temporären Sicherheitszone' geht, sondern um die Annektion syrischen Staatsgebiets. Daraus machte der Gouverneur aus Urfa kein Hehl. Landkarten, die zurzeit in türkischen Fernsehsendern gezeigt werden, lassen uns wissen, dass das türkische Territorium künftig das Gebiet von Aleppo in Nordsyrien bis nach Mossul im Irak umfassen soll. Im Übrigen sollen auch Teile Griechenlands und Bulgariens dazugehören.

Damit stellt die Türkei den Friedensvertrag von Lausanne 1923 in Frage, in dem diese ehemals dem Osmanischen Reich zugehörigen Gebiete Syrien, Griechenland und Bulgarien zugewiesen wurden. Die aktuelle neo-osmanische Propaganda zeigt auch, dass die jetzigen Annektionen nur der Anfang sind. Wenn ihn keiner stoppt, wird Erdogan häppchenweise Gebiet für Gebiet annektieren.

Dies machte auch Hami Aksoy, der Sprecher des türkischen Außenministers deutlich: "Wir behalten uns das Recht vor, die Operation Friedensquelle fortzusetzen. Wie unser Präsident gesagt hat, werden wir Syrien nicht verlassen, bis es nicht vom letzten Terroristen gesäubert ist." Verteidigungsminister Hulusi Akar bestätigte kürzlich bei Haushaltsberatungen die Pläne weiterer Annektionen: "Unser Kampf wird weitergehen, bis der letzte Terrorist neutralisiert worden ist, Tag und Nacht, Sommer wie Winter, auf Berg und Tal, im Inland wie im Ausland."

Mit "Terroristen" sind nicht etwa die Dschihadisten und IS-Schläferzellen gemeint, die nun zum Leben wieder erwacht sind und in Nordsyrien verstärkt Selbstmordattentate verüben. Gemeint sind vor allem Kurden jeden Alters. Anfang Dezember starben durch türkischen Granatenbeschuss auf eine Schule in Tel Rifat acht Kinder und ein Erwachsener. Die Ortschaft befindet sich nördlich von Aleppo und 30 km von der türkischen Grenze entfernt.

Zurzeit gibt es immer wieder Kämpfe um die 30 km von der türkischen Grenze entfernte Verbindungsstraße M4 von Aleppo über Hasaka in den Irak. Wenn diese Schnellstraße den Türken und Dschihadisten in die Hände fällt, ist der letzte Versorgungsweg für das Gebiet der Selbstverwaltung gekappt und für die Türkei und ihre dschihadistischen Hilfstruppen der Weg tiefer ins Inland offen.

Bevölkerungsaustausch hat begonnen

Mit dem nun begonnenen Bevölkerungsaustausch in den türkisch besetzten Gebieten schafft Erdogan Fakten. Die seit Generationen in diesem Gebiet lebende Bevölkerung wird dauerhaft vertrieben. Ihre Häuser und Ländereien werden an syrisch-arabische, turkmenische und uigurische Siedler sowie an die Familien von Kämpfern der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) vergeben. In der SNA sind neben den verschiedensten islamistischen Milizen auch ehemalige IS-Kämpfer als Proxy-Truppe der Türkei organisiert, die von der Türkei ausgebildet wurden.

Ende Oktober organisierte die Türkei in Azaz den "5. Kongress des Rats der Turkmenen in Syrien", an dem auch der stellvertretende türkische Außenminister Yavuz Selim Kıran teilnahm. Er erklärte dort:

Die Turkmenen müssen weiter gestärkt werden. Wir werden weiterhin unseren entschlossenen Kampf dafür fortsetzen, ihnen hier ein sicheres Gebiet zur Verfügung zu stellen und dieses Gebiet den wahren Besitzern der Region und den Vertriebenen zurückzugeben.

Yavuz Selim Kıran, stellvertretender türkischer Außenminister

Seitdem werden die neuen sunnitischen Bewohner, die aus Sicht der Türkei die 'wahren Besitzer der Region' sind, aus der Türkei und dem von Dschihadisten und der Türkei kontrollierten Idlib und Azaz im Nordwesten Syriens in Bussen nach Gire Spi und Serekaniye gebracht. Viele dieser Dschihadisten-Familien stammen ursprünglich aus Homs oder Hama und sind nach Idlib oder in die Türkei geflüchtet.

Mit dem Argument, der 'vertriebenen Syrer' aus Nordsyrien in der Türkei will Erdogan vor allem die 4 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei loswerden - am liebsten finanziert von den Europäern. Dafür 'wirbt' Erdogan aktuell auf den verschiedenen Syrien-Gipfeln und droht nebenbei immer wieder damit, die Tore nach Europa zu öffnen, sollten die Europäer nicht spuren. Die türkische Generaldirektion für Migration bereitet in den Flüchtlingsunterkünften in Istanbul, im Hatay, Gaziantep und in Urfa gegenwärtig die 'Umsiedlung' nach Serekaniye und Gire Spi vor.

Der türkische Geheimdienst MIT soll Berichten zufolge Migranten aus den sogenannten Turkstaaten wie Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Aserbaidschan und Afghanistan, die in der Türkei als radikale Islamisten bekannt sind, von einer Umsiedlung aus der Türkei nach Nordsyrien überzeugen.

Die Annektions-Politik der Türkei durch einen Bevölkerungsaustausch ist nichts Neues. Schon 1938 verfuhr der türkische Staat ähnlich in der nun türkischen Provinz Hatay, die damals hauptsächlich von Alawiten (nicht zu verwechseln mit den Aleviten in der Türkei), Überlebenden des Armenier-Genozids von 1915 und Aramäern bewohnt wurde.

Viele Bewohner flohen damals vor den Türken nach Syrien und in den Libanon, die Türkei siedelte dann sunnitische Muslime an und führte ein Referendum durch, das die Annektion legitimieren sollte. In Serekaniye und Gire Spi verfährt die Türkei jetzt ähnlich: Auf einem von der türkischen Regierung organisierten Treffen von vier turkmenischen Parteien in Syrien wurde über die Abgrenzung eines 'turkmenischen Territoriums' diskutiert und eine turkmenische Fahne und Hymne kreiert.

An strategisch wichtigen Stellen im nordsyrischen Grenzgebiet, mittlerweile auch in Serekaniye und Gire Spi, wurden von der Türkei berüchtigte Milizen wie die Sultan-Murad-Brigade, die Sultan-Suleiman-Shah-Brigade, die Fatih-Sultan-Mehmet-Brigade, die Muntassir-Billah-Brigade und die Samarkand-Brigade stationiert. Die meisten stammen aus Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan oder wie die Uiguren aus dem chinesischen Sinkiang.

Die arabischen Milizen werden vor allem an der Front gegen die Selbstverwaltungsgebiete mit ihrer multiethnischen und multireligiösen Bevölkerung (in der Region lebten Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen, Christen und Eziden) eingesetzt. Eine weitere Methode, die Bevölkerung dauerhaft zu vertreiben ist es, die Häuser niederzubrennen oder zu sprengen, wie dies in einem Dorf bei Gire Spi der Fall war. Ein Video zeigt, wie die Häuser der Bewohner des Dorfes dem Erdboden gleichgemacht werden.

Diese Methode wurde schon in den 1980er und 1990er Jahren vom türkischen Militär im Südosten der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt, wo damals 5.000 Dörfer zerstört wurden. Plünderungen von Wohnungen und Geschäften sind in Gire Spi an der Tagesordnung. Dabei kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Proxytruppen bei der Aufteilung der Beute. In Gire Spi kam es dabei zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Milizen Ahrar al-Sharqiya und Jabhat al-Shamiya, bei der es auf beiden Seiten Tote und Verletzte gab.

Wie in Afrin, wird nun auch Gire Spi türkisiert. Die verbliebenen Bewohner und neu angesiedelten Dschihadistenfamilien bekommen nun türkische Pässe ausgehändigt. Straßen, Dörfer, Stadtteile und Schulen bekommen türkische Namen und in den Schulen wird die türkische Sprache zur Pflicht. In einem Dorf wurde die Dorfschule von türkischen Soldaten feierlich in "Barış Pınarı" (Friedensquelle), der von der Türkei verwendete Name für die Invasion in Nordsyrien, umbenannt.

Armenische Genozid-Überlebende: Die Geschichte wiederholt sich

Der Armenier Mihemed Brahim ist in Til Temir in Nordsyrien geboren. Till Temir (Tal Tamir) liegt wie viele christliche Dörfer im Tal des Khabur-Flusses im Gebiet der nordsyrischen Selbstverwaltung, unweit von Serekaniye. Brahims Großmutter Sara kam 1915 mit den Deportationszügen in Nordsyrien an.

Sie wurde auf dem Weg in das Konzentrationslager Deir ez-Zor bei Serekaniye von einer arabischen Familie gerettet und überlebte. Auch in Serekaniye war eines von 25 Konzentrationslagern, in das Armenier und assyrische Christen deportiert wurden. Die Konzentrationslager in Serekaniye und Deir ez Zor werden in historischen Quellen immer wieder erwähnt: 70.000 Armenier sollen allein in Serekaniye (Ras al-Ayn) von den Türken und ihren Milizen getötet und in Massengräbern verbrannt worden sein.

Noch heute findet man Knochen der Opfer in den Feldern der Region. Das größte Konzentrationslager in Deir ez Zor wird auch als "Auschwitz der Armenier" bezeichnet. Nun wiederholt sich für den Enkel Brahim die Geschichte.

Wieder sind es die Türken mit ihren dschihadistischen Milizen, die die Nachfahren der Genozid-Überlebenden vertreiben, ermorden und foltern. Im Osmanischen Reich wurde die Bevölkerung gegen die Armenier mit dem Vernichtungsmotto, man komme ins Paradies, wenn man einen Armenier töte, aufgehetzt. Heute heißt es in der dschihadistischen Propaganda, angelehnt an das damalige Vernichtungsmotto, man komme ins Paradies, wenn man einen Kurden töte.

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