Polizeigewalt im Banner der politischen "Normalität"

Screenshot von Ruptly-Video vom 7.12.

Unter Premierminister Mitsotakis darf die Polizei entfesselter agieren. Zweck sei es, so ein Gewerkschaftsvertreter der Polizei, Demonstranten von Vandalismus und Angriffen auf Polizisten abzuschrecken

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In Griechenland beschäftigen sich Bevölkerung und Medien mit der Frage, wie sie die offensichtliche Polizeigewalt der unter Premier Mitsotakis entfesselten Einsatzpolizei wahrnehmen. Für die Anhänger der Regierung, ist der massive Gewalteinsatz ein Grund zu jubeln. Die Reaktionen auf Videos, welche offenbar wahllos auf Festgenommene einprügelnde Einsatzpolizisten zeigen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Seit dem 6. Dezember, dem Tag, an dem in Griechenland mit Demonstrationen dem von Polizisten grundlos erschossenen fünfzehnjährigen Alexis Grigoropoulos gedacht wird, tauchen täglich neue Berichte über die Polizeigewalt auf.

Untersuchungskommissionen sollen Klarheit schaffen

Zwar wurden Untersuchungskommissionen zur Polizeigewalt eingerichtet, aber deren Urteil scheint bereits im Vorfeld festzustehen. Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis stellt sich hinter seine Beamten: "Die Einsatzpolizisten haben die Demonstranten in den Straßen Athens nicht erniedrigt. Sie haben diejenigen festgenommen, die im Zentrum von Exarchia für Angriffe mit Molotow-Cocktails und Steinen in ihrer Hand verantwortlich waren."

Screenshot von To Pontiki mit dem Foto

Vor allem ein Foto, welches die Fotoreporterin Tatiana Bolari aufnahm, wird intensiv diskutiert. Es zeigt eine Gruppe von Einsatzpolizisten, die einem gerade Festgenommenen, halb entkleidet haben und ihm die Unterhose herunterziehen. Die Fotografin zeigte sich geschockt, sie habe eine Zeit gebraucht, um zu begreifen, was gerade vor ihren Augen geschehen sei, erklärte sie gegenüber der Presse.

Als ich sah, was ich gerade in Händen hielt, lief mir der Schauer über den Rücken. Weil ich beim Fotografieren eine Atemmaske und einen Helm trug, hatte ich nicht realisiert, dass sie ihn ausgezogen hatten und an der Unterhose zogen. Ich sah es erst, als ich mich in eine Ecke zurückgezogen hatte und die Maske abgenommen hatte, um zu sehen, was ich fotografiert hatte.

Es war gegen 22:00 h, nach dem Ende des Demonstrationszuges, einer sehr gut besuchten, überaus friedlichen und gut bewachten Demonstration. Alles begann, als plötzlich drei Trupps von Einsatzpolizisten, die aus der Spyridon Trikoupi und der Solomou Straße kamen, auf uns zu rannten und uns mit Tränengasgranaten bewarfen. Die Polizisten begannen, jeden zu fassen, dessen sie habhaft werden konnten.

In diesem Moment sah ich einen jungen Demonstranten, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, und einen kompletten, ihn umkreisenden und sich auf ihn stürzenden Trupp. Sie hatten ihn buchstäblich umkreist. Sie begannen ihn nach rechts und links zu zerren und warfen ihn zu Boden. So verführen sie zehn Minuten lang. Er wurde heftig verprügelt. Es war die absolute Herabwürdigung des Menschen.

Der junge Mann rief: "Lasst mich, ich habe nichts getan, ich habe nichts getan." Ein anwesender Arzt aus der Gruppe der Ärzte und Rechtsanwälte, die aus Solidarität bei solchen Demonstrationen dabei sind, meinte, so wie er das gesehen habe, wie der junge Mann, bevor er abgeführt wurde, unten gelegen habe, die Hände hinter dem Rücken und vor Schmerzen schreiend, dass die Polizisten ihm die Schulter ausgekugelt hätten.

Anwohner kamen auf die Balkone und schrien, die [Polizisten] sollten den Jungen in Ruhe lassen. Auch wir Fotoreporter sammelten uns um sie, um das Geschehene festzuhalten, aber die Polizisten begannen uns mit ihren Schutzschildern abzudrängen und uns zu sagen: "Macht keine Fotos - haut ab."

Nachdem er abgeführt wurde, sahen wir, dass auf dem Platz ein Teil seiner Kleidung zurückgeblieben war, einer seiner beiden Schuhe, die Jacke, das Mobiltelefon und weitere persönliche Dinge. Wir sammelten es auf und übergaben es an seine Freunde.

Tatiana Bolari

Die Entkleidung des Demonstranten bestätigte indirekt einen Bericht eines Studenten, der an einem gewöhnlichen Tag ohne Demonstration im Exarchia Viertel unweit des Ministeriums für Kultur ohne ersichtlichen Grund aufgegriffen, entkleidet, gedemütigt und nach kurzem Aufenthalt auf der Wache entlassen wurde.

Sie lassen auch die Erzählung einer Gruppe dreier junger Studenten realistisch erscheinen. Sie waren am 6. Dezember nicht zur Demonstration, aber in eine Bar im Exarchia-Viertel gegangen. Diese verließen sie gegen 21:30h und gingen auf dem Nachhauseweg am Ministerium für Kultur vorbei. Eine der jungen Frauen der Gruppe war mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt und wurde von einem der das Ministerium bewachenden Einsatzpolizisten rüde aufgefordert, das Telefon wegzustecken. Sie kam der Aufforderung kommentarlos nach.

Ihre Freundin wollte jedoch den Grund für den Befehlston des Polizisten erfahren. Sie erhielt aus Antwort Faustschläge ins Gesicht und Tritte in den Bauch. Zwei weitere Beamte stoppten ihn schließlich.

Der hinzugekommene Leiter des Trupps wies die Gruppe an zu verschwinden. Die Studenten wollten jedoch den Namen des Schlägers oder zumindest die Einheit genannt bekommen. Einsatzpolizisten sind in Griechenland ohne jegliches individuelles Erkennungsmerkmal unterwegs. Der Leiter schlug stattdessen vor, sie sollten ihm ins Gesicht schlagen, denn dann "wären wir quitt". Die Studenten nahmen dies als Falle war. Hätte jemand zugeschlagen, meinten sie, dann wäre die Situation weiter eskaliert.

Videos von der Demonstration zeigen weiterhin, wie eine junge Frau am Platz von Exarchia den Beamten ihren Unmut zuruft und daraufhin zunächst von einem Beamten angesprungen und niedergeschlagen wird, bevor sie mit hochgezogenem Pullover abgeführt wird. Sie zeigen einen jungen Mann, auf den Polizisten zueilen, während er ruft: "Ich ergebe mich!" Trotz dieses Rufes und der erhobenen Hände wird er mit Faustschlägen und Schlagstöcken traktiert.

Diese Szene nahm Kleon Grigoriadis, Abgeordneter der Partei MeRA25, zum Anlass, im Parlament am Rednerpult mit erhobenen Händen und dem Ausruf "Ich ergebe mich" in Richtung Regierungsbank zu fragen, was ein Demonstrant noch tun müsse, um nicht geschlagen zu werden.

Es gibt zahlreiche Berichte von Betroffenen, die behaupten, dass die Einsatzpolizisten ihnen gesagt hätten, sie müssten lernen, vor der Polizei Angst zu haben.

Übermäßige Polizeigewalt und Gesetzesübertretungen der Beamten bleiben, den Berichten zufolge, nicht nur auf Athen beschränkt. Auch aus Patras gab es im Zusammenhang mit den Demonstrationen zum 6. Dezember ähnliche Anschuldigungen.

Dort wurden sogar zwei minderjährige Mädchen im Alter von dreizehn und vierzehn Jahren festgenommen. Erst als sie frei gelassen wurden, erfuhren die vor dem Polizeipräsidium wartenden Eltern, dass beide Mädchen ein Dokument unterschrieben hatten, welches ein Geständnis enthielt. Beiden wurde beim Verhör die Anwesenheit ihrer Eltern, die sogar anwaltliche Hilfe dabei hatten, trotz des Drängens der Anwälte versagt.

SYRIZA-Abgeordnete zitiert Anarchisten

Die massive Polizeigewalt bewegte Nina Kasimati, Abgeordnete von SYRIZA, dazu, in sozialen Netzwerken die Losung "Bullen, Schweine, Mörder" zu posten. Diese wird bei Demonstrationen von Autonomen in Griechenland sehr oft gerufen und mit "Und nun die Losung, die uns alle eint" eingeleitet. Kasimati wurde wegen dieser Äußerung bereits von der Polizei-Gewerkschaft POASY zum Widerruf aufgerufen. Sie wurde zudem wegen Beleidigung angezeigt.

Einzelne Politiker der Nea Dimokratia forderten vom SYRIZA-Vorsitzenden Alexis Tsipras, die Politikerin wegen ihres Zitats aus der Partei auszuschließen. Der Vorsitzende des Parlaments, Kostas Tasoulas, wandte sich auf offiziellem Weg an die SYRIZA-Fraktion und forderte diese auf, ihr Mitglied zu disziplinieren und zum Widerruf der strittigen Aussage zu bewegen.

Der frühere Parlamentsvizepräsident, Minister und SYRIZA-Abgeordnete Giannis Balafas versuchte, mit einer sexistisch abgewandelten Version des Spruchs, seiner Kollegin zu Hilfe zu eilen, und machte damit alles nur noch schlimmer. Schließlich gab Kasimati auf und bat öffentlich um Entschuldigung.

Die Diskussion um Kassimati, Balafas und den Mörder- und Schweinevergleich der Einsatzpolizei überdeckte kurzeitig die Vielzahl an Belegen, die für massive, überzogene Polizeigewalt vorgelegt wurden. Kasimati und Balafas vergaßen zudem, dass die Einsatzpolizei auch unter der Regierung von SYRIZA massiv Gewalt gegen Demonstranten, unter anderen auch bei Demonstrationen von Rentnern, einsetzte.

Polizeigewerkschaftler freuen sich

Seitens der Polizei selbst wird jedoch zugegeben, dass die Beamten unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis entfesselter agieren. Spyros Kriketos, Vizevorsitzender des Verbands von Polizeiangestellten in West-Attika, gab im Fernsehen offen zu, dass die Polizei die Wirkung der Fotos erkennt. Zweck sei es, so Kriketos, Demonstranten von Vandalismus und Angriffen auf Polizisten abzuschrecken.

Dass die Fotos eine Entwürdigung der Festgenommenen zeigen würden, stritt Kriketos ab. Er meinte, bezugnehmend auf das Foto von Bolari vielmehr: "Das, was wir sehen, ist ein hochgezogener Pullover. Das werden wir untersuchen. Wir fürchten keine Untersuchung. Wir haben vielmehr Angst, dass das, was wir der Bevölkerung geben, Recht und Ordnung, gestoppt wird."

Kriketos beschuldigte die Regierung von SYRIZA: "Sie haben die Polizei in den vergangenen Jahren kastriert. Dreißig Jahre haben sie Karriere gemacht, indem sie auf dem Rücken der Polizisten die Demokraten mimten. Damit ist nun Schluss!"

Agrarminister Makis Voridis kommentierte dies im Fernsehen mit der Aussage, dass sich die Bürger an die Gewalt der Polizei gewöhnen müssten. "Es gibt keine einvernehmliche Gewalt", meinte er, "die Gewalt ist gezwungenermaßen ein Zwang. Haben Sie sich daran noch nicht gewöhnt?"

Die Journalistin warf daraufhin ein: "Nein, ich habe mich nicht daran gewöhnt. Warum sollen wir uns an Gewalt gewöhnen, Herr Minister?"

Woraufhin Voridis antwortete mit einer rhetorischen Gegenfrage: "Wenn Sie mich beschimpfen, werden die Folgen, die Sie erleiden, nicht einvernehmlich sein? Der Zwang muss gelehrt werden."

Wieweit die Regierung mit ihrer Recht & Ordnung-Politik noch gehen möchte, zeigt die Tatsache, dass in der vergangenen Woche ein Gesetz beschlossen wurde, welches dem Militär auch ordnungspolitische Maßnahmen im Inneren des Landes überträgt. Der neue Grenzschutz, der auch im Inneren des Landes für die "innere Sicherheit" polizeirechtlich agieren soll, wird aus Einheiten des Verteidigungsministeriums, des Marineministeriums und des Bürgerschutzministeriums gebildet.

Offenbar herrscht in dieser Frage Einklang zwischen Nea Dimokratia, der Griechischen Lösung, SYRIZA, KinAl (PASOK) und MeRA25. Bei der Abstimmung im Parlament kamen die einzigen Gegenstimmen aus den Reihen der kommunistischen Partei.