"Wahrhaft selbstloses Handeln ist äußerst selten (oder tritt in Wirklichkeit überhaupt nie auf)"

Wirtschaftswissenschaft und Evolutionsbiologie haben Schwierigkeiten menschlichen Altruismus zu erklären

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Der US-Amerikaner Wesley Autrey wartete an einer U-Bahn-Station mit seinen beiden Töchtern, als ein Mann einen epileptischen Anfall erlitt. Autrey klemmte ihm sofort einen Kugelschreiber zwischen die Zähne, damit der Mann sich nicht auf die Zunge biss. Anschließend konnte der Mann wieder stehen, aber als die U-Bahn einfuhr, taumelte er und fiel aufs Gleis. Sofort sprang Autrey hinterher. Weil aber der Mann zu schwer war, drückte Autrey ihn zwischen die Schienen und legt sich auf ihn. Fünf Wagen rollten über Wesley Autrey. Zwischen seinem Kopf und dem Zug blieben nur zwei Zentimeter Platz. Sein Kommentar zu der ungewöhnlichen Tat: "Ich sah nur einen Menschen, der Hilfe brauchte. Da tat ich, was zu tun war."

Valentin Filipenko fuhr in der Nähe von Rostock auf seinem Fahrrad, als er zwei Jungen auf einem zugefrorenen See spielen sah. Sekunden später brach die dünne Eisdecke. Filipenko reagierte sofort, rannte auf den See und brach selbst durch das Eis. Er hielt die Jungen abwechselnd über Wasser, bis die Rettungskräfte eintrafen.

Einzelfälle? Der französische Psychologe Jacques Lecomte konnte in seinem Buch "La Bonté humaine" belegen, dass solche Rettungstaten weit häufiger vorkommen, als man es vermuten würde: Als es im Dezember 2010 in Frankreich besonders kalt war, sprangen fast jeden Tag Menschen in eiskaltes Wasser, um andere zu retten. Diese Meldungen tauchten jedoch nur in den jeweiligen Lokalmedien auf.

Altruistische Akte existieren. Keine Frage. Es ist aber erstaunlich, wieviel intellektuelle Energie von Denkern (insbesondere der Wirtschaftswissenschaften und der Evolutionsbiologie) aufgewendet werden, um das Prädikat eines real existierenden Altruismus höchstens in absoluten Ausnahmefällen zu gewähren.

Verengende Definitionen

"Ein Altruist ist im Wesentlichen dadurch definiert, dass er willens ist, seinen eigenen Konsum einzuschränken, um den Konsum anderer zu erhöhen." Oder etwas allgemeiner formuliert: "Handelt ein Mensch so, dass die Handlung kostspielig für ihn ist, aber jemand anderem Nutzen bringt, dann verhält sich die oder der Betreffende altruistisch", so schreibt Gary Becker, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften.

Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins definiert ebenfalls Altruismus in den Parametern einer Kosten-Nutzen-Kalkulation, in der das Leben als ein Nullsummenspiel erscheint: "Ein Organismus (…) gilt als altruistisch, wenn er sich so verhält, dass er das Wohlergehen eines anderen, gleichartigen Organismus auf Kosten seines eigenen Wohlergehens steigert."

Bezeichnenderweise geraten anders gelagerte Definitionen des Altruismus gar nicht ins Blickfeld. So definiert die "International Encyclopedia of the Social Sciences" den psychologischen Altruismus als "einen Zustand der Motivation, die darauf abzielt, das Wohlbefinden eines Anderen zu erhöhen". Der Sozialpsychologe Daniel Batson sieht dies ähnlich. Für ihn ist "Altruismus eine Motivation, die im Letzten darauf abzielt, das Wohlbefinden eines Anderen zu erhöhen".

All dieses Definitionen implizieren keine zwangsläufige Opferhaltung und liegen dem menschlichen Erfahrungshorizont näher, als die radikale verengende Sicht der Wirtschaftswissenschaft und Evolutionsbiologie, die, gefangen in der Überzeugung, das Leben sei ein Nullsummenspiel, definieren, die Steigerung des Wohlbefindens des Einen sei zwangsläufig die Reduzierung des Wohlbefinden des Anderen.

Der psychologische Egoismus

Das Arsenal an intellektuell ausgefeilten Argumenten ist erstaunlich groß, die die Existenz des Altruismus schlicht mehr oder weniger leugnen oder zumindest diesen als deutlich weniger selbstlos entlarven wollen, als er auf den ersten Blick zu sein scheint.

Bernard Mandeville, niederländischer Arzt und Zeitgenosse von Adam Smith, hatte beispielsweise eine klare Erklärung für Menschen, die ihr Leben riskieren, um andere zu retten: "

Es liegt kein Verdienst darin, ein unschuldiges Kindchen zu retten, das nahe daran war, ins Feuer zu fallen. Die Handlung ist weder gut noch schlecht, und welchen Nutzen das Kind auch davon haben mag, wir verfahren dabei lediglich in unserem eigenen Interesse. Denn seinen Fall gesehen und nicht gestrebt zu haben, ihn zu verhindern, würde eine Pein verursacht haben, die der Selbsterhaltungstrieb uns zu vermeiden zwang.

Bernard Mandeville

Den schlichtesten, aber auch radikalsten Versuch, die Existenz des Altruismus zu widerlegen, unternehmen Vertreter des sogenannten psychologischen Egoismus. Dieser beruht auf der Überzeugung, das Ziel hinter allem Verhalten und Streben des Menschen (auch dem unbewussten) sei nichts anderes als die Steigerung des eigenen Wohlbefindens und die Verwirklichung der eigenen Wünsche. Frei nach der Überzeugung des Evolutionsbiologen Michael Ghiselin: "Kratz einen Altruisten und sieh einen Heuchler bluten." Dieser egoistischen Lesart zufolge ist der Nutzen, den der Mensch erlebt, dem geholfen wird, lediglich eine Art Zwischenschritt - ein Mittel für das letztlich angestrebte Ziel, selbst einen eigenen Nutzen zu erzielen.

Diese Einschätzung der menschlichen Psyche entspricht natürlich exakt dem Menschenbild des Nutzenmaximierers. Konkret auf das menschliche Verhalten bezogen sieht der psychologische Egoismus daher hinter einer guten Tat beispielsweise die eigentliche Motivation, sein persönliches Ansehen zu steigern. Ein anderer tatsächlicher Motor, ist das gute Gefühl. So würden wir eine gute Tat nur tun, damit wir uns in der Wonne des guten Gewissens sonnen können. Der Psychologe Robert Cialdini war daher überzeugt, der Anblick eines Bettlers belastet beispielsweise so sehr, dass der Mensch sich von dieser Last befreien will, indem er dem Bettler Geld gibt. Die Motivation sei also nicht die Großzügigkeit, sondern vielmehr der egoistische Wunsch, sich selber besser zu fühlen. Gerne wird in diesem Zusammenhang auch auf die große Befriedigung verwiesen, die Organspender empfinden, oder das Glücksgefühl bei einer gelungenen Judenrettung während des Holocausts.

Die Schlussfolgerung lautet daher, dass der Mensch bei altruistischen Handlungen einen großen Genuss empfindet. Daher befriedigt der Mensch durch seinen scheinbaren Altruismus schlicht das eigene Wohlbefinden, also seinen Egoismus, der der eigentliche Motor für seine Entscheidung zur scheinbar altruistischen Tat war.

Ein logischer Zirkelschluss

Die Logik hinter dem psychologischen Egoismus verbirgt einen vielsagenden Zirkelschluss. Es wird unterstellt, dass Menschen nur Dinge tun, die ihnen selber Genuss bereiten. Im Umkehrschluss wird gefolgert, dass die Tatsache, dass der Mensch etwas getan habe, beweist, dass er es aus persönlichem Genuss getan habe. Matthieu Ricard dekonstruiert elegant:

Die Schwäche des psychologischen Egoismus liegt in der Behauptung, er allein ermögliche es, alle menschlichen Verhaltensweisen zu erklären. Es ist egoistisch, einem Kind eine Pflaume nicht zu geben (Du willst sie für dich behalten), und es ist egoistisch, sie ihm zu geben (Du tust das, um ein gutes Gewissen zu haben).

Als Folge des genannten Zirkelschluss ist es unmöglich zu beweisen, dass tatsächlich ein selbstloser Akt vorliegt. Selbst Jesus oder Mahatma Gandhi könnte man unterstellen, dass die Selbstaufopferung tatsächlich von einem egoistischen Motiv zeugen würde. Galanterweise könnte dies aber auch nie schlüssig widerlegt werden. Daher liegt die Theorie des psychologischen Egoismus immer richtig. Damit ist sie aber auch nicht falsifizierbar und nach Karl Popper schlicht kein wissenschaftlicher Ansatz.

Streng genommen bleibt vom psychologischen Egoismus, wie Norman Brown erklärt, nur die Behauptung übrig, "dass der Mensch von seinen eigenen Wünschen motiviert ist" - eine Aussage, von intellektuell äußerst erbärmlicher Banalität.

Wie wir später aber noch sehen werden, wird der psychologische Egoismus auch durch zahlreiche Experimente widerlegt.

Ein Altruist dürfe keine Befriedigung verspüren

Die im wirtschaftlichen Denken begründete Ansicht des psychologischen Egoismus, es sei schlicht ein Widerspruch in sich, dass ein Altruist Befriedigung empfinde (denn dann wäre die Handlung zwangsläufig als egoistisch einzustufen, da sie ja dem Betreffenden einen Gewinn bereitet). In der Konsequenz heißt dies dann aber auch: Nur je schlechter man sich nach einer Handlung fühlt, desto eher ist man ein Altruist. Das aber ist eine sehr bedenkliche Einstellung, man kann auch sagen: eine geradezu masochistische Sichtweise des Menschen.

Konsequent legt Matthieu Ricard, buddhistischer Mönch, Übersetzer des Dalai Lama und promovierter Molekularbiologe, den Finger auf einen zentralen Denkfehler:

Nur weil man Freude empfindet, wenn man einem anderen Gutes tut, oder darüber hinaus auch noch Annehmlichkeiten für sich selber dadurch erlangt, wird eine Tat als solche nicht egoistisch. Echter Altruismus erfordert nicht, dass man selber leidet, wenn man anderen hilft, er verliert seine Authentizität nicht dadurch, dass er mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit einhergeht.

Matthieu Ricard

Altruismus schließt in keiner Weise aus, Gutes für sich zu erstreben, da dies mit dem Wunsch, es möge anderen gut gehen, vereinbar ist. Das Leben ist eben kein Nullsummenspiel, wie es die Wirtschaftswissenschaft immer unterstellt. Handlungen können durchaus das Wohlbefinden anderer Menschen erhöhen, ohne dass man dadurch an eigenem Wohlbefinden verliert. "Der Scheidepunkt zwischen Altruismus und Egoismus liegt (...) im Wesen unserer Motivation", stellt Matthieu Ricard fest. Helfe ich, damit ich mich danach als edler Mensch fühle, oder helfe ich, damit es dem anderen besser geht? Spätestens an der Beantwortung dieser einfachen Frage zeigt sich der alles entscheidende Unterschied zwischen egoistischem und altruistischem Verhalten.

Reziproker Altruismus: "Wie Du mir, so ich Dir"

Während der Ansatz des psychologischen Egoismus die eigenständige Existenz des Altruismus schlicht ablehnt, gesteht der sogenannte reziproke Altruismus durchaus zu, dass es in gewisser Hinsicht altruistische Handlungen geben mag. Diese geschehen allerdings nur dann, wenn - wie im Tauschgeschäft - erwartet werden darf, dass darauf mit einer altruistischen Tat geantwortet wird. Der Volksmund bezeichnet diese Einstellung mit der Redewendung "Eine Hand wäscht die andere."

Stellvertretend für viele Wissenschaftler, die davon überzeugt sind, der reziproke Altruismus erkläre den Altruismus, sei an dieser Stelle der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits angeführt:

Der Egoismus ist die Triebkraft der Hilfsbereitschaft, der Ausgangspunkt jedes gesellschaftlichen Handelns und jeder Moral. Alle Lebewesen - der Mensch ist dabei keine Ausnahme - sind von Natur aus egoistisch. (…) Der Altruismus - sei es bei Wölfen oder anderen 'vergesellschafteten' Arten - beruht auf Gegenseitigkeit: Das hilfsbereite Individuum profitiert von seinem eigenen Verhalten. Streng genommen, liegt also kein echter, sondern nur ein reziproker Altruismus vor, für den der Volksmund Redeweisen wie "Eine Hand wäscht die andere" oder "Wie du mir, so ich dir" gefunden hat: Das Paradox der sozialen Evolution, in der also Egoisten den Altruismus "erfunden" haben, löst sich auf der Ebene der Gegenseitigkeit auf. Man darf davon ausgehen, dass wahrhaft selbstloses Handeln ohne irgendeine mittel- bis langfristige Aussicht auf eigene Vorteile äußerst selten ist (oder in Wirklichkeit überhaupt nie auftritt).

Franz M. Wuketits

Tatsächlich lassen sich aus einer evolutionären Perspektive Prozesse der Gegenseitigkeit leicht erklären, weil alle kooperierenden Personen einen direkten Vorteil haben. Erstaunlicherweise sind aber viele Versuche, den reziproken Altruismus in der Tierwelt zu beweisen, gescheitert. Beispielsweise stellten Alicia P. Melis, Brian Hare und Michael Tomasello fest, "dass zufällig zusammengebrachte Schimpansen einem Individuum, das ihnen gerade geholfen hatte, nicht mehr Hilfe entgegengebrachten als einem, das ihnen nicht geholfen hatte".

Der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello, Co-Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig, macht auf ein grundlegendes Problem mit dem Erklärungsversuch des reziproken Altruismus aufmerksam:

Das erste Problem ist, dass der reziproke Altruismus überhaupt keine Erklärung für den allerersten altruistischen Akt hat, der dieser Darstellung zufolge auf blindem Optimismus oder Zufall beruhen muss. Das zweite Problem ist der mächtige Impuls, abtrünnig zu werden: Sobald du mir meinen Vorteil verschafft hast, habe ich keinen Anreiz mehr, dir im Gegenzug deinen zu verschaffen.

Michael Tomasello

Indirekte Reziprozität: Ich helfe Dir und jemand anderes hilft mir

Skeptiker des Altruismus haben durchaus weitere wohl durchdachte Gegenargumente: Altruismus ist "eine Investition in ein Kapital, das sich Vertrauenswürdigkeit nennt und später einmal ganz nette Dividenden in der Form anderer Leute Großzügigkeit auszahlt. Daher ist der kooperative Mensch alles andere als wahrhaft altruistisch." So der Unternehmer und Autor Matt Ridley, der hiermit eine komplexere Erklärung für die Existenz des Altruismus abgibt, die oftmals als sogenannte indirekte Reziprozität bezeichnet wird.

Für den Mathematiker und Biologen Martin. A. Nowak ist die indirekte Reziprozität sogar ein Mechanismus, der die Evolution der Kooperation vorantreibt. Für das Funktionieren braucht man einen Namen, damit die gute Tat mit der konkreten Steigerung der Anerkennung einer Person verbunden werden kann. Nach Nowak könnte die indirekte Reziprozität sogar ein wichtiger Grund für die Entwicklung von Sprache und die Entwicklung der überraschenden Größe des menschlichen Gehirns sein: "Damit unsere selbstlose Haltung von vielen gewürdigt und unsere Reputation gestärkt wird, ist mehr als Sprache nötig. Wir brauchen intelligente und aufnahmebereite Gehirne. Indirekte Reziprozität stützt sich auf das, was andere von uns halten."

Verwandtenselektion und Vetternwirtschaft

Das Konzept der Gruppenselektion, das aus der Evolutions- und Soziobiologie stammt, könnte eine komplexere Erklärung für altruistisches Verhalten sein. Auch in den Wirtschaftswissenschaften hat dieses Konzept Eingang gefunden. Hintergrund für die Ausarbeitung des Konzepts der Verwandtenselektion war die grundlegende Frage, wie sich in der Evolution, die auf den ersten Blick eindeutig egoistisches Verhalten zu begünstigen scheint, altruistisches Verhalten bis heute erhalten konnte. Der Genetiker William D. Hamilton, der neben Maynard Smith in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Theorie der Verwandtenselektion entwickelte, bemerkte, dass sich Altruismus nur rechne, wenn er unter Verwandten geschieht.

Dieser Theorie zufolge hat sich aus Sicht der Evolution die Verwandtenselektion deshalb entwickelt, weil die Menschen auf diese Weise sicherzustellen versuchen, mehr ihrer Gene an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Nowak schreibt:

Wenn die Individuen hauptsächlich die Aufgabe hatten, in einem Konkurrenzkampf ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben, dann zahlten sie logischerweise auch einen Preis dafür, um Verwandten, also Menschen mit denselben Genen, einen Nutzen zu verschaffen.

Martin. A. Nowak

Daher ist es in der Konsequenz zwangsläufig logisch, dass ein Mensch um das Wohlergehen sein seines eineiigen Zwillings genauso besorgt sein sollte, wie um sein eigenes. Ebenso konsequent logisch erscheint es, dass nach dieser Theorie "die Wahrscheinlichkeit, Altruismus zu erfahren, für Vettern zweiten Grades 1/16 so groß ist wie für Kinder und Geschwister". Auch wenn der Evolutionsbiologe Richard Dawkins die mathematische Radikalität der Theorie ein wenig einschränkt und davon spricht, "dass der 'wahre' Verwandtschaftsgrad bei der Evolution des Altruismus vielleicht weniger wichtig ist als der beste Schätzwert des Verwandtschaftsgrades, den ein Tier erhalten kann", so sind doch die Grenzen dieser Theorie offenkundig. Denn so überzeugend diese Theorie gedacht und mathematisch begründet ist (und nicht zuletzt daher eine große Attraktivität bei Wirtschaftswissenschaftler genießt), so sehr liegt es aber auf der Hand, dass sie beispielsweise völlig scheitert, eine Erklärung für das Verhalten von Wesley Autrey und Valentin Filipenko zu bieten.

Gruppenselektion

Wie der Name schon verrät, geht die Gruppenselektion davon aus, dass Altruismus nicht auf die Verwandtschaft beschränkt ist, sondern vielmehr Altruismus ein Verhalten ist, das der gesamten Gruppe zu Gute kommen soll. Tatsächlich zeichnen sich die Frühmenschen im Gegensatz zu Menschenaffen dadurch aus, dass sie nicht nur Verwandten und Freunden halfen, sondern auch begannen, zusätzlich ihren (potentiellen) gemeinschaftlichen Partnern zu helfen, und zwar unabhängig davon, wie ihre Beziehung zu diesen in der Vergangenheit war.

Die Idee der Gruppenselektion geht auf Charles Darwin zurück. Er sah die altruistische Tat durchaus als ein Verhalten an, das in der Evolution den Sieg über den Egoismus davontragen kann:

Ein Stamm, welcher viele Glieder umfaßt, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muthes und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein.

Charles Darewin

Wissenschaft statt Mythen

Es überrascht und stimmt nachdenklich, wie viel intellektuelle Energie eine Reihe von Denkern aufgewendet hat, um die Existenz des Altruismus zu widerlegen oder zumindest maximal zu reduzieren. Geradeso als sei der Altruismus eine unangenehme Herausforderung für das eigene Menschenbild, der es sich argumentativ unbedingt zu entledigen gelte. So hatte beispielsweise vor Richard Dawkins kritischen Augen nur die Blutspende das Charakteristikum eines echten Altruismus. Dabei ist ihm diese Geständnis ein wenig peinlich, denn er schreibt hierzu einleitend: "Mag sein, dass ich naiv bin, aber ich fühle mich versucht, Blutspenden als einen echten Fall von reinem, uneigennützigen Altruismus anzusehen."

Bezeichnenderweise interessieren sich die Anhänger dieser fundamentalen Altruismus-Skepsis wenig für die wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema, die, wie weiter oben bereits gesehen, beispielsweise den Erklärungsansatz des reziproken Altruismus in seinem universellen Anspruch widerlegt. Wenden wir uns daher nun der Einschätzung der Wissenschaft zu den vorgestellten Erklärungsansätzen zu.

"Der Scheidepunkt zwischen Altruismus und Egoismus liegt (...) im Wesen unserer Motivation", stellte Matthieu Ricard fest, wie bereits weiter oben erwähnt. Eine Reihe wichtiger Experimente hat genau diesen Scheidepunkt genutzt, um der Frage auf den Grund zu gehen, inwiefern Altruismus existiert oder nur ein verkappter Egoismus oder eine Form von intendierter Reziprozität darstellt.

Während es für einen Egoisten von zentraler Bedeutung ist, dass er selber die gute Tat ausführt und entsprechend die Lorbeeren dafür erntet (sei es inneres Wonnegefühl, sei es soziale Anerkennung), ist für den Altruisten entscheidend, dass dem Leidenden geholfen wird. Ein Experiment von Robert Hepach, Amrisha Vaish und Michael Tomasello mit Kleinkindern kam zu dem Ergebnis, "dass zweijährige Kleinkinder gleichermaßen zufrieden sind, wenn sie jemandem in einer Notlage helfen, wie wenn sie sehen, dass dieser Person von einem Dritten geholfen wird - und in beiden Fällen sind sie zufriedener, als wenn der Person gar nicht geholfen wird". Tomasello kommentiert dieses Resultat wie folgt:

In einem wichtigen Sinne bedeutet das, dass ein Interesse an Reziprozität (entweder direkt oder indirekt) nicht die evolutionäre Grundlage für die Hilfe von Kleinkindern sein kann, weil man den Akt selbst vollziehen müsste, um von der Reziprozität zu profitieren, so dass man als Helfer identifiziert werden und später eine Rückerstattung dafür bekommen kann.

Michael Tomasello

Daniel Batson von der Universität Kansas und sein Team führten zahlreiche Experimente mit Erwachsenen durch, die obiges Ergebnis bestätigen. Die wahren Altruisten (diejenigen also, die die größte Empathie für das Opfer verspürten) empfanden die gleiche Zufriedenheit über das Ende des Leids des Opfers, unabhängig davon, ob sie selbst aktiv das Leid verhindern konnten oder schlicht nur wussten, dass das Opfer am Ende keine Stromstöße mehr erhielt. Ihre Zufriedenheit beruht also auf dem Ende des Leids des anderen - ob sie dabei selbst die handelnde Person waren, war hingegen nicht ausschlaggebend. Batson fasst seine Erkenntnisse wie folgt zusammen:

Die Ergebnisse der über 15 Jahre durchgeführten 25 Forschungsarbeiten haben die Annahme bestätigt, dass wahrer Altruismus, der einzig und allein auf der Motivation beruht, das Wohl des anderen zu ermöglichen, wirklich existiert. (…) Bis heute gibt es keine plausible Erklärung für die Ergebnisse dieser Studien, die sie mit Egoismus begründen würde.

Daniel Bateson

Fakten statt Mythen

Der Mensch hat durchaus die Fähigkeit zum selbstlosen Altruismus, in dessen Zentrum die Person steht, der geholfen werden soll, und nicht das eigene Ego, das Lust darauf hat, sich im Licht einer guten Tat zu sonnen. Zudem gibt es starke Hinweise darauf, dass der Mensch diese Eigenschaft von Natur aus mitbringt.

Vielleicht wäre es also an der Zeit, weniger auf egoistischen Erklärungsmustern für den Altruismus zu beharren und in diesem Sinne Wirtschaft und Gesellschaft auszurichten, als sich für die eigene, offenbar erstaunlich unbekannte Natur zu interessieren. Die Natur des Menschen.

Benutzte Literatur:

Becker, Gary S.: Ökonomische Erklärung menschliches Verhaltens.
Dawkins, Richard: Das egoistische Gen.
Klein, Stefan: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen.
Lecomte Jacques: La Bonté humaine. Altruisme, empathie, générosité.
Nowak, Martin A. mit Highfield, Roger: Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution.
Precht, Richard David: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält.
Ricard, Matthieu: Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus - die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.
Singer, Tania: Mitgefühl in der Wirtschaft. Tomasello Michael: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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