Rohes fresst! - oder jedenfalls nicht den üblichen Feiertagsmampf

Essen wirkt auf die Darmbakterien, und die wirken aufs Gehirn. Der kleine Telepolis-Ernährungsratgeber zur Weihnachtszeit

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Das Wichtigste vorab: Essen Sie, was Sie wollen, und was Ihnen schmeckt! Ernährungsratgeber sind die Katechismen einer Ersatzreligion, und dabei noch nicht einmal sonderlich haltbar. In wohl keinem anderen Wissensfeld kann man sich so sicher sein, dass die Wahrheit von morgen das genaue Gegenteil der Wahrheit von heute sein wird. Gutes oder böses Cholesterin, Kartoffeldiät oder Low Carb, regelmäßige kleine Mahlzeiten oder Intervallfasten - die Amplitude ist maximal bei gleichzeitig hoher Frequenz.

Nichtsdestotrotz kann der Mensch nicht anders, als nach Ordnung im Chaos zu suchen. So, wie wir uns ständig neue Götter erfinden, ersehnen wir auch immer neue Orientierung im Überflussangebot des Supermarkts. Längst spüren wir, dass die Freiheit nicht linear mit der Auswahl wächst, und suchen Sicherheit im Gebot: Tu dies, glaub jenes. Iss das, verzichte hier.

Früher standen die Gesetze in den heiligen Büchern, heute in den Veröffentlichungen der Wissenschaftler. Die müssen einerseits eingestehen, dass der größte Teil ihrer Ernährungsstudien nichts taugt, weil sie notwendigerweise unverblindet ("Die Versuchspersonen erfahren nicht, ob sie ein Steak oder eine Sahnetorte essen."), von Störfaktoren belastet und vom Publikationsbias verzerrt sind. Andererseits bemühen sie sich unverdrossen, einen mutmaßlichen Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit auf solide analytische Füße zu stellen. Seit einigen Jahren tun sie dies, indem sie zu verstehen versuchen, was das Verspeiste im Darm mit den dortigen Bakterien anstellt.

Nicht Essen macht dick, sondern Bakterien

Die Gesamtheit der Bakterien und sonstigen Mikroorganismen in und an unserem Körper bildet das Mikrobiom. Zahllose Milliarden der Mikroben siedeln allein in unserem Verdauungstrakt und zersetzen unser Essen. Die Abfallprodukte, die sie dabei erzeugen, reichern sich wiederum im Chymus (dem Verdauungsbrei) an und gelangen womöglich in den Wirtskörper, um dort verschiedene Wirkungen zu entfalten. Sie steigen direkt oder indirekt (über den Vagusnerv) bis hinauf ins Gehirn, manipulieren unser Wohlbefinden, unsere geistige Gesundheit und auch unseren Appetit.

Auf höchst eindrucksvolle Weise demonstrierte das eine Studie vor sechs Jahren. Die Autoren fanden ein eineiiges und drei zweieiige weibliche Zwillingspaare, die sich in der Figur stark unterschieden: die eine schlank (BMI 19,5-25,5kg/m²), die andere adipös (BMI 31-33kg/m²). (Was nebenbei auch ein kleiner, klarer Kommentar ist zu dem Sums über die genetische Determination der Persönlichkeit, der unkaputtbar gerade jetzt und immer wieder aus der Kiste steigt.)

Von beiden Zwillingen wurden Stuhlproben genommen und jeweils Mäusen eingepflanzt, die bis dahin keimfrei gehalten worden waren. Während die Mäuse, die Kot vom schlanken Zwilling erhalten hatten, unverändert schlank blieben, legten die Empfänger des fetten Kots über die nächsten Wochen rund 12% Fettmasse zu. Und das, obgleich beide Gruppen gleich viel vom selben Essen fraßen.

Davon inspiriert, ist die Stuhltransplantation auch bei Menschen versucht worden, bislang aber mit unklaren Ergebnissen, wenn es um Fettleibigkeit geht. Vielleicht genügen sechs Wochen Beobachtungszeit einfach nicht für einen messbaren Effekt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass bei Menschen, anders als bei Mäusen, eine Fülle weiterer Lebensgewohnheiten einen rückkoppelnden Effekt auf das Körpergewicht haben. Wahrscheinlich essen dicke und dünne Menschen ja auch gerade nicht dasselbe Essen.

Fremdkot gegen ASD

Ein Störungsbild, bei dem eine Stuhltransplantation hingegen bereits mit großem Erfolg eingesetzt worden ist, ist das autistische Spektrum. Seit langem ist bekannt, dass es zwischen neurotypischen Menschen und solchen aus dem Spektrum Unterschiede im Darmmikrobiom gibt. Und im Mäuseversuch kann man Mäuse mit einer pränatalen Intervention sozial zurückhaltend und verhaltensauffällig ("autistisch") machen, und findet dann einen undichten Darm, aus dem Verdauungsprodukte in die Blutbahn aussuppen und die Verhaltensauffälligkeiten erklären. Die Behandlung mit einem bestimmten Bakterienstamm hebt die Störung auf.

Eine spätere Studie verfolgte in gleich drei mäusischen Autismusmodellen die Spur vom Gedärm über den Vagusnerv, der vom Hirnstamm aus die gesamten Eingeweide erreicht, über das "Kuschelhormon" Oxytocin bis in das sogenannte Belohnungssystem des Gehirns. Und fand einen weiteren Bakterienstamm, der heilsam wirkte. Und wenn man den Stuhl von Menschen aus dem autistischen Spektrum Mäusen einpflanzt, dann zeigen diese autismusähnliche Symptome.

In diesem Fall hat die Übertragung der Methode von Mäusen auf den Menschen anscheinend geklappt. Einige Wochen nach einem umständlichen Austausch des Darmmikrobioms besserten sich die autistischen Symptome von 18 behandelten Kindern deutlich, und die Nachfolgestudie zwei Jahre später fand, dass diese Wirkung anhielt und sich sogar noch verstärkte. Hatten vor Beginn der Behandlung über 80% der Kinder schwere Symptome gezeigt, waren es nach zwei Jahren noch 18%; war vorher kein Kind quasi symptomfrei, waren es danach fast die Hälfte. Der Anteil jener, bei denen klinisch Autismus diagnostiziert wurde, sank von rund 90% auf 50%.

Der Nährboden des inneren Ökosystems

Nun ist ein Komplettaustausch des Mikrobioms, zumal, wenn er durch zwei Wochen Antibiotikagabe, Auswaschung der Eingeweide und Einspritzen fremder, nun ja, Scheiße über acht Wochen hinweg erreicht wird, nichts, was man gerne mit sich machen lässt. Und andererseits fragt man sich, ob das nötig ist. Das Mikrobiom eines Menschen wird ihm ja nicht zugewürfelt. Es bildet sich durch seine Lebensgewohnheiten, insbesondere: seine Essensgewohnheiten.

Dass die Ernährung sich auf das Darmmikrobiom auswirkt, weiß man selbstverständlich seit Jahren. Verschiedene Ernährungsstile fördern unterschiedliche sogenannte "Enterotypen", wobei letzte Jäger-und-Sammler-Gesellschaften wie die Hadza in Tanzania sich auf besondere Weise von allen anderen unterscheiden. Zugleich ändert sich bei ihnen die Zusammensetzung ihres Mikrobioms mit dem Jahresgang. Die Bakterienstämme, die am stärksten von den Jahreszeiten abhängen, sind just diejenigen, die als erste verschwinden, wenn Gesellschaften sich modernisieren und industrialisieren.

Also kann man offensichtlich das Mikrobiom unter anderem (auch Sport wirkt, und selbstverständlich Pharmaka) durch die Diät verändern. Daher warte ich seit den ersten großen Studien über die Darm-Hirn-Achse quasi täglich auf die Untersuchung, die den Doppelsprung macht: von der Ernährung zum Mikrobiom, und von dort zum Verhalten. "Friss dies, dann geht die Depression weg." Aber das lässt auf sich warten.

Nahrhafter Ballast

Eingestandenermaßen ist sowas methodisch ebenso schwierig wie alle Ernährungsstudien, siehe oben. Wenige Menschen werden bereit sein, wochenlang auf Kommando ihre Ernährung umzustellen. Und immer werden sie spätestens beim Kauen merken, was sie gerade zu sich nehmen.

Was beim Menschen nahezu unmöglich ist, geht aber problemlos bei Mäusen. Indem sie den Tieren ein synthetisches Mikrobiom aus 14 sequenzierten und auf ihre Ernährungsvorlieben geprüften Mikroben einpflanzten, konnten Wissenschaftler zeigen, dass bei einer ballaststoffarmen Ernährung solche Bakterien gewinnen, die sich statt an die pflanzlichen Fasern an die Kohlenhydrate aus der schützenden Schleimschicht des Darms halten, und diese somit zerstören. Mit der Folge, dass Infektionen leichter greifen.

Eine andere Arbeitsgruppe nahm 15 Bakterienspezies aus dem Darm eines schlanken Menschen, der einen dicken Zwilling hatte, pflanzte sie Mäusen ein und fütterte sie mit unterschiedlichen Ballaststoffen. Indem sie die DNA in den Mäusekötteln sequenzierten, konnten sie nachverfolgen, welche Diät besonders geeignet ist, nützliche Bakterien zu fördern. Erbsen und Gerste (diese in einer faserhaltigen, also nicht-flüssigen Form) waren anscheinend besonders interessant.

Dass Ballaststoffe, also Faser, der Gesundheit zuträglich sind, ist keine Neuigkeit. Zahlreiche Studien erweisen die Vorzüge einer pflanzenbasierten Ernährung. Trotzdem bleibt - außerhalb von Mäusen - die Argumentationskette vom Essen zur Hirngesundheit ebenso verlockend wie spekulativ.

Ein Menu für ein friedliches Fest

Damit nähern wir uns allmählich der weihnachtlichen Festzeit und ihren Problemen. Denn es scheint eine Beziehung zu geben zwischen energiereichem Essen - v.a. Fastfood mit Maisfruktosesirup, aber auch fettreichen Speisen -, Fettleibigkeit (das überrascht eher nicht) und Autismus.

Zwar geht die mutmaßliche Kausalkette in erster Linie über die Mütter: Sind die Mütter in der Schwangerschaft allzu dick, dann programmiert dies die Gene des Fötus‘ so, dass sich ein eher autistisches Gehirn entwickelt. Aber zumindest bei Mäusen kann auch nachgeburtlich fettreiches Futter soziale Störungen verstärken.

Um es also mal plakativ zu vereinfachen: Zur Weihnachtszeit ballen sich Menschen gruppenweise auf engem Raum und mampfen Gänsebraten mit Kartoffeln, Raclette (dito), Torten, Desserts, Kekse und Schokoweihnachtsmänner, kurz: haufenweise fettes und süßes Zeug, das dafür sorgt, dass sie andere Menschen nicht ertragen können. Noch verschärft wird das Problem dadurch, dass nach einer neuen Metaanalyse Zucker weder fröhlich noch wach macht, sondern eher müde und gereizt. So nimmt das Unheil seinen Lauf. "Du, die Ohrfeige - das war nicht ich, das war der Spekulatius. Hier, nimm Dir 'nen Haferkeks."

Statt Gänsebraten sollten wir zu Weihnachten Rote-Bete-Salat mit Walnüssen essen, statt Raclette lieber ein Gado-Gado. Besser keine Lebkuchen, sondern Trockenobst. Nach dem Essen sollten wir nicht den Cognac schwenken, sondern lieber einen Joint, und zur Kommunion bei der Christmette sollte es keine Oblaten geben, sondern Zucchinicracker, und für die Protestanten einen Zug aus der Bong.

Dann, ja dann, wäre es für alle Familien wirklich eine friedliche Weihnachtszeit.