Amri: Wenn eine offizielle Anschlagsversion zusammenfällt wie ein Kartenhaus

Bild: Karl-Ludwig Poggemann/CC BY-SA-2.0

Auch der Ex-Vizechef des Berliner Staatsschutzes kann keine überzeugenden Antworten auf viele offene Fragen und die Rolle des LKA geben

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Es sind die deutschen Sicherheitsbehörden selber, die begonnen haben, ihre eigene, offizielle Version vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz zu zertrümmern. Was seit drei Jahren der Öffentlichkeit erzählt wird, fällt nun unter dem Druck der Öffentlichkeit zusammen wie ein Kartenhaus.

  • Dass der Attentäter alleine gehandelt haben soll: Das wird von kundigen Beobachtern seit langem angezweifelt. Zum Beispiel fanden sich auf dem Handy eines Amri-Vertrauten mögliche Ausspähfotos vom späteren Tatort Breitscheidplatz, die bereits im Februar 2016 gemacht worden waren.
  • Dass der mutmaßliche Täter Anis Amri erst am Nachmittag des Folgetages festgestanden haben soll: Das kann inzwischen fast als widerlegt gelten. Der Anschlag geschah am Abend des 19. Dezember 2016. Ein Kriminalbeamter aus Nordrhein-Westfalen will bereits am frühen Morgen des 20. Dezember in seiner Dienststelle gehört haben, Amri sei der Täter. Die Zeitung Die Welt schreibt nun, Amri sei am 20. Dezember um 7 Uhr vom Bundeskriminalamt (BKA) und Landeskriminalamt (LKA) Berlin im Polizeiauskunftssystem (Polas) zur Festnahme ausgeschrieben worden.
  • Und dass es der Tunesier Amri war, der den Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt gesteuert haben soll: Diese Maßgabe ist mittlerweile ebenfalls fraglich geworden, seit fest steht, dass eine Videoaufnahme nicht zeigt, wie Amri kurz nach der Tat im U-Bahnhof Zoologischer Garten verschwindet, sondern dass er - im Gegenteil - aus ihm herauskommt. Diese Täterfestlegung ist derzeit noch eines der größten Tabus.

Bundesanwaltschaft (BAW) und Bundeskriminalamt (BKA), die Hauptverantwortlichen für die offizielle Anschlagsversion, behaupten, der "Attentäter Amri" sei nach dem Anschlag, der zwischen 20:02 und 20:03 Uhr geschah, in die U-Bahn am Bahnhof Zoo geflüchtet, wo er um 20:06 Uhr von einer Videokamera aufgezeichnet worden sei. Gegen 21:30 Uhr und 21:50 Uhr sei Amri im Wedding, wo er wohnte, erneut von Videokameras erfasst worden. Amri konnte aus Berlin fliehen, soll sich nach Emmerich in NRW begeben haben und wurde am 23. Dezember 2016 in Italien von Polizisten erschossen. Die Umstände sind ungeklärt.

Die Videoaufnahme, auf die sich die Ermittlungsbehörden BAW und BKA stützen, hat der Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) bereits im August 2019 veröffentlicht. Niemand schien aufgefallen zu sein, dass der Zeitstempel nicht 20:06 Uhr anzeigt, sondern 20:04 Uhr, als Amri in den Blickwinkel einer Kamera gerät.

Offizielle Version steht in Frage

Vor einiger Zeit machte sich der Autor zusammen mit einem Anschlagsbetroffenen auf die Suche nach jenem Tunnel, den Amri gegangen ist und an dessen Ende er demonstrativ den Zeigefinger in die Kamera hält. Die Aufnahme dauert 30 Sekunden, beginnt um 20:04:00 und endet um 20:04:30 Uhr. Ehe Amri aus dem Blickwinkel verschwindet, zieht er noch einen handlichen Gegenstand aus der Anoraktasche, der ein Handy sein könnte. Im und am Tat-LKW sollen am 20. Dezember die beiden Handys von Amri gefunden worden sein. Als er in Italien erschossen wurde, hatte er keines bei sich.

Zunächst war der Tunnelgang im U-Bahnhof Zoo anscheinend nicht zu finden, was daran lag, dass auch wir davon ausgingen, Amri sei in die U-Bahn hineingegangen. Erst als wir die Perspektive änderten, konnten wir den fraglichen Tunnel identifizieren. Er liegt am nördlichen Ende der U-Bahnlinie U9, die sich in dem Doppelbahnhof mit der U-Bahnlinie U2 kreuzt. Amri geht auf dem Video aber nicht zur U-Bahn hinunter, sondern er kommt von ihr und geht nach oben ins Freie. Der Ausgang liegt am Rand des Hardenbergplatzes, der auch als Busbahnhof dient.

Nach der Tat- und Täterversion von BAW und BKA hätte sich Amri also vom Tatort Breitscheidplatz zum U-Bahnhof Zoo bewegt, wäre durch den U-Bahnhof hindurch gegangen und am anderen Ende dann wieder hinaus gegangen. Er wäre nicht direkt in den Wedding gefahren, sondern zunächst in der Nähe das Anschlagsortes geblieben, hätte seine anschließende Flucht aus der Stadt also um eine unbestimmte Zeit verschoben.

Welchen Sinn hätte das gemacht? Zumal er es hätte einfacher haben können, zu der Stelle zu gelangen, wo er wieder aus der U-Bahn auftauchte. Er hätte nicht durch den Untergrund gehen müssen, sondern konnte oberirdisch auf direktem Wege dorthin gelangen. Doch abgesehen davon hätte Amri für den Weg durch den Doppel-U-Bahnhof bis zu der Stelle, wo ihn die fragliche Videokamera erfasste, etwa 90 Sekunden Zeit gehabt. Ein Bundestagsabgeordneter, der im Untersuchungsausschuss sitzt und den das Video ebenfalls stutzig machte, nannte das "sportlich".

Gibt es möglicherweise eine andere Erklärung für Amris Auftauchen zur besagten Uhrzeit an besagter Stelle im U-Bahnhof Zoo? Kam er vielleicht erst kurz vorher mit der U-Bahn dort an und begab sich dann zielstrebig Richtung Anschlagsort? Zumal er womöglich noch ein Handy mit sich führte, das er doch zusammen mit einem zweiten Handy im und am LKW verloren beziehungsweise, so die Theorie der Bundesanwaltschaft, dort als Tatbekennung absichtlich hinterlassen haben soll.

Anis Amri war am 19. Dezember 2016 in den Minuten nach dem Anschlag in Nähe des Tatortes - das beweist das U-Bahn-Video auch. Er muss jedenfalls mit dem Anschlag zu tun gehabt haben. Doch was war möglicherweise seine genaue Aufgabe und Rolle?

Alle diese Fragen stellen sich im Zusammenhang mit dem U-Bahn-Video objektiv, und jeder kann sie beantworten wie er will, solange keine weiteren Fakten geliefert werden. Allerdings gibt es ein objektives Beweismittel, die Fragen zu beantworten: Das Videomaterial der Berliner Verkehrsbetriebe aus dem U-Bahnhof Zoologischer Garten vom 19. Dezember 2016. Es wurde von der Polizei sichergestellt und muss in den Händen der Ermittler vorliegen.

Dass stattdessen noch immer der Unwille regiert, mit diesem Täter-Tabu zu brechen, zeigt das Beispiel ARD. Ein Text auf der Webseite der Tagesschau folgt geradezu nibelungentreu der offiziellen Darstellung und den Vorgaben der Bundesanwaltschaft. "Gegen 20:06 Uhr", liest man, sei Amri im U-Bahnhof Zoo gefilmt worden und "kurz danach" sei er "offenbar in die U-Bahn gestiegen".

Die Tagesschau schreibt das, obwohl das von der ARD-Anstalt RBB veröffentlichte Material etwas anderes belegt. Warum wird nicht die Frage formuliert: "Stieg Amri möglicherweise kurz davor aus der U-Bahn"? Antwort: Weil er dann nicht der LKW-Fahrer gewesen wäre. Von der offiziellen Version bliebe nicht nur nichts übrig, obendrein wären der oder die Haupttäter nicht identifiziert und liefen eventuell noch frei herum. Und zu allem würde sich die Frage stellten, warum der komplette Sicherheitsapparat inklusive der Regierungsexekutive die Öffentlichkeit und die parlamentarischen Gremien seit drei Jahren täuschen.

Für den unabhängigen Chronisten konnte Anis Amri bisher schon lediglich der "mutmaßliche Täter" sein, solange er nicht gerichtsfest als solcher überführt war - doch jetzt muss er zum "angeblichen Täter" diffundieren. Dass seine Täterschaft nicht zweifelsfrei belegt ist, steht dabei nicht im Widerspruch dazu, dass Amri in den Reihen der Sicherheitsbehörden offiziell schon frühzeitiger als Täter genannt worden sein soll, als es erklärt wird. Was beide Befunde eint, ist schließlich die Manipulation. Sie ist der gemeinsame Nenner. Wenn aber die offizielle Version nicht mehr stimmt, muss es eine andere geben, die wir nicht kennen. Wir wissen also nicht, ob zwei Fakes in Widerspruch zueinander stehen oder nur Puzzlestücke eines anderen Hintergrundes sind.

Zu diesem unbekannten Hintergrund könnte auch der fragwürdige Umgang mit dem Amri-Komplizen Bilel Ben Ammar zählen. Obwohl es einen Tatverdacht gegen ihn gab, wurde er auf Anweisung des Bundesjustizministeriums und des Bundesinnenministeriums sechs Wochen nach der Tat aus der Untersuchungshaft heraus nach Tunesien abgeschoben.

Dass das Kartenhaus der offiziellen Anschlagsversion nun wie in Zeitlupe zusammen zu stürzen beginnt, hat wesentlich mit der Beschädigung des Bundeskriminalamtes durch das Bundesinnenministerium (BMI) zu tun. Im Konflikt mit dem LKA von Nordrhein-Westfalen, von dessen Seite glaubhaft berichtet wurde (Was hatte das BKA gegen die Quelle, die Amri beschattete?), BKA und BMI wollten eine Quelle aus dem Spiel nehmen, die in engem Kontakt mit Amri stand, hat das Ministerium das BKA ins Feuer geworfen. Zwar steht sozusagen Aussage gegen Aussage und jedes Gericht täte sich schwer, ein Urteil zu fällen - die kritische Öffentlichkeit hat das allerdings getan, ihr Urteil ist eindeutig: "BKA und BMI lügen".

Wenn aber der Hauptgarant der offiziellen Anschlagsversion die Unwahrheit sagt, warum soll dann diese seine Version wahr sein? Und wenn zu guter Letzt das Ministerium einem BKA-Beamten auch noch rät - mutmaßlich -, als Zeuge im Bundestag seine Vereidigung anzubieten und damit offen mit der Straftat Meineid spielt, dann demonstriert die Exekutive auf dramatische Weise, dass ihr Wahrheit im Amri/Breitscheidplatz-Komplex nichts gilt. Es muss also niemanden wundern, wenn die Anschlagsversion à la BKA nicht mehr zählt. Dieser Punkt ist erreicht.

Wer spielt noch mit?

Seit dem offen zu Tage getretenen Konflikt zwischen dem LKA Nordrhein-Westfalen und dem BKA, stellt sich auch die Frage nach den anderen Playern im Anschlagsskandal erneut. Darunter das LKA Berlin, das in die Kritik der Düsseldorfer Kollegen einbezogen war. Zeuge im Untersuchungsausschuss des Bundestages war jetzt der frühere Vizechef der Abteilung Staatsschutz im Landeskriminalamt Berlin (LKA 5), Youssef El-Saghir. Der Staatsschutz war und ist zuständig für islamistisch-motivierte Taten und Täter. So unter anderem für Anis Amri. El-Saghir war vier Jahre lang bis Ende Juli 2016 im Staatsschutz für diesen Bereich zuständig. Heute arbeitet er im LKA in der Abteilung für operative Einheiten und Spezialkräfte (LKA 6).

Bei seiner Vernehmung jetzt war ebenfalls zu spüren, dass es einen anderen Hintergrund der Tat vom Breitscheidplatz geben muss, zu wenig passen die verschiedenen Darlegungen zusammen, zu unbestimmt und ausweichend war das Antwortverhalten des Polizeioberrats.

Eindeutig war allem Anschein nach allerdings das anfängliche Ziel der Polizei für die Befassung mit dem Tunesier Amri: Er sollte einem Strafverfahren zugeführt werden, um ihn in Haft nehmen zu können. Diese Maßgabe habe bereits im Januar 2016 gegolten, so der Zeuge El-Saghir. Zu diesem frühen Zeitpunkt wurden in mehreren Behörden Akten zu Amri angelegt, nicht nur im LKA Berlin, sondern zum Beispiel auch im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Doch obwohl der spätere angebliche Attentäter dann eine kriminelle Karriere hinlegte, mit organisiertem Drogenhandel und gefährlicher Körperverletzung, weigerten sich die Zuständigen, vor allem die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, standhaft strafrechtlich konsequent gegen ihn vorzugehen.

Die Reise Amris von Dortmund nach Berlin wirft Fragen auf

In den Fokus der Abgeordneten geriet bei der Befragung des früheren Staatsschützers El-Saghir vor allem jener Vorfall, der nun seit fast drei Jahren zwischen den Polizeibehörden in Berlin und NRW hin und her diskutiert wird, ohne dass es eine plausible Auflösung gibt: Die Reise Amris in einem Fernbus aus Dortmund nach Berlin am 18. Februar 2016, wo er nach der Ankunft entgegen dem ausdrücklich Willen der Düsseldorfer Ermittler offen kontrolliert und kurzzeitig festgenommen wurde.

Im jenem Monat Februar stand Amri fünfmal auf der Tagesordnung im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ). Am 17. Februar wurde er von der Polizei als Gefährder eingestuft, eine Kategorisierung, die strafrechtlich nicht relevant ist, aber bedeutet, dass die Polizei ein besonderes Auge auf den Kandidaten wirft. Am 23. Februar kam es zu jener konfliktreichen Besprechung bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, in der es um die Quelle VP 01 ging, die angeblich von Amri abgezogen werden sollte. Am 24. Februar will der Berliner LKA-Chef die Causa Amri namentlich in der Sicherheitslage beim Innensenator vorgetragen haben.

Durch die Polizeikontrolle am 18. Februar war Amri gewarnt. In der Folge warnte er seinerseits Kontaktleute und forderte sie auf, ihre Handys zu entsorgen. In der Berliner Version der Geschichte heißt es bisher, man habe so schnell keine Observationskräfte zur Verfügung gehabt, um den Ankommenden verdeckt zu beschatten, deshalb habe man ihn offen kontrolliert. Der Ex-Staatsschutz-Vize El-Saghir stützte diese Version, meinte sogar, die Maßnahme sei nicht falsch gewesen, weil dadurch zwei Aliasnamen Amris zusammengeführt werden konnten.

Der Ausschuss hat allerdings herausgefunden, dass im GTAZ am 17. Februar erörtert und beschlossen worden war, wie Berlin mit dem Gefährder umgehen sollte, falls der in der Hauptstadt auftauche. Es gab sogar einen entsprechenden Einsatzbefehl dazu. Demnach sollte Amri, wie NRW es vorgesehen hatte, verdeckt observiert und nicht an ihn herangetreten werden. Das LKA Berlin muss also auf den Fall X vorbereitet gewesen sein. El-Saghir wiegelte trotzdem ab, dass Amri am 18. Februar auftauche, habe man am 17. Februar ja noch nicht wissen können.

Das LKA in NRW befürchtete allerdings, dass durch die Aktion seine Quelle VP 01 gefährdet wurde und aufzufliegen drohte. War vielleicht genau das, die Enttarnung der Quelle, der Zweck der Übung? Dann wäre auch der BKA-Plan erfüllt gewesen, die VP 01 aus dem Spiel zu nehmen.

Die VP 01 hatte allerdings nicht nur Kontakt zu Amri, sondern war für die Düsseldorfer Terrorermittler der wichtigste Informant im Netzwerk um den dschihadistischen Agitator Abu Walaa aus der DIK-Moschee in Hildesheim. Dem angeblichen Statthalter des IS (Islamischer Staat) in Deutschland wird seit zwei Jahren zusammen mit vier Komplizen in Celle der Prozess gemacht. Ein Manöver gegen die VP 01 hätte also nicht nur Amri geschützt, sondern auch die angeblich eigentliche Zielperson Abu Walaa. Ausrufezeichen, Fragezeichen.

Die VP 01 saß am 18. Februar 2016 nicht neben Amri im Bus nach Berlin, wusste aber durch ihn von der Fahrt und telefonierte im Auftrag seiner Auftraggeber unterwegs mit ihm. Amri konnte sich ausrechnen, von wem die Polizei gewusst haben könnte, dass er in dem Bus in Berlin ankam.

Unklar ist aber, ob nicht doch eine weitere verdeckte Quelle in dem Fahrzeug mitfuhr. Philipp K., jener BKA-Mann, der dem Düsseldorfer Ermittlungsleiter in Sachen Abu Walaa, R.M., gebeichtet haben soll, die VP 01 aus dem Spiel zu nehmen, sei von "ganz oben angeordnet", sagte bei seiner Vernehmung im U-Ausschuss des Bundestages Anfang Dezember ganz nebenbei den Satz: Laut LKA NRW sei Amri damals auf der Reise nach Berlin "verdeckt begleitet" worden. "Begleiten" wäre aber etwas anderes als "abhören".

In Hannover hatte sich Amri mit einem "Bilel" getroffen, wie die Polizei festhielt. Und später in Berlin in den Räumen des Landeskriminalamtes notierte eine Ermittlerin den Satz: "Den PIN-Code des Handys kannte Herr Bilel nicht genau." Sie habe sich nur verschrieben, mit "Herr Bilel" sei Amri gemeint gewesen, erklärte sie auf Nachfrage im U-Ausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, was es mit diesem Satz auf sich habe.

Was, wenn jener "Bilel", bei dem man sofort an Bilel Ben Ammar denkt, zu Amri in den Bus gestiegen ist und jener "verdeckte Begleiter" war, von dem BKA-Mann Philipp K. sprach?

Der Anschlag am 19. Dezember 2016, dem zwölf Menschen zum Opfer fielen und der bis heute viele Verletzte und Traumatisierte hinterlassen hat, geschah aus einer Szene heraus, in der sich nominell gewaltbereite Islamisten, darunter deutsche Staatsbürger sowie schier unzählige V-Personen der verschiedensten Sicherheitsbehörden mischten. Dieses Biotop ist nicht aufgeklärt.

Rolle des Aussteigerprogramms?

Jetzt stießen die Abgeordneten im Ausschuss auf eine weitere, bisher unbekannte Struktur. Wie in der rechtsextremen Szene gibt es auch für die islamistische Szene eine Art Aussteigerprogramm. Die Kandidaten werden in einem sogenannten "Derad-Net" erfasst. "Derad" steht für "De-Radikalisierung". Geführt wird das Programm in Berlin von LKA, Verfassungsschutz (LfV) und einem externen "Verein" namens "Violence Prevention" (VPN). Wer sich genau hinter diesem Verein verbirgt, ist zur Zeit unklar.

Dem Verein komme dabei die Aufgabe zu, so der frühere Staatsschützer El-Saghir, den Kontakt zu den "deradikalisierenden" und aussteigewilligen Islamisten zu suchen. Das Kalkül: Wenn das nicht direkt über die Polizei geschieht, falle es den Angesprochenen leichter zu kooperieren. Wie im rechtsextremen Bereich handelt es sich aber um ein konspiratives Programm, in dem die Kandidaten mit Legenden arbeiten und das sie vor ihren Komplizen geheim halten müssen. Ihr Status ist vergleichbar dem von V-Personen.

Auf der Liste des "Derad-Netzes" taucht nun ein Name auf, den man nicht unbedingt erwartet hätte: Magomed-Ali Ch. Er muss seit Mai 2019 zweimal in der Woche auf der Anklagebank des Kammergerichtes Berlin Platz nehmen, weil er eine staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben soll. Ch. wird außerdem verdächtigt, zusammen mit Clement B. und Anis Amri einen Sprengstoffanschlag auf das Gesundbrunnen-Einkaufscenter in Berlin geplant zu haben. Ch. war einer der führenden Köpfe in der radikalen Fussilet-Moschee in Berlin, lange bevor Amri in der Stadt auftauchte. Und dieser angebliche Top-Terrorist soll nun in Wahrheit als Aussteiger, der konspirativen Umgang mit den Behörden pflegt, vorgesehen worden sein? Das ist mehr als erklärungsbedürftig.

Kurz vor dem Anschlag soll Amri, so die Ermittler, die Fussilet-Moschee aufgesucht haben. Bevor er nach einer halben Stunde wieder herauskam, verließ ein anderer Mann die Einrichtung. "Wer war dieser Mann?", wollte der Ausschuss wissen. Der frühere Islamisten-Ermittler El-Saghir erklärte, er wisse es nicht. Die Art und Weise, wie er es sagte, nämlich sehr leise, machte seine Antwort nicht überzeugend. Überhaupt blieb er, immerhin einmal zweiter Staatsschützer der Hauptstadt, viele Antworten schuldig. Darin ähnelte sein Auftritt dem seiner Ex-Chefin Jutta Porzucek im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses.

El-Saghir verließ Ende Juli 2016 den Staatsschutz. Zur Zeit des Anschlags arbeitete er bereits in der LKA-Abteilung für operative Einsätze von Spezialkräften. Einen Auftrag, an jenem 19. Dezember 2016 etwa nach Amri oder anderen verdächtigen Islamisten zu suchen, habe seine Abteilung nicht bekommen, erklärte er.

Am Ende des Sitzungstages kam es vor den Türen des Paul-Löbe-Hauses noch zu einer bemerkenswerten Szene. Ein Anschlagsopfer führte ein langes und intensives Gespräch mit dem ranghohen Polizeibeamten, der etwa fünf Stunden als Zeuge vernommen worden war und viele Antworten schuldig blieb. Dann verabschiedete der sich mit einer langen Umarmung von dem Mann, der auf dem Breitscheidplatz fast sein Leben verloren hätte. Es wirkte, als wolle der Polizeibeamte mit einer Geste sagen, was er öffentlich mit Worten nicht sagen kann oder will.