Nordsyrien: Keine internationale humanitäre Hilfe in Sicht

Archivbild: Angriffe auf Tall Abyad/Gire Spi im Oktober 2019. Foto: Orhan Erkılıç/gemeinfrei

Der Krieg der Türkei gegen die kurdische Selbstverwaltung: 300.000 Binnenflüchtlinge, Bedrohung durch IS-Schläferzellen und den von der Türkei finanzierten Dschihadistenmilizen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Krieg der Türkei gegen die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat die humanitäre Lage weiter verschärft. Der US-Kongress bescheinigt der Türkei Kriegsverbrechen durch den Einsatz von Phosphorbomben. Doch für die Geflüchteten oder verletzten Zivilisten ist Hilfe von den europäischen Institutionen nicht in Sicht.

Die Region muss zu den 300.000 Binnenflüchtlingen, die ihnen die Türkei durch die Besetzung Afrins 2018 und durch die Besetzung von Tall Abyad (kurdisch: Gire Spi) und Ra's al-'Ain (kurdisch: Serekaniye) seit Oktober 2019 beschert hat, auch die über 70.000 inhaftierten IS-Gefangenen versorgen. Gleichzeitig ist sie ständig von IS-Schläferzellen und den von der Türkei finanzierten Dschihadistenmilizen bedroht. Internationale Hilfe wird nicht gewährt. NGOs, Kirchen, Kommunen und Vereine versuchen zu helfen, können aber die riesigen Bedarfe nicht im Geringsten abdecken.

Die Solidarität mit den Menschen in Nordsyrien in der Bevölkerung Deutschlands ist groß. Verschiedenste Vereine, politische Gruppen und Organisationen, Künstler und Wissenschaftler versuchen mit Kundgebungen, Theateraufführungen, Ausstellungen oder Veranstaltungen die Öffentlichkeit zu informieren. Da die Bundesregierung nach wie vor beim Thema Nordsyrien die drei Affen spielt - "nichts sehen, hören, sagen" - ist das Thema auch in unseren Printmedien kaum präsent.

Leider finden hierzulande auch kurdische Medien und Nachrichtenagenturen, die über direkte Kontakte in die Region verfügen und eigene Korrespondenten vor Ort haben, kaum Beachtung. Warum ist das so?

Zum einen will man es sich nicht mit Erdogan und der Bundesregierung verscherzen. Für Erdogan sind die kurdischen Nachrichtenagenturen "PKK-Propaganda" und die Bundesregierung macht sich diese Haltung zu eigen, weil sich die kurdischen Medien nicht innerhalb des Framings "die PKK ist eine Terrororganisation" bewegen. In der Türkei akkreditierte deutsche Journalisten und Journalistinnen fürchten den Verlust ihrer Akkreditierung und blasen ins gleiche Horn. Objektive Berichterstattung geht anders.

Zum anderen sind seit dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien kaum noch internationale Journalisten in der Region. Vor der Invasion der Türkei haben viele Journalisten über den Nordirak den Grenzübergang Semalka ohne ein syrisches Visum passiert, das vom Assad-Regime nicht zu bekommen war. Auch Assad hat kein Interesse daran, dass sich ausländische Journalisten ein eigenes Bild von der Region machen. Nur die Selbstverwaltung ist daran interessiert, dass die internationale Öffentlichkeit gut informiert wird und bemüht sich deshalb, möglichst vielen Journalisten Zugang nach Nordsyrien zu verschaffen.

Durch die Invasion der Türkei und die neuerliche Präsenz des syrischen Militärs in der Region mussten allerdings Journalisten befürchten, bei syrischen Militärkontrollen wegen illegaler Einreise nach Syrien festgenommen zu werden. Das galt auch für die Mitarbeiter internationaler NGOs wie zum Beispiel von Medico International. Auch wegen der fortdauernden Kriegshandlungen - am Samstag flog das türkische Militär wieder Luftangriffe auf ein Dorf nahe der Stadt Ain Issa - zogen die meisten internationalen NGOs ihr Personal aus Nordsyrien vorübergehend ab.

Bis heute genehmigt die syrische Regierung den UN-Hilfsorganisationen nicht die offizielle Einreise nach Nordsyrien. Dadurch sind die Behörden der Selbstverwaltung mit der Organisation der täglichen und medizinischen Versorgung der Flüchtlinge sowie der Versorgung der IS-Gefangenenlager allein gelassen worden.

Humanitäre Katastrophe bahnt sich an

Mit dem Einbruch des Winters bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Kinder in den Flüchtlingscamps laufen barfuß durch den Matsch. Babys sitzen in Pappkartons, um sie vor den sinkenden Temperaturen zu schützen. Wegen der Zerstörung der Wasserversorgung durch die Türkei müssen Tankwagen aufwändig Trinkwasser in die Geflüchteten-Camps transportieren. Durch die Beschlagnahmung der Getreidesilos in Ra's al-'Ain/Serekaniye und Tall Abyad/Gire Spi gibt es auch nicht genug Mehl zum Backen von Brot.

Mehr als 300.000 Binnenflüchtlinge brauchen dringend eine Winterausstattung. Wenn man - ohne die ebenfalls notwendige Unterkunft - 200 Euro für die Ausrüstung eines einzigen Flüchtlings mit Schlafmatte, Schlafsack und Winterkleidung kalkuliert, gibt es für die Flüchtlingsversorgung derzeit einen Finanzbedarf von mindestens 6 Millionen Euro. Ohne internationale Hilfe der EU und der Vereinten Nationen ist das nicht zu bewältigen.

Die stellvertretende Nothilfekoordinatorin der Vereinten Nationen, Ursula Müller, bezifferte in einem Briefing an den UN-Sicherheitsrat zur humanitären Situation in Nord-Ost-Syrien die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, gar auf 1,8 Millionen. Ein schneller und ungehinderter Zugang für die humanitäre Hilfe sei im Nordosten unerlässlich. Die Schnellstraße M4, die die Türkei mit ihren Dschihadisten-Truppen immer wieder angreift, müsse für humanitäre Hilfsgüter offenbleiben, forderte Müller. Die Situation im Camp Hol erfordere ebenfalls eine "engagierte und dringende Reaktion", 94 Prozent der ca. 70.000 Menschen im Lager seien Frauen und Kinder.

Der UNHCR definiert Geflüchtete als Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Krieg oder Gewalt zur Flucht aus ihrem Land gezwungen wurden. Eine binnenvertriebene Person ist jemand, die aus den gleichen Gründen zur Flucht gezwungen wird, aber keine internationale Grenze überschreitet. Durch die türkische Invasion in Nordsyrien wurden Hunderttausende Menschen zu Flüchtlingen und Binnenvertriebenen - vor allem Frauen und Kinder.

Berichte über die Situation Tausender binnenvertriebener Frauen und Kinder, die 2018 aus Afrin in die Region Sheba geflohen sind, zeigen, dass die Bedingungen bezüglich Unterbringung, Sicherheit, Gesundheit und Bildung deutlich unter den von UNICEF und den Vereinten Nationen festgelegten akzeptablen Richtwerten liegen.

Frauen und Kinder besonders gefährdet

Das Rojava Information Center hat ein Dossier herausgegeben, in dem der Krieg der Türkei gegen die nordsyrische Zivilbevölkerung dokumentiert wird. Besonders betroffen sind demnach Frauen, Kinder und ältere Menschen. Es gibt weltweit Untersuchungen darüber, dass Frauen in einem bewaffneten Konflikt viel stärker den verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt sind als Männer.

Die Frauen in den Fraueneinheiten der Syrian Democratic Forces (SDF) werden von den türkischen Militärs und ihren dschihadistischen Proxytruppen als Angriff auf ihr patriarchalisches Weltbild betrachtet. Frauen aus der Zivilgesellschaft ohne Kopftuch bzw. Verschleierung werden als Prostituierte betrachtet, Vergewaltigungen und Verschleppungen in Serekaniye und Gire Spi sind an der Tagesordnung.

Die Frauenstiftung WJAR hat einen Bericht zur Lage der Frauen und Kinder seit Erdogans Invasion veröffentlicht, der eigentlich aufrütteln sollte: Durch die türkischen Angriffe auf die Infrastruktur, wie z.B. auf die Wasserstation Alouk, herrscht Nahrungsmittel- und Wasserknappheit. Da es kaum eine Gesundheitsversorgung gibt, besteht in den Geflüchtetencamps eine hohe Ansteckungsgefahr mit verschiedensten Krankheiten.

Wegen der auf der Flucht erlebten Traumata zeigen viele Kinder Anzeichen von psychischen Krankheiten. Hilfe ist mangels Bildung, Beratung oder Kinderförderung nicht in Sicht. Das von der Selbstverwaltung errichtete Washokani-Camp bei Hasaka beherbergt den Großteil der vertriebenen Menschen aus den Regionen Serekaniye und Tel Temer.

In diesem Camp leben etwa 80% Frauen und Kinder. Diese Frauen sind einem viel größeren psychischen Stress ausgesetzt als Männer, da sie Angst vor sexueller Gewalt durch die Türken und Dschihadisten haben und obendrein alleine für die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder sorgen müssen.