Es war einmal Weihnachten

Bild: Rodolfo Marques / Unsplash

Ist eine Welt ohne Weihnachten denkbar?

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Wird es eines Tages kein Weihnachten mehr geben? Wie sieht die Welt aus, in der dieser Festtag nur noch ein Schatten ist, eine Ruine der Erinnerung an unsere Zeit?

Der Philosoph Walter Benjamin stellt in seiner Schrift: "Über den Begriff der Geschichte" (1935) die Feiertage als besondere Tage des Kalenders zur Diskussion:

"Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren."

Feiertage sind Tage des Eingedenkens. Dies wird uns an Neujahr besonders leicht bewusst. In den Jahresrückblicken der Medien und den Horoskopen für das neue Jahr stehen sich Montagen vergangener Momente und Spekulationen über die mögliche Zukunft gegenüber. Dazwischen finden wir uns in Reflexion darüber, was war und sein könnte.

Die Uhr springt, wie an jedem anderen Tag von 23:59 auf 00:00. Doch an diesem besonderen Tag geschieht dies nicht beiläufig im ruhigen bedeutungslosen Gang der Zeiger, sondern Jubel, Böller, Raketen, Tränen der Freude und der Trauer brechen über uns herein.

Die Zeit überwindet so die numerische Gleichförmigkeit der Uhr und wird zum besonderen Moment. Dieser Moment, als Zäsur einer neuen für Wünsche und Hoffnungen offenen Epoche verstanden, steht im Gegensatz zum gleichförmigen Ablauf des Alltags. Wenn wir also an Neujahr dem Lauf der Dinge in der Zeit und somit unserer Reise auf einer immer kleiner werdenden Erde um die Sonne gedenken, welches Eingedenken bewahrt dann den Ursprung der Weihnachtstage auf?

Die Weihnachtsutopie

Jenseits aller Religiosität gilt Weihnachten auch durch seine popkulturelle Stilisierung als ein Feiertag der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir gedenken und beschenken Freunde und Familie. Menschen, die uns wichtig sind, wünschen wir in unserer Nähe, wollen sie glücklich sehen und gemeinsam dankbar dafür sein, dass wir Geborgenheit und Liebe gefunden haben.

Weihnachten zeigt allerdings auch eine andere Seite. Es steht stereotypisch für die Kommerzialisierung kultureller Rituale. Von langer Hand geplant und mit größtmöglicher Sorgfalt durchgeführt, treibt der Handel seinen Absatz alljährlich in neue Rekordhöhen.

Hilft uns das Kaufen und Konsumieren die Nähe und Geborgenheit zu finden, für die dieser Tag steht? Der abgehackte Baum in der Ecke, die Lichterketten an den Fenstern, der Glitzer und Zuckerguss auf allen belanglosen Nettigkeiten? Sind sie Zeichen unseres Glücks und der Freude, die wir im Miteinander finden oder bereits Moos und Efeu, die sich langsam einer kulturellen Ruine bemächtigen?

Im Exposé "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" (1935) zu seinem unvollendet gebliebenen "Passagen-Werk" beginnt Walter Benjamin nach den Ruinen des 19. Jahrhunderts zu fragen. In ihnen, den Überbleibseln einer Zeit, die an den Fortschritt glaubte, von einer besseren Welt träumte, um letztlich in die Schrecken des Krieges abzustürzen, sucht Benjamin Antworten auf die Frage danach, was nach dem industriellen Kapitalismus und dessen Warenwirtschaft kommt.

Seinen Fokus richtet er dabei nicht auf die Erfolge dieser Zeit, sondern hinterfragt die Vergänglichkeit ihrer Wunschträume und Illusionen. Er erzählt von den Phantasmagorien der Einkaufspassagen und Weltausstellungen, die bereits im frühen 20. Jahrhundert erahnen ließen, dass die Versprechen einer besseren Welt allzu leicht auf Treibsand gebaut werden.

Der Zahn der Zeit

Doch, zurück zu Weihnachten, zwischen Häufchen von zerrissenem Geschenkpapier, Bergen von Essensresten und an Straßenecken vereinsamten Weihnachtsbäumen, welcher historische Wandel zeigt sich dort? Ist es die Brüchigkeit der oberflächlichen Verpackung zwischenmenschlichen Austausches? Die Wertlosigkeit dessen, was auf gemeinsame Exzesse und Dekadenz folgt? Das lieblose Entsorgen der Symbole einzigartiger Momente der Festlichkeit und Geborgenheit?

Was sind uns Nähe und Geborgenheit wert, in einer Welt beständigen Strebens hin zu neuen Lockungen und Wünschen? Wäre es ein ungerechtes Urteil zukünftiger Generationen über unsere Zeit, dass dieses Weihnachten aus guten Gründen der Vergangenheit angehört?

Fragen, deren Antwort offen bleiben muss, deren spekulative Qualität nur ein Hinweis sein soll, auf die Gefahren einer Zeit, die ihre Momente des Eingedenkens in reizende Handlungen des Konsums verkehrt hat. Dabei steht nicht nur die These eines beständigen Wandels kultureller Praktiken und Ideologien im Raum, sondern eben auch der Hinweis darauf, dass wir inmitten unserer größten Wunschträume die Ruinen der Zukunft bauen.

Auf einen Tag, an dem wir gekaufte Massenwaren schenken, können wir verzichten und so der Ausbeutung von Mensch und Natur etwas Freizeit gönnen. Wir könnten also diese Art von Weihnachten hinter uns lassen.

Doch den Tag, an dem wir gemeinsam Nähe und Geborgenheit feiern, an dem wir für die Liebe in dieser Welt dankbar sind, können wir auch ihn hinter uns lassen? Wollen wir es riskieren, dass das an Weihnachten alljährlich wiederholte Eingedenken in den Ruinen einer Epoche, die immer noch versucht ihr Glück zu kaufen, verschüttet wird?