Krise des Völkerrechts?

F-35-Kampfflugzeug. Bild: DoD

Was als Legitimationsproblem oder Krise des Völkerrechts beklagt wird, ist in Wahrheit eine Krise des internationalen Systems und der politischen Kultur der Staaten - Teil 2

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Hatte sich Russland noch ebenso wie Deutschland der Stimme bei der Resolution 1973 enthalten, so war es unmittelbar darauf nicht mehr zu einer Intervention in Syrien (nach den dort ausbrechenden Unruhen in Daraa) bereit. Nicht ohne Grund warf es der NATO Missbrauch des UNO-Mandates vor, da sie sich in Libyen nicht auf die Errichtung einer Flugverbotszone und die Sicherheit der Zivilbevölkerung beschränkte, sondern von Anfang an einen regime change geplant und mit der Ermordung Gaddafis erreicht hatte.

Syrien - "unwillig und unfähig"

Die USA haben ihren militärischen Einsatz gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien mit einer neuen Doktrin gerechtfertigt:

Staaten müssen in der Lage sein, in Übereinstimmung mit dem unveräußerlichen Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, wie es in Art. 51 UN-Charta steht, sich selbst in Situationen wie dieser, zu verteidigen, in denen die Regierung eines Staates, von dem die Bedrohung ausgeht, unwillig oder unfähig ist, die Benutzung ihres Territoriums für einen Angriff zu verhindern. Das Syrische Regime hat gezeigt, dass es nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese "safe havens" wirksam zu bekämpfen. Deshalb haben die Vereinigten Staaten notwendige und angemessene militärische Maßnahmen in Syrien unternommen, um die weiter bestehende Bedrohung des Irak durch ISIL zu unterbinden, die irakische Bevölkerung vor weiteren Angriffen zu schützen und den irakischen Streitkräften zu helfen, die Kontrolle über die irakischen Grenzen zurückzugewinnen.

Samantha Power

Diese neue Doktrin des "unable and unwilling" beruft sich auf ein kollektives Selbstverteidigungsrecht gegen den IS zugunsten des Irak und hat bereits weite Resonanz aber auch Kritik in der Literatur erhalten.1 Die Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages haben sich zur Begründung des Einsatzes der Tornado-Flugzeuge in Syrien der neuen Doktrin angeschlossen.2 Zur Abstützung berufen sie sich auf die Resolution 2249 des UN-Sicherheitsrats vom 20. November 2015, die Frankreich eingebracht hatte, um die militärischen Interventionen der Staaten auch gegen den Willen der syrischen Regierung völkerrechtlich zu rechtfertigen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Krieg nach innen, Krieg nach außen - und die Intellektuellen als Stütze der Gesellschaft?", herausgegeben von Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Jürgen Günther. Angesichts der immer mehr ausgeweiteten Kriege und ihrer politischen Rechtfertigung fragen die Autorinnen und Autoren nach der Verantwortung der Intellektuellen. Sie thematisieren die zunehmende und stärkere Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die ausgeweitete deutsche Waffenproduktion und bieten Ansätze, diese in ihren Zusammenhängen, ihren Ursachen und Auswirkungen zu verstehen.

Man ist sich allerdings darin einig, dass die Resolution, die in Punkt 5 die Staaten auffordert, "alle notwendigen Maßnahmen […] in Syrien und Irak zu ergreifen, […] um terroristische Akte vor allem des ISIL zu verhindern und zu unterdrücken", kein Mandat für kollektive Militäraktionen auf syrischem Gebiet gibt. Dennoch wollen die Dienste die Resolution so deuten, dass sie sogar ein präventives Selbstverteidigungsrecht gegen die ständige Bedrohung durch den IS ermöglicht, auch "ohne dabei auf ein (weiteres) Zustimmungsrecht seitens der irakischen oder syrischen Regierung rekurrieren zu müssen."3

Sollte sich die "Staatenpraxis verfestigen", das heißt bei zukünftigen Interventionen ohne ein Mandat des Sicherheitsrats und die Zustimmung des betroffenen Staates, so könnte darin sogar "eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Völkerrechts" liegen. Damit wären endlich die territoriale Integrität und Souveränität keine Barriere mehr für jederzeit begründbare Selbstverteidigungsinterventionen - eine Auflösung der territorialen Integrität, die Claus Kreß ohnehin bei Staaten, deren Organe Völkerrechtsverbrechen begehen, vorschlägt.

Aber abgesehen davon, dass diese Doktrin völkerrechtlich äußerst umstritten ist, da sie faktisch die Souveränität nur der schwächeren Staaten aushöhlt und nicht als allgemein anerkannt gelten kann4, liegen auch die tatsächlichen Voraussetzungen nicht vor. Nicht Syrien ist unwillig, den IS zu bekämpfen, sondern die USA und mit ihnen die Verbündeten weigern sich, mit Präsident Assad überhaupt über die Bekämpfung des Terrors zu sprechen.

Die syrische Regierung hat nach den Mitteilungen von Großbritannien und Australien gegenüber dem UN-Sicherheitsrat vom 8. und 9. September 2015, dass sie militärische Aktionen gegen den IS auf syrischem Territorium beginnen, in einem Brief5 eindeutig erklärt, dass diese Aktivitäten gegen internationales Recht verstoßen und sie Eingriffe fremder Staaten in ihre Souveränität nicht dulden werde. Hingegen hat sie der russischen Regierung ihre Zustimmung zum gemeinsamen Kampf gegen den IS gegeben und damit eindeutig ihren Willen zur Abwehr bekundet. Dass sie nicht in der Lage war, den IS zu besiegen, ist kaum eine Kritik, die Syrien alleine trifft, sondern richtet sich an alle Staaten, die den Kampf gegen den IS aufgenommen haben. Man kann auch nicht davon ausgehen, wie es mitunter jedoch getan wird6, dass die Bombardierung von IS-Stellungen im Interesse Syriens liege, und man deshalb von einer stillschweigenden Zustimmung ausgehen könne.

Die USA und ihre Verbündeten haben ausreichend öffentlich und wiederholt verkündet, das Assad-Regime beseitigen zu wollen, so dass sie sich nun kaum auf eine stillschweigende Zustimmung dieser Regierung berufen können, Bombardierungen im ganzen Land ohne Abstimmung mit Damaskus vornehmen zu können. In jüngerer Zeit haben sie sogar syrische Truppen angegriffen, die sich ihrem Stützpunkt im Osten des Landes näherten.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Krieg nach innen, Krieg nach außen - und die Intellektuellen als Stütze der Gesellschaft?". Angesichts der immer mehr ausgeweiteten Kriege und ihrer politischen Rechtfertigung fragen die Autorinnen und Autoren nach der Verantwortung der Intellektuellen. Sie thematisieren die zunehmende und stärkere Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die ausgeweitete deutsche Waffenproduktion und bieten Ansätze, diese in ihren Zusammenhängen, ihren Ursachen und Auswirkungen zu verstehen.

Schließlich geht auch ein letzter Versuch fehl, die militärischen Operationen in jenen Gebieten zu rechtfertigen, in denen der IS sein Kalifat errichtet und damit faktisch die Souveränität Syriens beseitigt hat. Ein Staat, ob unter Besatzung oder als sogenannter "failed state", verliert nicht den Schutz seiner territorialen Integrität. Durch eine rechtswidrige Okkupation wird ein Staat nicht zu einem offenen, seiner Grenzen beraubten Gebiet, in das jeder andere Staat nach Belieben eindringen kann. Zudem hat der IS seine territoriale Herrschaft in Syrien weitgehend wieder verloren und ist auf Gebiete wie Idlib im Nordwesten zurückgedrängt worden, die ihm für die Reste seiner Kämpfer und Familien von der Regierung in Damaskus eingeräumt worden sind.7

Der ganze argumentative Aufwand ist schlicht ein weiterer Versuch, das strenge Gewaltverbot der UN-Charta aufzuweichen, die militärische Intervention in fremden Staaten auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats zu ermöglichen und durch die Bildung neuen Völkergewohnheitsrechtes bestandfest zu machen. Es ist einsichtig, dass dieser Weg nur für die Staaten interessant ist, die über das militärische Potential verfügen, in schwächere Staaten einzufallen. Die Befürworter dieser neuen Doktrin kommen denn auch alle aus den Staaten des atlantischen Bündnisraumes.

Die beiden Raketenangriffe der USA im April 2017 auf Al Sheirat und der Koalition aus USA, Frankreich und Großbritannien im April 2018 auf Duma und Homs haben die Diskussion um die Rechtfertigung erneut entfacht. Da auch hier weder ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vorlag und Syrien die Staaten nicht angegriffen hatte, war der Verstoß gegen das Völkerrecht so offensichtlich, dass zumindest die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages das eingestehen mussten8, während die Bundesregierung die Angriffe als "notwendig und angemessen" unterstützte.9

Die Trump-Administration enthielt sich, ebenso wie Frankreich, einer völkerrechtlichen Begründung der Angriffe, bekam aber weite Unterstützung im Lande. Der prominente Journalist Fareed Zakaria pries den Angriff im April 2107 als "großen Moment" und verkündete: "Vergangene Nacht wurde Donald Trump der Präsident der USA." Und Ann-Marie Slaughter, Präsidentin der "New American Foundation" und ehemalige Direktorin für politische Planung in der Obama-Administration schrieb zum Angriff im April 2018: "Richtig gehandelt. Das wird zwar weder den Krieg beenden noch die syrische Bevölkerung vor vielen anderen Schrecken bewahren, nach internationalem Recht ist es illegal. Aber schließlich zieht es irgendwie eine Linie und sagt, genug."10 Anders ausgedrückt: illegal aber legitim - eine Formel, die immer mehr um sich greift und die fehlende rechtliche Begründung ersetzen muss.11

Allein Großbritannien hat in einem "Policy Paper" vom 14. April 2018 versucht, den Angriff juristisch zu rechtfertigen: Das Völkerrecht erlaube, in Ausnahmefällen Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichem Leiden abzuhelfen. Diese extreme humanitäre Notlage müsse nur international anerkannt sein, es dürfe keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben, die überdies notwendig und verhältnismäßig sein müsse.

Diese "extreme humanitäre Notlage" sah die Regierung durch die beiden Giftgaseinsätze in Chan Schaichun und Duma, sowie durch die Gefahr weiterer Giftgasangriffe ausgelöst. Sie versuchte also, die alte Rechtfertigung durch die "humanitäre Intervention" hervorzuholen, die das Foreign Office schon 1986 verworfen hatte. Der Einsatz von Giftgas ist in jedem Fall eine schwere Verletzung des Völkerrechts. Aber selbst, wenn man unterstellt, dass die syrische Regierung für beide Giftgasanschläge verantwortlich ist, wie es die OPCW-Kommission für den Anschlag im April 2017 tut12, können die Raketenangriffe ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats völkerrechtlich nicht legitimiert werden.

Zwar gibt es in der Literatur Stimmen, die "humanitäre Intervention" wiederzubeleben, um auch zukünftigen Angriffen den Makel des Verstoßes gegen das Völkerrecht zu nehmen13, ganz überwiegend wird dies jedoch abgelehnt.14 Es handelt sich um einen völkerrechtlich nicht zulässigen Vergeltungsschlag, wie bereits 1970 die UN-Generalversammlung in ihrer Friendly Relations Declaration von 1970 beschlossen hatte: "Die Staaten haben die Pflicht, Vergeltungsmaßnahmen, welche die Anwendung von Gewalt einschließen, zu unterlassen."15 So bleibt für die westlichen Mächte nur die zweifellos nicht angenehme und offen nie eingestandene Erkenntnis, dass allein Russland und der Iran mit der Zustimmung der Regierung in Damaskus eine völkerrechtliche Legitimation für ihr militärisches Eingreifen in Syrien auf der Seite der Regierung haben.16

Überblicken wir die verschiedenen Argumentationen, Konzepte und Doktrinen, mit denen das Gewaltverbot des Artikels zwei, Ziffer vier der UN- Charta geschwächt und die Ausnahme der Artikel 39, 42 und 51 erweitert und ergänzt werden soll - von der "humanitären Intervention" über die "responsibility to protect", die präemptive Verteidigung bis zur "unable and unwilling"-Doktrin -, so handelt es sich zwar um ein breites Angebot legitimierender Eingriffsermächtigungen, von denen aber keine in der Wissenschaft als völkerrechtlich belastbar anerkannt wird.

Die Hoffnungen, dass sich die eine oder andere Variante bereits als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt hätte, haben sich nicht erfüllt. Denn zur Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht gehört nicht nur eine lang anhaltende Praxis der Staaten, sondern eine Praxis, die auch in der Überzeugung einer bestehenden Rechtsregel ausgeübt werden muss. Dies mag den USA angesichts ihrer historisch weit ausgreifenden Interventionspraxis so erscheinen, nicht jedoch den zahlreichen Staaten, die Opfer dieser Interventionen geworden sind. Dieses Ungleichgewicht zwischen den wenigen, zu einer militärischen Intervention fähigen, und den zahlreichen, von derartigen Interventionen bedrohten, Staaten, lässt in diesen Fragen eine gemeinsame Rechtsüberzeugung ohnehin nicht aufkommen.

Haben diese Doktrinen also alle keine völkerrechtlich verbindliche Relevanz, so spielen sie bei der Legitimierung illegaler Praxis dennoch eine bedeutsame Rolle - illegal, aber legitim.17 Es ist nicht nur so, dass die Berufung auf die Legitimität des Angriffs die Staaten und ihre Rechtsberater über die Illegalität ihres Vorgehens hinwegtröstet, diese Rechtfertigungskonzepte werden insbesondere bei der Frage nach der Verantwortung für Akte der Aggression in Zukunft eine Rolle spielen.

Der Internationale Strafgerichtshof - zahnlose Justiz?

Eine der zentralen und immer wieder beklagten Schwächen des Völkerrechts ist das Fehlen einer Sanktionsgewalt, die die Durchsetzung und Einhaltung des Rechts garantiert. Zwar kann der UNO-Sicherheitsrat Maßnahmen gemäß Artikel 41 der UN-Charta ergreifen, um seinen Beschlüssen und dem Recht Wirksamkeit zu verleihen, doch sind sie an die Feststellung der Bedrohung oder des Bruchs des Friedens gemäß Artikel 39 gebunden und unterliegen dem Veto-Vorbehalt. Er hat jedoch in zwei außergewöhnlichen Fällen, der Intervention der NATO in Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda, zum Instrument des Gerichtsverfahrens als Mittel der Friedensstiftung und Rechtsdurchsetzung gegriffen. Die beiden Tribunale waren die Vorläufer des Internationalen Strafgerichthofs (IStGH) in Den Haag, der anders als die Tribunale nicht durch einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrats gegründet wurde, sondern auf vertraglicher Basis seit 2002 in Den Haag judiziert. Sein Vorbild waren die Tribunale von Nürnberg und Tokio.

Das materielle Strafrecht, auf dem die Rechtsprechung des IStGH beruht, das Römische Statut von 1998, ist den Nürnberger Prinzipien von 1946 nachgebildet. Es umfasst die Tatbestände der "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" sowie, neu hinzugekommen, den "Völkermord". Der schon in Nürnberg umstrittene Tatbestand des "Angriffskrieges" taucht im Römischen Statut als "Aggression" wieder auf, ohne allerdings bisher angewandt worden zu sein. Es gelang erst 2010 auf der ersten Überprüfungskonferenz in Kampala, sich auf eine Definition dessen zu einigen, was Aggression ist:

Im Sinne dieses Statuts bedeutet ›Verbrechen der Aggression‹ die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.

Zugleich einigte man sich auf den 1. Juli 2018 als Stichtag, von dem an die "Aggression" verfolgt werden kann.

Doch haben die Staaten die Definition so gefasst, dass ihr jede Schärfe und Wirksamkeit genommen ist. Die Angriffshandlung muss eine "offenkundige Verletzung der Charta" darstellen, um als Verbrechen vom IStGH verfolgt werden zu können. "Offenkundig" ist die Verletzung der Charta jedoch dann nicht, wenn sie bestritten wird. Hinter dieser Formulierung steht die "nicht nur amerikanische Befürchtung […], dass der Tatbestand des Angriffskrieges auch eine humanitäre Intervention kriminalisiere, wenn diese - wie etwa 1999 im Fall Kosovo - ohne eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat durchgeführt wird", teilt uns Claus Kreß mit18, der an der Konferenz in Kampala teilgenommen hat und die Befürchtung teilt. So enthält er sich zwar einer Bewertung des Raketenangriffs der USA auf den syrischen Luftwaffenstützpunkt Al Sheirat im April 2017, berichtet jedoch, dass der Angriff von den USA als "völlig gerechtfertigt" erklärt wurde und "eine deutlich größere Zahl von Staaten von einer solchen Verurteilung ausdrücklich abgesehen" habe.

Die "wohlwollende deutsch-französische Reaktion auf den amerikanischen Gewalteinsatz", die den Angriff als "nachvollziehbar" entschuldigt hatte, erklärt er damit, "dass Staaten Rechtsansprüche im Wissen um völkerrechtliche Grautöne und politische Sensibilitäten nicht stets in lehrbuchartiger Klarheit artikulieren." Die Konsequenz jedoch ist klar: der Raketenangriff ist keine "offenkundige Verletzung der UNO-Charta" und also straffrei. Kreß ist durchaus optimistisch, dass dies auch zukünftig bei vergleichbaren Angriffen so sein wird, denn

nach alldem darf es als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden, dass der Internationale Strafgerichtshof Staatenlenker, die sich zukünftig in einer extremen Notlage auch ohne UN-Mandat für eine humanitäre Intervention entscheiden sollten, nicht mit einem internationalen Strafverfahren überziehen würde […]. Überzeugende Gründe sprechen dafür, dass die Entscheidung für eine humanitäre Intervention diese Schwelle zu einem Verbrechen der Aggression nicht überschreitet.

So wie Großbritannien die Raketen auf Al Sheirat als "humanitäre Intervention" deklariert hat, werden auch in Zukunft "extreme Notlagen" gefunden werden, um die militärische Intervention "humanitär" zu rechtfertigen und der Strafverfolgung zu entziehen. Damit ist auch dieser Versuch, mittels gerichtlicher Entscheidung die Durchsetzungsmöglichkeiten des Völkerrechts zu erhöhen, neutralisiert.

Krise des Völkerrechts?

Blicken wir zurück auf die erheblichen Anstrengungen, die gemacht werden, das Gewaltmonopol der UNO zu lockern, und betrachten wir die Varianten der Ausnahmen, die dabei entwickelt worden sind, so festigt sich der Eindruck, dass auch das Völkerrecht zunehmend zu einem Instrument der Kriegsführung gemacht wird. Die ursprüngliche Aufgabe, Frieden zu schaffen und zu garantieren, ist in den Hintergrund getreten. Der Untergang der Sowjetunion und die Auflösung des "Ostblocks" hat nicht die erhoffte Friedensdividende im Geiste der UN-Charta erbracht, sondern eine Renaissance des Krieges - unmittelbar danach begonnen mit dem Überfall auf Jugoslawien.

Die Neuausrichtung der Welt an den Handels- und Rohstoffinteressen der transnationalen Konzerne gelingt immer weniger mit Mitteln völkerrechtlicher Verträge und der Institutionen der UNO. Brzezinskis’ "Hegemonie neuen Typs", "die Ausübung globaler Herrschaft" wird heute weniger durch die "Dynamik der amerikanischen Wirtschaft" gesichert, wie Brzezinski es noch 1997 prognostizierte19, als durch ungehemmte Aufrüstung und den Einsatz militärischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Völkerrecht. Schon US-Präsident Wilson hatte sich in seiner Hoffnung getäuscht, mit dem Völkerbund eine Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen etablieren zu können. Ohne das Gewicht einer politischen und militärischen Gegenmacht scheint auch das Recht keine Chance zu haben. Dies ist offensichtlich die Erkenntnis gewesen, die Nord-Korea zu seiner Atomrüstung getrieben hat: Frieden durch Abschreckung statt durch Recht.

Doch bleibt die immer wieder gestellte Frage, ob, wann und wie einer akut existenzbedrohten Zivilbevölkerung mit militärischen Mitteln geholfen werden kann, wenn der UNO-Sicherheitsrat zu keiner Entscheidung kommt, unbeantwortet. Sie lässt sich auch nicht am Beispiel der militärischen Interventionen in Jugoslawien, Irak, Libyen und Syrien diskutieren, denn in allen vier Fällen handelte es sich in Wahrheit nicht um jene behaupteten äußersten Notfälle. War in Jugoslawien die "humanitäre Katastrophe" umstritten, so die Chemieeinsätze, die angeblich die syrische Regierung zu verantworten hat. Der Angriff auf den Irak beruhte auf einer Lüge und die Beseitigung Gaddafis konnte sich nicht darauf berufen, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Dringlich bleibt die Frage allerdings in den Fällen, in denen aus unterschiedlichen Gründen nicht interveniert wurde, den Völkermorden in Kampuchea und Ruanda.20 Nicht interveniert wurde auch in Israel, trotz der verheerenden und völkerrechtswidrigen Kriege im Gaza-Streifen 2008/09, 2012, 2014 und den jüngsten Massakern während des Rückkehrmarsches in Gaza. Wäre es nicht Israel gewesen, hätte die "responsibility to protect" durchaus die Rechtfertigung für eine "humanitäre Intervention" mit dem Mandat des Sicherheitsrats gegeben. Dass eine militärische Intervention unterblieben ist, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dass jedoch nicht einmal politische oder ökonomische Sanktionen - ein durchaus beliebtes Mittel gegen andere Staaten - erwogen wurden, weist ein weiteres Mal auf die Heuchelei und Doppelbödigkeit der Diskussion, wenn es um die Begründung von Interventionen geht.

Die "Internationale Kommission über Intervention und staatliche Souveränität" (ICISS) hat seinerzeit selbst zwei Alternativen diskutiert, die greifen könnten, wenn der Sicherheitsrat seiner "Schutzverantwortung" nicht nachkommt. Die erste Alternative bezieht sich auf die bekannte "Uniting for Peace"-Resolution 377 V von 1950, die genau für die Situationen geschaffen wurde, in denen der Sicherheitsrat handlungsunfähig ist. Sie ermöglicht es der Generalversammlung, in einer Notsondersitzung über die notwendigen Maßnahmen zu entscheiden.21

Ob es für die Generalversammlung allerdings leichter ist, eine Zweidrittel Mehrheit für eine Entscheidung über einen Militäreinsatz im Plenum zu erhalten, ist zweifelhaft. Die USA hatten zum Beispiel während der zähen Beratungen im Sicherheitsrat über ein Mandat für eine Intervention gegen den Irak im März 2003 erfolgreich eine Initiative kleinerer Staaten verhindert, eine Sondersitzung der Generalversammlung gemäß Resolution 377 V (1950) einzuberufen, um dort über den Angriff gegen Bagdad abzustimmen. Die USA hätten dort nur eine deutliche Absage für ihre Interventionspläne zu erwarten gehabt und konnten bereits mit dem Hinweis, dass diese Initiative überhaupt nicht in ihrem Interesse sei, die Initiatoren abschrecken.

Die zweite Alternative wären regionale Organisationen, die in vielen Fällen aufgrund ihrer nachbarschaftlichen Nähe zu der problematischen Zone viel besser für eine Intervention geeignet seien.22 Artikel 52 UN-Charta gewährt ihnen eine gewisse Flexibilität und Artikel 53 ermöglicht ihnen sogar, Zwangsmaßnahmen durchzuführen - allerdings nur unter der Autorität des Sicherheitsrats: "Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden", heißt es in Artikel 53, Absatz 1, Seite 2. Einige Staaten der ECOWAS hatten ihre militärischen Interventionen in Liberia und Sierra Leone 1997/98 allein auf eine Ermächtigung dieses Regionalsystems ohne Mandat der UNO gestützt. Würde ein solch eindeutiger Verstoß gegen die UN-Charta akzeptiert, hätte die NATO eine willkommene Möglichkeit der Selbstermächtigung nach Belieben. Da der Sicherheitsrat den Interventionen allerdings nachträglich zugestimmt hatte, sah die Kommission darin auch für die Zukunft einen gangbaren Weg.

Schließlich führen auch alle Überlegungen zur Beschränkung der Ausübung des Veto-Rechts im UN-Sicherheitsrat nicht zu dem erhofften "behutsamen Völkerrechtswandel". Weder eine Begründungspflicht bei Ausübung des Veto, noch ein Ausschluss bei Beteiligung an einem Konflikt oder die Unbeachtlichkeit eines Veto, wenn mit ihm die "subsidiäre Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft für akut existenzbedrohte Zivilbevölkerungen" verhindert würde23, hätten eine Chance bei den Veto-Mächten.

Es ist auch zweifelhaft, ob diese Operation am Veto für die Ziele der Friedensstiftung und des Friedenserhalts wirklich hilfreich sind. Selbst die Aufnahme einer eng begrenzten und klar definierten "humanitären Intervention" in die UN-Charta würde nicht die Zweidrittel der notwendigen Stimmen in der Generalversammlung erlangen, da die Furcht vor einem Missbrauch des Mandats durch die intervenierenden Staaten nach den Erfahrungen der letzten Jahre zu groß ist.

Was immer wieder als Legitimationsproblem oder Krise des Völkerrechts beklagt wird, ist in Wahrheit eine Krise des internationalen Systems und der politischen Kultur der Staaten. Die Fixierung auf das Völkerrecht und seine Verantwortung für den Einsatz militärischer Gewalt übersieht die vorgängige Frage, ob militärische Gewalt überhaupt ein geeignetes Mittel zur Friedensstiftung ist.

Die horrenden Zerstörungen, die die Kriege in Irak, Libyen, Syrien an den Menschen und Gesellschaften bis heute hinterlassen, haben die Zustimmung zu diesem Mittel der "Friedensstiftung" unter den Staaten nicht verstärkt. Im Gegenteil, der Krieg als "Mittel zum Frieden" bleibt weitgehend auf die Staaten beschränkt, deren Rüstungshaushalt und militärischer Apparat einen solchen Schritt überhaupt erlaubt und zu einer Alternative im Arsenal der politischen Überlegungen macht. Denn offensichtlich wichtiger als Frieden ist die Sicherung des Einflusses in der Region. Solange dieses System der neoliberalen Konkurrenz und Herrschaft die Staaten zum Kampf um die internationalen Märkte und Ressourcen treibt, wird auch das von ihnen selbst geschaffene Völkerrecht immer wieder auf der Strecke bleiben.

Norman Paech, Prof. Dr., Jurist, Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Er ist seit 2005 Politiker der Partei PDS, später Die Linke. Hauptschwerpunkt seiner politischen Tätigkeit ist die Friedensbewegung.