Meinungsfreiheit verlangt journalistisches Gehör

Wenn Journalisten sich weigern, die Welt in ihrer Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen und zu kommunizieren

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Meinungsfreiheit läuft seit Monaten auf allen Kanälen - allerdings mit bescheidener Meinungsvielfalt. Als Problem enttarnt wird, dass etwas als Problem gehandelt werde, das gar nicht existiere. Probleme mit der Meinungsfreiheit in Deutschland? Die journalistische Diagnose lautet ganz überwiegend: Ach du lieber Himmel - natürlich haben wir Meinungsäußerungsfreiheit, sogar "vollumfänglich" ( Samira El Ouassil auf Übermedien), aber viele verwechselten diese mit "widerspruchslosem Hinnehmen" (Sonja Thomaser, Frankfurter Rundschau).

Geradezu typisch ist die journalistische Kommentierung aktueller Umfragen, in denen eine Mehrheit äußert, sie könne nicht (mehr) zu jedem Thema ihre Meinung sagen. "Schmarrn", donnert der Berlin-Korrespondent des Bayerischen Rundfunks Achim Wendler, weil: Es stimme halt nicht, Punkt. Arno Orzessek belehrt seine Hörer im Deutschlandfunk, man dürfe in Deutschland sehr wohl alles sagen - "diesseits von Beleidigungen, Anstiftung zu Straftaten, Holocaust-Leugnung et cetera [...], sofern man den Mut dazu hat".

Damit kommen journalistische Beobachter zum gleichen Befund wie die Herrschenden: Bundeskanzlerin Merkel hält das Empfinden, nicht mehr alles offen sagen zu können, für "Unsinn" und die Diskussion dazu für "ziemlich gespenstisch"". Auch ihre Begründung ist so banal wie ignorant: "Natürlich gibt es Meinungsfreiheit, aber es gibt kein Recht auf Zustimmung von allen Seiten." Bundespräsident Steinmeier sagte zu Weihnachten: "Von zu wenig Meinungsfreiheit kann in meinen Augen nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil: So viel Streit war lange nicht."

Meinungsfreiheit, die bekanntlich keine Erlaubnis für Gedanken, sondern für Meinungsäußerungen darstellt (Art. 5 GG), läuft ins Leere, wenn bestimmte Meinungen oder Menschen vom Diskurs ausgeschlossen werden. Jeder einzelne darf jedem sagen: Lass mich mit deinem Geschwätz in Ruhe, ich habe schon eine Meinung. (Ob das biologisch sinnvoll ist, also der Orientierung in der Welt dient, ist eine andere Frage.) Der Journalismus insgesamt kann hingegen nicht einfach ignorieren, was ihm nicht in den Kram passt - weil er sonst nicht mehr Journalismus, sondern Propaganda ist.

Jahrzehnte, nachdem der Konstruktivismus zu den Grundfesten der Journalistik geworden ist, wird immer noch die eigene Realitätswahrnehmung für wahr und die missliebiger Zeitgenossen für einen therapiebedürfigen Defekt gehalten. Der Kampfbegriff von den "gefühlten Fakten" ist inzwischen Mainstream, mit dem die "richtige" Interpretation der Welt den vielen falschen gegenübergestellt werden kann. Das entspricht dem Verständnisniveau von Eltern, die dem weinenden Kind drohen: "Ich gebe dir gleich einen Grund zum Heulen." Sie beanspruchen die Deutungshoheit, sie legen fest, was wahr und was unwahr ist - mithin, über was gesprochen werden kann.

Mediale Beschränkung von Meinungsfreiheit

Die Meinungsäußerungsfreiheit endet dort, wo Journalisten sich weigern, die Welt in ihrer Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen und zu kommunizieren. Wenn in einer repräsentativen Befragung 58% angeben, sie wären mit öffentlichen Meinungsäußerungen vorsichtig, und wenn ein Drittel meint, man könne seine Meinung nur noch im Freundeskreis frei äußern, dann ist dies schlicht - Verfahrensfehler ausgeschlossen - ein Fakt. Jeder einzelne, der bekundet, sich in seiner Meinungsfreiheit durch irgendwen oder irgendwas beschnitten zu fühlen, ist eine Tatsache - kein "Gefühl".

Anstatt ihren Mitbürgern zu erklären, deren Gefühle und Sichtweisen seien "Irrtum", sollten sich Journalisten mit genau diesen (artikulierten) Gefühlen und Sichtweisen bzw. "Konstruktionen von Wirklichkeit" beschäftigen. Vor und nach jeder Wahl ergehen sich sämtliche Politikjournalisten des Landes im Nichtwähler-Bashing (und neuerdings auch im Ex-Nichtwähler-Bashing), weil sie die Meinung von Zustimmungsverweigerern einfach nicht interessiert, weil sie lieber verkünden, was richtig und was falsch ist (und damit die Fahne des Clubs schwenken, dem sie weiterhin oder endlich angehören wollen), anstatt sich auf andere Meinungen, andere Lebenserfahrungen, andere Realitäten einzulassen.

Die mediale Beschränkung von Meinungsfreiheit hat mindestens zwei Ebenen. Die eine ist die Verweigerung, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, obwohl sie schon öffentlich sind. Von den vielen Beispielen, die die populäre Strammrechtspartei dafür bietet: Als kürzlich Stephan Brandner als Vorsitzender eines Bundestagsausschusses abgewählt wurde, echauffierten sich im kurzen Mediengespräch Alexander Gauland und Alice Weidel über "dumme Fragen" der Journalisten. Thema der vielen Berichte dazu: der unverschämte Umgang dieser Politiker mit der Pressefreiheit, ja "mit welcher Verachtung führende AfD-Leute den Medien begegnen".

Ob vielleicht wirklich die eine oder andere Frage von Journalisten reichlich dumm ist, wurde nicht erörtert, selbst nicht in den Medienmagazinen, die quasi für Selbstkritik des Journalismus zuständig sind. Also unterblieb auch jeder Versuch zu verstehen, wie die Wirklichkeit von der anderen Seite der Mikrofone aussieht. (Für ein Beispiel anderer politischer Konstellation sei an ein Monitor-Interview mit dem Grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann erinnert.)

Als im November die Gruppe "3 vor 12 - Bauern in Not" einige "goldene Mistkarren" vor Redaktionen und das Wohnhaus eines Journalisten schoben, berichteten die meisten Medien über diese Tat als "Grenzverletzung" und "aggressive Taktik" - eine Beschäftigung mit dem Inhalt der Kritik, also der anderen Meinung, unterblieb hingegen. Der Journalismus stieg zwar auf die PR-Aktion ein, aber mit seiner eigenen Agenda. Keine Recherche, wie viele Angaben in Berichten zur Agrarpolitik vielleicht wirklich fehlerhaft, unzulänglich oder missverständlich sind, kein Raum für die Sichtweise der Bauern.

"Du existierst für uns nicht."

Bei den medial ignorierten und somit oft praktisch ungeäußerten Meinungen geht es keinesfalls nur um den üblichen Political-Correctness-Sermon. Unsere Mediengesellschaft bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil abweichende Meinungen ignoriert werden, und zwar vielfach mit einer Vehemenz, die in anderen Kontexten zu den Mobbing-Strategien gehört: "Du existierst für uns nicht." Wie viele Bücher bleiben ungelesen, weil Kulturjournalisten ihren eigenen, wenig originellen Kanon haben? Wie viele Petitionen, Demonstrationen oder Facebook-Posts bekommen nie die Chance auf Diskussion, wie innovativ oder konstruktiv auch immer sie sind? Und wie viele Statements bleiben unhinterfragt, undiskutiert, ungeprüft, weil sich die Partner der öffentlichen Gesprächsinszenierung zu einig oder die journalistischen Interviewer zu devot sind, als dass die Konfrontation einer Meinung mit Gegenmeinungen zu fruchtbaren Erkenntnissen führen könnte.

Gerade durfte etwa der Schriftsteller Ian McEwan im ZEIT-Gespräch "Alles gesagt" ohne jede Einordnung die alte Eliten-Idee von der Epistokratie vertreten, die Herrschaft der Schlauen also, die mit Meinungsfreiheit per se keinen Vertrag hat, weil sie filtern möchte, was überhaupt sinnvolle Meinungen sind und was nicht. Da sitzen dann die sog. Eliten beieinander und feixen über Wege, die Menschheit noch mehr mit ihrer Schlauheit zu beglücken, ohne auch nur zu streifen, dass Demokratie etwas ganz anderes ist und die Meinungsäußerung von anderen als Prominenten fordert.

Noch problematischer ist die zweite Ebene beschränkter Meinungsfreiheit: "Wenn nämlich Meinungen erst gar nicht mehr wenigstens kleinste Öffentlichkeiten erreichen und nicht nur die Beschäftigung mit ihnen unterbleibt. Wenn eben selbst im beruflichen oder privaten Umfeld Gedanken und Wahrnehmungen nicht mehr geäußert werden. Viele meinungsstarke Journalisten begrüßen das - Jakob Augstein etwa (in Gabor Steingarts "Morningbriefing"), was besonders drollig ist für jemanden, der seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Position wesentlich der Meinungspublikation verdankt.

Dabei müsste sich der Journalismus natürlich unkonventionell für Meinungen interessieren; was dann später für die Publikation relevant ist, steht ja auf einem anderen Blatt, der Rechercheauftrag jedenfalls lautet, die Welt in ihrer Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen und zu hinterfragen. Doch wie will man Meinungsvielfalts-Recherche erwarten, wenn schon so viel Gesagtes vom Journalismus nicht zur Kenntnis genommen wird und Stiftungen losziehen müssen, um Stimmen außerhalb des Mainstreams einzufangen: https://futurzwei.org/article/1007?

Die öffentlichen Debatten sind geprägt von "Experten", die als Wissenschaftler oder Lobbyisten klare Positionen vertreten. Dass es innerhalb ihrer Institutionen stets noch eine Vielzahl anderer Meinungen, Perspektiven und Ideen gibt, oft auch komplett konträre, interessiert den Journalismus nur, wenn mit solchen Widersprüchen eigene Geschichten gemacht werden können - das Politikboulevard lebt von nichts anderem.

Wer sich etwa die Verlautbarungen von Jugendverbänden anschaut, wird feststellen, dass diese nichts von der Vielfalt widerspiegeln, die von der jüngsten Shell-Jugendstudie erhoben worden ist. Ein altes, weil besonders imposantes Beispiel: Als zum 1. September 2007 über ein Artikelgesetz "zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens" Jugendlichen das öffentliche Rauchen und der Erwerb von Tabakwaren verboten wurde, fehlte in den Medien komplett die Stimme der jugendlichen Raucher, die mit einem Federstreich quasi in die Beschaffungskriminalität gedrängt wurden.

Bei einem so emotional aufgeladenem Thema ploppen natürlich sofort die persönlichen Vorlieben auf: Ist doch richtig, das Rauchen zu verbieten, weil es gesundheitsschädlich ist, oder eben: unerhört, diese ständige Bevormundung. Doch darum geht es gerade nicht. Denn was andere zu einer Meinung denken, kommt erst im zweiten Schritt. Zunächst mal muss die Meinung, über die man diskutieren könnte, eine Öffentlichkeit bekommen. Daher recherchierend gefragt: Wo werden Meinungen Jugendlicher im öffentlichen Diskurs berücksichtigt? Wo setzen sich General-Interest-Medien (die also nicht ohnehin nur Jugendliche als Zielgruppe haben) mit den Ansichten Minderjähriger auseinander, speisen sie in den demokratischen Prozess?

Dass die Fridays-For-Future-Bewegung in diesem Jahr plötzlich das Agendasetting stark beeinflusst hat, ist ja gerade ein Indiz dafür, dass dieser Teil einer Generation zuvor missachtet wurde, dass diesen hunderttausenden Jugendlichen eben nicht die Meinungsäußerungsfreiheit zuteilwurde, die ihr demokratisch zusteht, und die vor allem bei der Suche nach einer zukunftsfähigen bzw. demokratischen Politik hätte berücksichtigt werden müssen - zumindest journalistisch, ganz wertfrei.

Fast alles sagen zu dürfen, aber ignoriert zu werden, führt ein Grundrecht ad absurdum

Die Diskussion um Meinungsfreiheit wird öffentlich stark verengt auf ein paar wenige Stichworte, eben auf "Konventionen", die es wahlweise zum Glück oder verdammt nochmal gibt. Schon bei diesen wenigen Stichworten darf bezweifelt werden, dass die Medien mit ihrer Arbeit ein reines Begreifen der jeweils anderen Positionen ermöglicht haben. Mit Meinungen sind jedoch nicht nur Wahlkreuze und Fan-Fahnen verbunden, sondern eine schier unerschöpfliche Menge konkreter Ideen: Was könnte besser laufen, was könnte man ändern, welche Regeln sind in Zweifel zu ziehen, welche Alternativen gibt es für diese oder jene gängige Praxis? Hier bleibt das Allermeiste unberücksichtigt: Auf dem scheinbar egalitären Twitter beispielsweise diskutieren genau wie im analogen Leben nur soziale Schichten untereinander; wer einer niederen Popularitätskaste entstammt, wird ignoriert, abweichende, gar neue Meinungen sind zum Selbstgespräch verdonnert. (Einzige Ausnahme: Der Unterprivilegierte kann als Steigbügel für die eigene Meinungsbekundung dienen.)

Nochmal: Selbstverständlich hat niemand ein juristisches Anrecht auf öffentliches Gehör. Aber die Ignoranz allem Abweichenden gegenüber (es sei denn, es taugt zum Steigbügel für die eigene Ikonisierung) ist das Problem, welches sich hinter der Klage über mangelnde Meinungsfreiheit verbirgt. Fast alles sagen zu dürfen, jedoch mit allen Äußerungen, die eine Diskussion tatsächlich bereichern könnten, ignoriert zu werden, führt ein Grundrecht ad absurdum.

Verbürgte Meinungsäußerungsfreiheit sollte kein Gnadenrecht sein, das (in ihren jeweiligen Communitys) Herrschende aus Großmut einräumen; sie ist vielmehr das notwendige Instrument jeder Gesellschaft, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. Was zum jeweiligen Zeitpunkt einer großen sozialen Veränderung gerne als neue Erkenntnis gefeiert wird, basiert fast immer auf bereits uralten Ideen - die nur lange Zeit ungehört geblieben waren: Menschenrechte, Demokratiereform, Nachhaltigkeit, Tierschutz - solch ganz aktuelle Schlagworte sind nicht neu, die Vielfalt der Meinungen dazu wurde und wird nur nicht mit Erkenntnisinteresse diskutiert.

Hexenverbrennung oder Völkerversklavung gab es ebenso wie heutige Kriege oder Wachstumsideologien nur, weil sich der jeweilige Mainstream einer Auseinandersetzung mit anderen Meinungen dazu verweigert hat. Und da nichts darauf hindeutet, die Menschheit habe sich kürzlich in ihrer Grundkonstitution wesentlich verändert, werden wohl auch künftige Generationen einmal kopfschüttelnd auf unsere wahnsinnig aufgeklärte, emanzipierte, gesittete und in allem sehr korrekte Epoche zurückblicken - und sich ihres Fortschritts aus diesem düsteren Beginn des 21. Jahrhunderts rühmen.