"Fitness und Fatness sind zwei Seiten einer Medaille"

Ein Gespräch über Fitness als regulierendes Ideal der Moderne, Metapher der neoliberalen Selbstverantwortung

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Gesellschaftliche Anerkennung erfährt heute nur der fitte Körper. Er signalisiert Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, um ein produktives, gutes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Fitness ist, so Jürgen Martschukat, zum Kennzeichen und regulierenden Ideal der Moderne geworden. Ist das Streben nach Fitness der modus operandi des Subjekts im neoliberalen Zeitalter?

Jürgen Martschukat, Historiker für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt war zu Gast beim Telepolis Salon, um über sein neues Buch "Das Zeitalter der Fitness - Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde" zu diskutieren. Ein Gespräch über Fitness, Fatness, und religöse Erweckungsmomente.

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Auszüge aus dem Interview:

...über Darwin und das Zeitalter der Fitness...

Wir leben jetzt in dem Zeitalter der Fitness, und das sind die 1970er und folgende. Aber wenn man das historisch verstehen will, dann muss man ins 18. Jh. zurück gehen. Noch vor Darwin, in der Zeit der Aufklärung, entsteht die Idee der Freiheit. Gesellschaften und Staaten bilden sich um diese Idee, dass der Mensch frei ist, über sich selbst zu bestimmen, und das steht sogar in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: nach Glück zu streben.

Man hat nicht das Recht auf Freiheit und auf Glück, sondern das Recht auf Freiheit und darauf, nach Glück zu streben. Im Streben ist die Aktivität schon angelegt. Das heißt mit dem aufklärerischen Versprechen auf Freiheit ist immer die Anforderung verbunden, mit seiner Freiheit etwas zu machen, sie so zu nutzen, dass eine produktive, erfolgreiche Gesellschaft entsteht.

Was später mit Darwin kommt, ist die Idee des Wettbewerbs. Darwin hat die Idee des Wettbewerbs natürlich nicht erfunden, die Wettbewerbsidee hat es vorher in der Ökonomie und Bevölkerungsleere schon gegeben. Was Darwin aber macht, ist, dass er sagt, Wettbewerb ist etwas Naturnotwendiges.

Die Natur, alle Systeme funktionieren so, dass sie über Wettbewerb und Selektion operieren. Und die Spezies überlebt, die am besten in eine Umgebung hineinpasst. Das nennt Darwin Fitness. Das ist erstmal ein recht statisches Konzept, tatsächlich in eine bestimmte Umgebung hineinpassen, so wie man ist. Mutationen sind zufällig, und nicht etwas, woran man hart gearbeitet hat. Aber der Schritt ist danach nur noch sehr klein.

Die in der Zeit entstehenden Sozialwissenschaften sagen, wir müssen Gesellschaften so konstruieren, dass sie darauf ausgerichtet sind, dass alle ständig daran arbeiten, sich zu verbessern, und besser zu sein, als die anderen. Diese Idee dieser Optimierung schreibt sich in einer Gesellschaft des permanenten Wettbewerbs, die besten Karten und Chancen zu haben, in die Gesellschaftsformation, in die Individuen und die Körper ein. Da beginnt tatsächlich die erste Fitnesswelle.

Wir leben also nicht im ersten Zeitalter der Fitness, sondern im zweiten. Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sind ganz viele der Trainingsformen erfunden, und es hat damals schon einen Sport-Hype gegeben.

... über Betriebssport und Fitness in Unternehmen...

Bei Fitness geht es nicht nur um die Fähigkeit, erfolgreich Sport zu betreiben, sondern um die generelle Fähigkeit ein produktives Mitglied von Gesellschaft zu sein, und das unter Beweis zu stellen. Deswegen blicke ich darauf, wie Ernährung und Training funktionieren. In einem zweiten Schritt betrachte ich drei Bereiche des menschlichen Tuns und wie Fitness in die gesellschaftliche Organisation hineinwirkt. Eines dieser Felder, das ganz zentral ist, ist Arbeit. Ein Zweites ist Sex, ein Drittes ist das Militär.

In den 50er/60er Jahren gehen Angestellte, wie bei Mad Men, in die Pause und nehmen einen Drink nach dem nächsten. In den USA waren das die Drei-Martini-Lunches, doch diese Zeiten sind vorbei. Heute geht man in der Mittagspause eine Runde joggen, und fühlt sich nachher viel besser, weil man sich ja bewegt hat.

Man kann beobachten, dass Firmen damit ab den 1980er Jahren anfangen. Sie motivieren ihre Angestellten dazu Sport zu treiben, installieren Trainingsmöglichkeiten auf ihren Firmengeländen. Es heißt dann, wer an sich arbeitet und trainiert, wird in der Karriere schneller Fortschritte machen. Bis hin zum gemeinsamen Aktivurlaub, den man machen muss, etwa zum Teambuilding.

Jetzt ist die Frage, ist das eigentlich neu? Anstrengungen von Konzernen, von Produzenten, von Fabrikanten, von Kapitalisten, von Unternehmern ihre Belegschaft dazu zu bringen ein kontrolliertes Leben in ihrer Freizeit zu führen, weniger zu trinken, sich weniger auf Tanzböden, und anderen Amüsementbetrieben rumzutreiben, und stattdessen an sich selber zu arbeiten, erfrischende Spaziergänge an der frischen Luft zu machen, einige sportliche Übungen zu betreiben, das kann man beobachten bis ins 19te Jahrhundert hinein.

In Deutschland sind das die Betriebssportverbände. Das geht soweit, dass Konzerne auch in England, Frankreich und in den USA ganze Modellstädte bauen, in denen ihre Belegschaft lebt. Die Idee ist eine sehr patriarchale Idee. Der Unternehmer als Patriarch beobachtet das Leben, das seine Arbeiter und Arbeiterinnen führen, und versucht das so zu organisieren, dass die ein Leben führen, das ihre Produktivität maximal steigert.

Das ist damals ein Welfare-Kapitalismus, und was eine Kollegin Insourcing genannt hat, das heißt im Prinzip alles reinholen unter Kontrolle haben. Heute ist es ein Bemühen auf ein Outsourcing gerichtet, also den Leuten Verantwortlichkeit zu übertragen, dass sie das selber machen. In den Betrieben, was später die New Economy werden sollte, kann man das ab den 80er Jahren sehr gut sehen.

Die Idee dahinter ist, die Leute für ihre eigene Leistungsfähigkeit in die Pflicht zu nehmen, und mit Anreizen und Belohnung zu operieren, aber nicht mit einer patriarchalen Struktur, die das Ganze von oben okktruiert.

...über das Dicksein als Scheitern...

Lange stand Dicksein für Wohlstand und Erfolg. Dieses Bild des dicken, erfolgreichen, saturierten, selbstzufriedenen Unternehmers, das kennt man immer noch. Dieses Bild hat sich in den 1970er Jahren gewandelt, in den schlanken, austrainierten Manager, der auf dem Laufband im Büro die Aktienkurse abliest. Dicksein stand dann immer weniger für Erfolg, sondern gilt vielmehr als ein Zeichen des Scheiterns. Wenn Körperform mit Klassenstereotypisierungen verbunden ist, dann kann man sagen, dass ab den 1980er Jahren Dicksein mehr und mehr für arm steht, dass es immer deutlicher mit einem Scheitern an gesellschaftlichen Anforderungen assoziiert wird.

Fatness und Fitness sind zwei Seiten einer Medaille, in einer gesellschaftlichen Formation, die sich um das erfolgreiche Selbst dreht. Im Zentrum dieser beiden Kräfte, dieser Komplimentärpraktiken, steht eine kulturell etablierte Vorstellung, dass man immer an sich arbeiten muss, und zeigen muss, dass man am Ball ist, leistungsbereit, und dass man diesen Willen auch am Körper ablesen kann. Fitness und Fatness, das eine schließt das andere nicht aus, sondern die bedingen sich gegenseitig.

Uns hat auch interessiert, was die Körper bedeuten in den gesellschaftlichen Diskursen, und welche Effekte das hat, also beispielsweise, diskriminierende Effekte, die an das Dicksein gebunden werden. Es ist Common Sense und bekannt, dass im Bildungssystem oder im Berufssystem dicke Menschen viel größere Schwierigkeiten haben, Anerkennung zu finden, als Menschen, die als normschön gelten. Die Körperform wurde also zu einer neuen Kategorie, nach der Menschen eingeteilt und Gesellschaften organisiert werden.

Wir erliegen der trügerischen Macht des Sichtbaren. Deswegen wird zum Beispiel in den Fat-Studies mit ganz ähnlichen Kategorien operiert, wie in den Rassismusstudien. Da gibt es die eine These, dass auf eine bestimmte Art und Weise die diskriminierenden Mechanismen des Dickseins, die Zuschreibungen an dicke Körper ähnlich operieren wie die Zuschreibungen über "race". Weil die Logik, nach der Leute argumentieren, ja das sieht man doch. Das ist eine Logik, nach der Rassismus lange funktioniert hat, zum Teil auch Sexismus.

Was sicher ein Faktor ist, der anders funktioniert ist, und da sind wir näher an dem, was ich als neoliberale Regime beschreiben würde, ist, dass beim Dicksein immer zugleich Selbstverantwortung mitgedacht wird. Während der Rassismus über eine Kategorie von Rasse operiert hat, die sich gerade von Faktoren wie Verantwortlichkeit entziehen, also die statisch sind, die Menschen gegeben sind, von denen leiten wir dann bestimmte Fähigkeiten und Charaktereigenschaften usw. ab.

Diskrimierung über das Dicksein operiert über den Marker der Verantwortlichkeit. Bei Dicksein geht immer die Assoziation einher, selber schuld, Fehler gemacht, schlechte Entscheidungen getroffen, Grenzen überschritten, also dieses Menschen für sich selber verantwortlich machen.

In den Wissenschaften und politischen Debatten ist das Konzept des Neoliberalismus schon sehr verworfen, weil es als eine leere Kampfhülse häufig beschrieben worden ist. Wenn man es als Terminus zur Beschreibung einer bestimmten Epoche verwendet, dann leben wir in einem Zeitalter, in dem Menschen eine hohe Selbstverantwortung für ihr eigenes Leben zugeschrieben wird. Das hat viel mit Entscheidungen zu tun, die Leute treffen, mit einem Verantwortlichsein für den eigenen Erfolg oder Misserfolg. Da wird ein bestimmter Subjekttyp erfordert und zur Norm erhoben.

... über Fitness als Ersatzreligion...

Die Macht, die durch die Selbstverantwortung operiert, ist noch perfider. Man hat keinen Gegner, oder der Gegner ist viel schwieriger auszumachen. Das nimmt religiöse Züge an. Die Vorstellung, permanent an sich selber arbeiten zu müssen, um eben auch tatsächlich zu erfahren, dass Gott mich auserwählt hat, und das Ganze an meinem eigenen Erfolg zu sehen - wenn das die protestantische Ethik ist, dann ist das in der Fitness schon recht präsent.

Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit damit verbrecht, alte Sportzeitschriften zu lesen, alte Laufmagazine aus den 70er Jahren. Mein Lieblingsgenre in diesen alten Laufmagazinen sind die Leserbriefe. Darin schreiben meistens Männer mittleren Alters, die fett, faul und träge werden, und nicht mehr attraktiv sind, und dass sie deswegen mit dem Laufen angefangen haben. Viele beschreiben eine regelrechte Konversionserfahrung, also eine Schlüsselerfahrung, ein Moment, an dem überhaupt nichts mehr ging, an dem sie gar keine Luft mehr bekamen, als sie aufstanden, um sich vom Kühlschrank das nächste Bier zu holen, und gemerkt haben, dass ihre Leistungsfähigkeit nachlässt, sich der Speck wie ein Gletscher über den Körper schiebt und so weiter.

Viele beschreiben also eine Konversionserfahrung, und die ist in vielen Formen des Protestantismus insbesondere in den USA total zentral für die Hinwendung zu Gott. Hier ist es eben nicht Gott, sondern die Fitness, zu der man sich hinwendet. Das Interessante ist, Fitness bedeutet nicht einfach nur eine weitere Angewohnheit, seinen vielen Angewohnheiten hinzuzufügen, sondern Fitness bedeutet eine Veränderung des gesamten Lebens. Das wird in diesen Briefen immer wieder betont.