IQ-Tests als Mittel zur Abgrenzung nach "unten"

Auseinandersetzung um den Wert von IQ-Tests und die Förderung der "Hochbegabten"

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Der Artikel "Vom ideologischen Konstrukt der Hochbegabung", der am 28.11.2019 auf Telepolis erschienen war, wurde mit einem Gegenartikel "Störfaktor Intelligenz" am 15.12.2019 von Hans-Dieter Rieveler kommentiert. Hier die Antwort auf letzteren Beitrag.

Um das gleich voran zu stellen: Weder der Artikel "Vom ideologischen Konstrukt der Hochbegabung" noch dieser Artikel erfolgen aus "narzisstische[r] Kränkung" heraus, wie Herr Rieveler unterstellt - oder motiviert durch die Ablehnung der "ungeliebten Erkenntnisse der Intelligenzforscher". Vielmehr geht es darum, dass das von Rieveler propagierte technokratische und elitäre Menschenbild nicht unkommentiert bleiben soll.

Der von Rieveler gewählte Titel zeigt schon, dass beide Autoren zumindest zum Teil aneinander vorbeireden. Es ging ja ursprünglich um das Konzept der sogenannten "Hochbegabung" und nicht um Intelligenz allgemein. Es geht hier auch nicht um "Vorurteile gegen Hochbegabte", sondern um unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf Menschenbild und Bildungsideal.

Stellen wir also doch einfach mal die Frage nach dem Bildungsideal: Wollen wir eine Gesellschaft, in der gefördert wird, dass möglichst viele Schüler zu hoch spezialisierten Experten werden, oder wollen wir eine Gesellschaft integrer, neugieriger und ausgeglichener Menschen? Sollten sich Schüler in allgemeinbildenden Schulen (man beachte den Wortsinn davon!) spezialisieren oder sollen sie eine umfassende Allgemeinbildung und die Fähigkeit zum kreativen Selberdenken und -agieren erlangen? Welche Implikationen haben solche Richtungsentscheidungen für die Gesellschaft, die Entwicklungsperspektiven sowie den sozialen Zusammenhalt? Das sind Fragen, die hier vor allem diskutiert werden sollten - und nicht die Frage, wie genau in der Psychologie "Hochbegabung" definiert wird.

In diesem Artikel soll aus einem Blickwinkel der Reformpädagogik heraus die Gegenposition zum Leistungsdenken im Bildungssystem eingenommen werden. Bildung ist ihr folgend nicht als eine Summe von Fakten und eine Aneignung schnöder technischer Fähigkeiten - sondern vor allem im Sinne von Persönlichkeitsbildung und kritischem Hinterfragen zu verstehen:

Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.

Theodor W. Adorno

Intelligenz gibt es, aber wozu soll man sie messen? Das Konzept der Hochbegabung (= IQ über 130) ist keine wissenschaftliche "Wahrheit", wie von Herrn Rieveler dargestellt, sondern zunächst einmal eine Frage der Definition. 130 (= ca. 2% der Bevölkerung; 2x Standardabweichung) mag bei Psychologen oder Statistikern als "objektives" Kriterium gelten, ebenso könnte man den Wert aber auch auf 149 festlegen. Oder man könnte die 1% der bestabschneidenden Personen von IQ-Tests mit der Bezeichnung "hochbegabt" belegen.

Zudem hat man bei solchen fixen Schemata einen Menschen mit einem IQ von 129 gleich mal aussortiert, wohingegen einer mit 131 sich hochbegabt nennen darf. Unlogisch erscheint auch, dass gegenüber den genannten hiesigen 2% in Singapur angeblich 15% der Bevölkerung als "hochbegabt" gilt Dass die Menschen im asiatischen Kleinstaat aber IQ-intelligenter sein sollen als in anderen Ländern, ist wohl sehr unwahrscheinlich. Vermutlich hängt die Differenz ganz einfach mit der Schwerpunktsetzung in der Bildungspolitik des Landes und dem massiven Leistungs- und Erfolgsdruck zusammen, der auf Kinder ausgeübt wird. Man sieht also, offenbar handelt sich bei Intelligenztests und "Hochbegabung" um schwammige Kategorisierungen und nicht um unumstößliche Methoden und wissenschaftliche "Wahrheiten" (wir erinnern uns: Wissenschaft muss immer falsifizierbar sein). Und wie bereits kritisiert, gilt auch hier immer noch, dass IQ-Tests nur bestimmte Denkvorgänge überprüfen.

Keine "Hochbegabung" in den Sozial- und Geisteswissenschaften

"Hochbegabung" gibt es nicht im Bereich von Sozial- und Geisteswissenschaften, ebenso wenig, wie Intelligenztests sozial- und geisteswissenschaftliche Fähigkeiten testen. Insofern ist die Erschaffung eines Konzepts dieser Art von "Hochintelligenz" ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die gut sind in den entsprechenden Fächern - und eine indirekte Proklamation der Überlegenheit von Naturwissenschaften und Naturwissenschaftlern. Allein deshalb schon sind IQ-Tests und das Konzept der "Hochbegabung" abzulehnen.

Es steckt somit auch kein Ständedenken in der Ablehnung von Elitenförderung. Ganz im Gegenteil wurde im Artikel "Vom ideologischen Konstrukt der Hochbegabung" ja kritisiert, dass zusätzliche Förderanstrengungen im Bildungssystem auf die guten Schüler entfallen sollen (auch wenn "Hochbegabte" nicht zu den besten Schülern gehören, haben sie ja meist gute Schulnoten).

Anders muss es sein: Die "Tochter der Leiharbeiterin" (Rieveler) soll diese Mittel und den besseren Betreuungsschlüssel zugewiesen bekommen, nicht das Kind mit einem IQ über 130. In anderen Worten: Man sollte bei Fördermaßnahmen nach der sozialen Herkunft schauen, nicht nach den Ergebnissen eines technokratischen Tests mit mangelhafter Aussagekraft.

Angst vor dem IQ-Test und der eigenen Dummheit?

Intelligenz sei aus Sicht von IQ-Kritikern (oder Herrn Stark) irrelevant, behauptet Herr Rieveler. Er verkennt aber, dass nicht die Existenz von Intelligenz versus Dummheit im Zentrum der Kritik steht, sondern die MESSUNG von Intelligenz mit dem ZIEL, angebliche "Hochbegabung" zu identifizieren. Nicht alle Menschen sind gleich intelligent, aber sie sollten alle die gleichen Chancen bekommen!

Dann heißt es in dem Artikel weiter:

Die Einsicht, dass Intelligenz als größtenteils angeborene Eigenschaft der Selbstoptimierung Grenzen setzt, widerspricht diametral dem neoliberalen Menschenbild und kann daher eine narzisstische Kränkung verursachen. Die Wut der Gekränkten richtet sich dann gegen die Kränker: gegen die ungeliebten Erkenntnisse der Intelligenzforscher oder die Menschen, die sich "einbilden", hochbegabt und daher "etwas Besseres" zu sein.

Rieveler unterstellt an dieser Stelle mit einer oberflächlichen Polemik, Menschen, die dem Konzept der "Hochbegabung" entgegentreten, seien gekränkt, da sie entsprechend eigener neoliberaler Selbstoptimierungsbestrebungen des aktuellen Zeitgeists ihre angeborene mangelnde Intelligenz nicht steigern könnten.

Auch dem zweiten Zitat von Rieveler, das in diese Richtung geht, muss widersprochen werden. Wenn er nämlich behauptet, es "führt die persönliche Angst, in einem Intelligenztest ein Mangel an geistigem Potenzial zu offenbaren, zu Abwehrreaktionen".

Dazu ist festzustellen, dass die Kritiker an der "Hochbegabung" fast immer intelligente Menschen sind, die über Hochschulabschlüsse verfügen und niemandem etwas beweisen müssen. Leute, die sich ganz sicher nicht hinter IQ-Überfliegern verstecken müssen. Auch wird die neoliberal-ideologische Selbstoptimierung gerade in dieser Gruppe von Menschen wohl besonders kritisch gesehen. Aber abgesehen davon dürften die allermeisten Akademiker in Deutschland ohnehin ihren IQ-Quotienten weder kennen, noch sich für ihn interessieren. Von Angst oder Kränkung kann also keine Rede sein. Und wieso sollte man denn überhaupt eine Reihenfolge, eine soziale Hierarchie kreieren? Was hat die Gesellschaft davon, Menschen in IQ-Schubladen zu sortieren?

Rieveler verweist auf ein Papier mit dem Namen "Intelligenz: kein Mythos, sondern Realität" und diskutiert die Frage, ob Intelligenz angeboren ist und oder durch Umwelteinflüsse entsteht. Diese Fragen erscheinen als eher unerheblich. Interessant ist aber, dass im verlinkten Artikel konstatiert wird: "Intelligenz ist einer der besten Prädiktoren von Lern- und Berufserfolg." Und: "Intelligenz [sei] der bedeutendste Faktor für schulischen und beruflichen Erfolg".

An dieser Stelle zeigt sich ein eklatanter Widerspruch zwischen Rievelers erster und zweiter Aussage zum Thema: (1): "Einig [...] über die [...] Validität von IQ-Tests und deren Bedeutung als Prädikator für Lern- und Berufserfolg". und (2): "Danach lag der Notenschnitt der hochbegabten Schüler in der neunten Klasse bei 2,3" - und damit schlechter als bei den besten Schülern. Wenn diese Aussagen stimmen, dann ist der IQ-Quotient doch nicht so ein guter Maßstab (Prädikator von Lernerfolg), denn die IQ-schlauesten Kinder haben eben nicht die besten Noten.

Aber ist das so schlimm? Es wird von Rieveler weiter moniert: "Hochbegabte können ihr Potenzial in unserem Schulsystem oft nicht ausschöpfen". Aber ein Notenschnitt von 2,3 ist nicht schlecht. Und eigentlich kommt es ja gar nicht nur darauf an, gute Noten oder IQ-Testergebnisse zu erlangen, denn wie es ein Kommentator im Telepolis-Forum gut auf den Punkt gebracht hat:

Komplexität absorbieren zu können, bedeutet noch lange nicht, auch damit korrekt umgehen zu können, Information richtig gewichten zu können. Stichwort 'Gesunder Menschenverstand'.

Praktischer Umgang mit Intelligenzfragen

Überhaupt geht Rieveler leider gar nicht auf wesentliche Aspekte der Auflistung von Bereichen ein, die in IQ-Tests nicht getestet werden. Die Punkte 1 (ein historisches Ereignis analysieren), 3 (gut und kreativ formulieren) und 7 (kritisches Hinterfragen). Stattdessen kommt das Totschlagargument: "Wer in einem der Teilbereiche besonders hoch oder besonders niedrig begabt ist, ist es tendenziell auch in den anderen Teilbereichen."

In anderen Worten: Es sei egal, dass die IQ-Tests schlecht sind, weil sie dennoch zuverlässig und umfassend Intelligenz testen könnten, auch Intelligenz in anderen Teilbereichen. Das hieße also auch, dass ein sehr guter Naturwissenschaftler oder eine sehr gute Naturwissenschaftlerin in der Regel genauso gut im Bereich des Geschichts-, Deutsch- oder Gemeinschaftskundeunterrichts wäre. Es ist ein Gemeinplatz festzustellen, dass die meisten Menschen jedoch entgegen dieser Annahme entweder einen sozial- und geisteswissenschaftlichen oder sprachlichen Schwerpunkt haben - oder eben einen naturwissenschaftlichen. Und nur selten in allen Fächergruppen schulisch gleich stark sind.

Im Artikel "Störfaktor Intelligenz" wird weiter behauptet, Kritiker am Konzept der "Hochbegabung" würden Intelligenzunterschiede bestreiten und damit implizit fordern, alle Menschen sollten auch alle Berufe in einer Gesellschaft ausüben können ("dass eine Person mit herausragender emotionaler "Intelligenz" und einem IQ von 100 kaum zum Big-Data-Spezialisten taugen wird"). Nein. Niemand möchte einen mathematisch Inselbegabten zu einem Geschichtsprofessor machen, oder einen Menschen mit sehr beschränkter Intelligenz zu einem Lehrer.

Niemand hat etwas gegen die zusätzliche Förderung stärkerer Schüler in ein und derselben Schulkasse. Etwa einen Matheunterricht, in dem fünf Standardaufgaben gestellt werden und eine sechste Aufgabe, die von den sehr guten Schülern freiwillig gelöst werden kann.

Anderes Beispiel: Im Deutschunterricht stellt die Lehrerin die Aufgabe: "Schreibt bitte einen Aufsatz von drei Seiten - über was auch immer Ihr wollt." Jedes schlaue und kreative Kind würde verstehen: "Ah, das ist meine Chance zu zeigen, was ich kann!"

Selbst wenn das Kind nicht gut in Deutsch wäre, könnte es bei einer solchen Aufgabe immer noch z.B. ein mathematisches Problem mit Worten beschreiben oder lösen. Aber auch das alles wäre nicht notwendig. Besonders gute Schüler können sich mit einer Schulnote von 2,3 zufrieden geben und zu Haus so viel lesen und sich bilden, wie sie möchten. Überhaupt sollten die Kinder lernen, selber zu denken. Oder besser formuliert:

Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes.

Rudolf Steiner, 1923

Die vermeintliche Notwendigkeit für IQ-Tests und die Konsequenzen

Rieveler empfiehlt einen Artikel mit dem Titel: "Intelligenz: kein Mythos, sondern Realität". Dieser Artikel bricht eine Lanze für IQ-Tests im schulischen Kontext. In dem Artikel heißt es unter anderem:

"Was müssen wir als Psychologen tun, damit der Wert von Intelligenzdiagnostik erkannt und die Angst davor genommen wird? Wir sollten unbegründete Ängste nehmen, die allein das Wort "Intelligenz" auslöst." [Ziel des Ganzen sei beispielsweise, dass durch Intelligenztests] "an der Schwelle zum Gymnasium und an der Schwelle zur Universität unentdeckte Talente gefördert werden".

Der Artikel scheint also die Quelle für die oben diskutierte Behauptung zu sein, Angstreaktionen seien die Ursache für gesellschaftliche Ablehnung von IQ-Tests. Laut der Autorin sollen solche Tests aber sogar für eine sozialdarwinistische Selektion herhalten:

Andererseits können Personen rechtzeitig neue berufliche Wege einschlagen, wenn Intelligenztests ihnen bescheinigen, dass ihre kognitiven Fähigkeiten nicht den Anforderungen akademischer Institutionen genügen.

Das heißt also, nicht die Bewertung schulischer Leistungen, sondern Intelligenztests sollten Selektionsinstrument im Bildungssystem sein.

Ganz abgesehen davon, dass eine Selektion kontraproduktiv ist, erscheint es doch sehr befremdlich, einen Intelligenzquotienten ermitteln zu wollen, wenn der eigentliche Sinn von Schule in den Inhalten liegt und der Fähigkeit der Schüler, mit ihnen umzugehen. Der Weg über den IQ-Test für eine (schädliche) Selektion von Schülern ist also bestenfalls sehr fehleranfällig. Weil das so ist, gibt es ja zur Leistungsbeurteilung bereits harte Schulnoten in staatlichen Schulen und weichere textliche Bewertungen in erklärt nicht-elitären alternativen Schulen, wie z.B. den Waldorfschulen.

Und nebenbei bemerkt: Wer Worte wie "Minderleister", "Under-" und "Overachiever" verwendet, wie Herr Rieveler in seinem Text (sowie verschiedene Psychologen und Bildungspolitiker), macht sich gemein mit der Ideologie des sogenannten "Humankapitals", einem antihumanistischen Konzept, das von neoliberalen Opportunisten wie u.a. auch von den ursprünglich zitierten Deutschlandfunk-Journalisten von "Campus & Karriere" propagiert wird.

Die selbst ernannten "Hochbegabten"

Das Spektrum der Bezeichnungen für Menschen mit IQ-Quotient über 130 reicht in unserer Gesellschaft von einem positiv konnotierten "Hochbegabt" bis zu einem verächtlichen "Hochintelligente Psychopathen für den Neoliberalismus".

Im Text von Rieveler wird zudem noch ein Wort in diesem Zusammenhang eingeführt: "Hochbegabte sind aber keine Hochleister, sondern nonkonform." Und: Sie "neigen dazu, Regeln, Maßgaben und herrschende Meinungen kritisch zu hinterfragen".

Eine seltsame Definition von "nonkonform", denn im Duden Fremdwörterbuch heißt es dazu: "Individualistische Haltung in politischen, weltanschaulichen, religiösen und sozialen Fragen." In diesem Sinne ließen sich auf Videoplattformen oder Mediatheken im Zuge einer kleinen Recherche keine "Hochbegabten" finden, deren Lebensweise oder Ansichten als nonkonform zu bezeichnen sind. Eher wirken sie aus Sicht des Autors alle recht stromlinienförmig. Dazu zählt auch Mira Langhammer, ehemalige Mitarbeiterin in einer Wirtschaftsberatung, Startup-Gründerin und Apple-Userin. Das ist nicht nonkonform. Der "Hochbegabte" in diesem Ausschnitt z.B. sagt zwar, er sei im Job häufig angeeckt, da er etwas zu penetrant darin gewesen sei, auf die Fehler anderer hinzuweisen. Das ist aber nicht ein Zeichen für Nonkonformität, sondern für fehlende Empathie oder überdurchschnittlich starke Sturheit.

Auch Nina Grawes, die in einer Sendung im SWR auftrat, wirkt nicht nonkonform. Sie ist Mitglied des Mensa-Netzwerks für "Hochbegabte" und Tochter einer Mensa-Netzwerkerin der älteren Generation. Grawes spricht mit dem Moderator über ihre Mitgliedschaft im "Hochbegabten"-Netzwerk:

"[…] Wir sprechen nicht über unseren IQ."
[Moderator:] "Warum nicht?"
"Das ist dann so ein bisschen, als ob man sich miteinander vergleicht, möchte und was nicht unbedingt nötig ist […] man gehört einfach zu den oberen zwei Prozent, was den Intelligenzquotienten angeht - und dann reicht es, wenn wir alle in dem Bereich sind."

Also man vergleicht sich zwar mit den "minderintelligenten" 98 Prozent, aber im elitären Club selber darf es keine Hierarchien geben. Das lässt tief blicken: Einerseits möchte man das Aushängeschild der eigenen vermeintlichen Überlegenheit gegenüber der Normalgesellschaft hochhalten, aber unter sich will man Unterschiede unter den Teppich kehren, vermutlich um die Einheit und den Frieden innerhalb der selbst ernannten Elite nicht zu gefährden (die Einheit und der Frieden in der Gesellschaft ist aber offenbar weniger wichtig, sonst würde es das Mensa-Netzwerk gar nicht geben...).

In der Sendung wird auch auf eine Dating-Seite des Mensanetzwerks hingewiesen, welche implizit eine sozialdarwinistische Selektion bei der Partnersuche durch Mensa-Mitglieder zeigt. Zwar gilt generell ein ähnliches intellektuelles Niveau durchaus als positiver Indikator für gut funktionierende Beziehungen, ein gewisses Geschmäckle bleibt aber und man könnte hierin etwas polemisch formuliert auch den Versuch der Züchtung einer "Herrenrasse" vermuten. Im Buch "Neoliberalyse - über die Ökonomisierung unseres Alltags" wurde im Übrigen bereits 2014 auf einen ähnlichen sozialdarwinistischen Zusammenhang beim Datingnetzwerk "Elitepartner" hingewiesen, auch hier geht es selbsternannten Eliten darum, sich untereinander zu liieren (und sich in der Folge zum Teil auch zu reproduzieren) und vor allem sozial nach "unten" hin abzugrenzen.

Noch einmal zurück zur Frage des Nonkonformismus: Es ist davon auszugehen, dass dieses Wort von Rieveler falsch verwendet wird und er eher "Nicht zurechtfinden" meint. Man kann "Regeln und herrschende Meinungen" (hier wohl Synonym für die bestehenden Strukturen des Schulunterrichts) im Übrigen auch konstruktiv hinterfragen, ohne gleichzeitig zum Systemsprenger zu werden. Wie oben erwähnt, hat niemand etwas gegen optionale Extraaufgaben im Unterricht für Kinder, die etwas schneller sind als andere. Man kann auch unterm Tisch oder nach der Schule einen dicken Wälzer lesen, während die anderen Schüler "nur" das Standard-Schulbuch durchgehen.

Der Elitenclub "Mensa"

Das Mensa-Netzwerk ist ein international organisierter Club von Menschen, die in einem IQ-Test einen Quotienten von über 130 Punkten erreichen. In Deutschland ist die "MinD-Stiftung Gemeinnützige GmbH" verantwortlich.

Bei einem Blick auf die deutschsprachige Internetseite der Organisation fällt auf, dass man die fatale Empfehlung an Bildungspolitiker und Eltern richtet, "hochbegabte" Kinder in die Klassen älterer Kinder zu versetzen, was zu noch mehr sozialen Problemen oder sozialer Isolation für die betroffenen Kinder führt.

Manchmal fallen hochbegabte Kindergartenkinder auf, weil sie sich sozio-emotional langsamer entwickeln. Das kommt daher, dass das Kind sein Verhalten, sein Verständnis einer Situation, seine Sprache, etc. von den gleichaltrigen Kindern nicht "gespiegelt" bekommt. [...] Gerade dann kann es sehr hilfreich sein, das Kind mit älteren Kindern in eine Gruppe zu geben.

Mensa

Eine Empfehlung, die in den Selbstdarstellungstexten garniert wird mit einschlägigen Phrasen wie vom "Fördern und Fordern", ganz im Sinne eines ökonomisch-neoliberalen Gesamtumbaus der Gesellschaft á la Hartz-Schröder.

Die Darstellung des technokratischen Denkens, das in IQ-Tests überprüft wird, kommt auch in der Titelgrafik der Mensa-Internetseite zum Ausdruck. Da ist ein Kopf dargestellt, der aus Transistoren und Leiterbahnen zu bestehen scheint.

Das ist also das Menschenbild, das hier zum Tragen kommt: Der Mensch als Summe von Einsen und Nullen. Eine Symbolik in Referenz zur Funktion von Computern, die ja in ihrem Modus extrem leistungsfähiger Inselbegabung menschlichen Gehirnen (funktionieren eher generalistisch) in einigen Disziplinen weit überlegen sind.

Die Existenz eines solchen Vereins zeigt, dass es offenbar Mode ist, hausieren zu gehen nicht etwa mit etwas, was man Kreatives erschaffen oder mit einer schweren Aufgabe, die man bewältigt hat, sondern dem Ergebnis eines synthetischen Intelligenztests. Also mit einem IQ-Wert, den man gar nicht zu verantworten hat, da er angeboren ist und den Verhältnissen entspringt, die einen geprägt haben. Das ist ein wenig so, wie stolz zu sein auf seine angeborene Nationalität, für die man auch nichts kann.

Das Ganze ist eine elitäre Veranstaltung der Selbstbeweihräucherung in einer Trutzburg, in der man sich von der Normalgesellschaft abgrenzt - einer Gesellschaft, die in Deutschland mehrheitlich von der Ablehnung von Elitismus und sinnloser Hierarchien geprägt ist. In ihren Lebensläufen können sich die Mensa-Mitglieder unter "Softskills" oder "Engagement" das schön reinschreiben, dass sie Mitglied in diesem Verein sind. Ein in diesem Weltbild wohl klarer Vorteil im "globalen Wettbewerb des Humankapitals".

"Hochleister", "Hochbegabte" und die DDR

Zurecht beklagt Herr Rieveler, dass "Hochleister" (er meint gute Schüler) und "Hochbegabte" (er meint hoher IQ) "in einen Topf" geworfen würden. Das ist sicherlich richtig und man sollte zugegeben entsprechend differenzieren. Aber verwenden wir doch bitte lieber eine menschliche Terminologie wie "sehr gute Schüler" oder "technisch-mathematisch überdurchschnittlich intelligente Kinder". Das sind weniger ideologische Begrifflichkeiten, die das ausdrücken, was sie meinen. Meiden wir doch Begriffe, mit denen Menschen in Schubladen gesteckt werden, die dazu dienen, Kinder im ökonomischen Verwertungssystem besser selektieren zu können.

Ebenso ideologisch wie die Verwendung solcher Begriffe ist der Hinweis auf die Hochbegabtenförderung in der DDR, die ja kommunistisch gewesen sei; dann könne Hochbegabung, so das Argument, ja nicht zugleich als neoliberal bezeichnet werden. Diese Aussage ist offensichtlich Unsinn, denn natürlich war das Bildungsideal der DDR ähnlich technokratisch und ökonomistisch wie das Bildungsideal im Neoliberalismus (z.B. heutiger bundesdeutscher Lesart), das auf dem Menschenbild des homo oeconomicus fußt. Und das von stromlinienförmigen Bildungspolitikern heute hochgehalten wird. Ob heute im Westen oder damals im Ostblock, es ging und geht fast ausschließlich um Wirtschaftswachstum und ökonomische Macht. In einem System, in dem die Menschen zu ersetzbaren Produktionsfaktoren degradiert werden (deshalb gehören auch beide Ideologien gleichermaßen in die Tonne).

Die individuelle Förderung von Schülern ist nicht generell abzulehnen. Aber der Fokus muss auf den sozial Schwachen liegen und nicht auf den relativ Starken. Denn Letztere können sich mehr oder weniger gut selber helfen und sie werden auch ganz ohne Förderung nach der Bildungsphase in ihrem Leben einen Job bekommen (Noten-Durchschnitt 2,3).

Der Klage, die "Hochbegabten" langweilten sich im Unterricht, kann man entgegnen, dass jeder Schüler und jede Schülerin Fächer hat, die ihn oder sie langweilen. Aber sie brechen auch nicht gleich in lautes Geschrei aus, sondern geben sich einfach entsprechend nicht so viel Mühe oder konzentrieren sich auf andere Fächer. Das ist ein ganz normaler Vorgang.

Etwas widersprüchlich zur Betonung der Elitenbildung im Artikel "Störfaktor Intelligenz", ist das Beklagen des Umstands, dass Kinder bildungsferner Eltern bei gleicher Leistung statistisch betrachtet schlechter bewertet werden.

Wer das kritisiert, muss aber auch bereit sein, die Systemfrage zu stellen. Um das Problem zu lösen, müssen wir endlich an die Struktur des Schulsystems ran um die antisoziale Selektion und die Mehrgliedrigkeit hinter uns zu lassen. Dass längeres gemeinsames Lernen eine Lösung sein kann, ist hinreichend belegt. Aber es passiert nichts in Deutschland, weil u.a. die Reaktionäre aus der Kultusministerinnenkonferenz das Ständesystem des 19. Jahrhunderts erhalten möchten. Die heilige Kuh der Gymnasien muss endlich geschlachtet werden!

Von Rieveler wird gefordert, es solle sich in Schule und Gesellschaft "Intelligenz durchsetzen". Aber ist eine gemeinsame, kollektive Zusammenarbeit nicht viel besser? Die stärkeren Schüler sollten den Schwächeren helfen. Der Standard sollte nicht die Hervorhebung von Überlegenheit Einzelner gegenüber anderen sein - in einem Wettbewerbssystem des jeder gegen jeden. Das Helfen von schwächeren Schülern wäre doch eine perfekte Aufgabe und Herausforderung für schnellere Schüler und oder welche, die sich der Kategorie "Hochbegabt" zurechnen.

Die Ablehnung von IQ-Tests, ebenso wie "linke" und alternative Schulkonzepte von längerem gemeinsamen Lernen, weniger Selektion, dem Nichtvorhandensein von Schulnoten usw. haben nichts mit einem "Kult der Mittelmäßigkeit" zu tun. Im Kern geht es vielmehr um eine friedlich-kooperative Gesellschaft, in der Menschen sich schon in der Schule gegenseitig helfen, anstatt miteinander zu konkurrieren.

Zu guter Letzt wird im Artikel "Störfaktor Intelligenz" Alexander von Humboldt als Beispiel für ein "Genie" genannt. Eine Persönlichkeit, die im heutigen Bildungssystem angeblich keine Chance hätte, sich zu entfalten.

Als Adels-Sprössling wurde Humboldt im Einzelunterricht mit hervorragenden und teuren Privatlehrern gebildet und konnte sich seine lebensfüllenden Forschungsreisen nur aufgrund eines großen Vermögens aus einer Erbschaft leisten. Sein Wohlstand fußte dabei auch auf der Armut und Ausbeutung des preußischen Proletariats seiner Zeit. Und das alles in einer Zeit, in der den allermeisten Bürgern jegliche höhere Bildung prinzipiell verwehrt blieb.

Es darf kein Zurück geben zu einem solchen Ständesystem! Ganz nebenbei bemerkt vertrat Humboldt im Gegensatz zu Rieveler stets ein klar linkes, revolutionär-egalitäres, ganz und gar nicht elitäres Weltbild. Zudem ist anzunehmen, dass er es in heutigen Montessori- oder Waldorfschulen geschafft hätte, seinen Weg zu finden.

Die Zukunft der Bildung liegt sicher nicht im Versuch, einige wenige "Helden" hervorzubringen, sondern so vielen Menschen wie möglich höhere Bildung und kritisches Denken zu ermöglichen. Und zwar so freiheitlich, dass sie lernen, ihre Kreativität und Energie zum Nutzen der Menschheit einzusetzen, anstatt sich in einem Wettbewerb gegeneinander auf dem "Markt" zu positionieren. Dafür muss aber auch die Systemfrage für das staatliche Schulsystem gestellt werden.