Israels Singularität

Identitäten gibt es viele. Singularität nur einmal. Ich kenne zwei: … - und Israel

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Wann ist Kritik sogar an Israel erlaubt? Die offizielle Antwort darauf ist: Solange diese Kritik keine Israel-singuläre ist, d.h. keine, die nur gegen Israel vorgebracht wird. Mit anderen Worten: Universalisierbare Kritik ist auch gegenüber Israel erlaubt.

Diese Münze gehört zum argumentativen Kern des derzeitigen "Antisemitismus"-Diskurses. Und offensichtlich wird dieses Zahlungsmittel bisher auch von allen Seiten akzeptiert. Höchste Zeit also, dieses Mittel etwas näher zu betrachten. Ich will im Folgenden zeigen: Auch diese Münze ist mitunter Falschgeld.

Zur Erinnerung: Der für den ganzen Bereich Israelbezogener Antisemitismus wichtigste Satz der zu Recht zunehmend umstrittenen "IHRA- Arbeitsdefinition Antisemitismus"1 ist dieser (zunächst auf English, weil nur dieser Text der verbindliche sein soll):

However, criticism of Israel similar to that leveled against any other country cannot be regarded as antisemitic.

Hingegen kann eine Kritik an Israel, wie sie ähnlich auch gegen irgend ein anderes Land vorgebracht wird, nicht als antisemitisch betrachtet werden.

Meine Übersetzung

Und es war diese nicht singuläre und so auch nicht verbotene, vielmehr somit erlaubte Israel-Kritik, die man, wie von mir in "Genau wann ist Israelkritik antisemitisch?" getan, auch als universalisierbare Kritik bezeichnen könnte.

Alles klar? Und damit also: IHRA locuta, causa finita? Auf Deutsch: Die Arbeitsdefinition der IHRA sagt so-und-so. Also Debatte beendet?

Nun, das hätten wohl einige gerne. Ich nicht.

Daher noch einmal: Was heißt eine "Israel-singuläre Kritik" bzw. eben eine "nicht-universalisierbare Israel-Kritik" denn genau? Mit dieser Frage hatte mein letzter Beitrag (a.a.O.) geschlossen. Während dieser Beitrag jetzt mit eben dieser Frage beginnt. Zunächst etwas allgemeiner; und dann in der Tat wieder mit starkem Israel-Bezug.

Universalisierbare Kritik

Allgemein: Dass eine universalisierbare Kritik erlaubt sein soll, das hört sich nicht nur gut an: Es trifft auch genau den Kern dessen, weshalb wir allesamt das Insistieren auf der Universalisierbarkeit von Werten und Normen so toll finden: Denn deren Universalisierbarkeit besagt letztlich2 nichts anderes, als dass sie begründbar sind. Und wer will denn schon eine Kritik verbieten, für die sich gute Gründe vorbringen lassen?

Ja, es geht sogar noch schöner: Das Gründe-Vorbringen-Sprachspiel gilt zu Recht als die Heimat menschlicher (also sozial verankerter) Rationalität. Und schon sind wir bei einer Position gelandet, die stark konsensfähig sein dürfte: Rationale Kritik muss erlaubt sein; verboten werden darf - wenn überhaupt - allenfalls irrationale, nicht-begründbare, nicht-universalisierbare, sprich: singuläre Kritik.

So weit - und insoweit schön und sogar sehr gut. So läuft philosophisches Glasperlenspiel. Große Worte. Schöne Verbindungen. Klarer Durchblick. Was will man als Philosoph - auch als Analytischer - mehr?

Und so verstehe ich nun langsam auch, warum selbst viele meiner engsten philosophisch-analytischen Freunde und Freundinnen, zumindest am Anfang, auf meine Kritik an der IHRA-Arbeitsdefinition (vgl. die bisherigen Unterschriften zur Petition EINSPRUCH3) genau so reagiert hatten, wie wohl auch fast jeder andere in Sachen Realpolitik Unbedarfte blindlings bzw. blauäugig zunächst reagiert hätte - und wiederum viele bisher auch reagiert haben. Nämlich mit einem:

Was hast Du denn? Mit dieser Definition ist doch - von ihrer elenden Vagheit mal abgesehen - in Sachen Israel-Kritik alles in Ordnung. Rationale Kritik an Israel ist doch auch dieser Definition zufolge - und dies sogar expressis verbis - erlaubt!

Meine Antwort darauf?

Diese: Alles in Ordnung? In der Theorie - d.h. hier: begrifflich-intern - vielleicht ja, aber nicht in der Praxis! Und dieser Theorie-Praxis-Unterschied ist ein himmelweiter. Wer diese Differenz ignoriert, der übersieht, dass sich selbst mit der schönsten Ethik fast ganz problemlos auch die schlimmste Hölle auf Erden rechtfertigen läßt. Oder haben wir gar schon vergessen, zur Legitimierung welcher Verbrechen selbst der kategorische Imperativ Kants mit wahnsinnigem "Erfolg" zum Einsatz gekommen ist?

Zur Praxis der Israel-Kritik

Nun, wie müsste denn eine Praxis aussehen, um sich mit einer der von uns zu Recht so hochgeschätzten universalistischen Ethiken im Einklang zu befinden?

Die Menschheit brauchte furchtbar lange, bis die einfache Antwort auf diese Frage in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) auch als solche deklariert worden ist: Eine jede Ethik muss mit den universellen Menschenrechten übereinstimmen. Woraus folgt: Eine an diesen Rechten orientierte Kritik - und zwar eine Kritik der Politik eines jeden Staates und somit auch eine Kritik der Politik Israels im Besonderen - ist per se moralisch legitim.

Der Rest ist dann nur noch eine Tatsachenfrage: Welche Facetten der Politik eines Staates - ja, auch der Politik Israels! - stimmen mit den Menschenrechten überein und welche nicht? Und zum Glück gibt es für die Entscheidung über diese fraglichen Tatbestände inzwischen sogar - und das ist als der bisherige Gipfel der moralischen Entwicklung der Menschheit anzusehen - eigene zuständige Gerichte.

Zur realen Praxis: Die Realität sieht freilich anders aus. Ganz anders. Da jeder, der es wirklich wissen will, sich über diese Realitäten (der israelischen Besatzungs-, Siedlungs- und Appartheidpolitik, der Nichtanerkennung der eben genannten Gerichte etc.) selbst informieren kann4, hier nur noch eine kleine Anregung zu deren etwas grundsätzlicheren Beurteilung:

Die Crux des ganzen Problems in Sachen Israel-Kritik ist diese: Israel maßt sich an, über die Rationalität, Begründbarkeit, Universalisierbarkeit - und damit auch der legitimen Kritisierbarkeit - seiner eigenen Politik ausschließlich selbst entscheiden zu dürfen. Was heißt: Israel definiert sich selbst als eine mit anderen Ländern unvergleichbare Singularität. Kurz - und bei Gott wirklich nichts Neues: Israel sieht sich selbst als über dem Gesetz stehend an. Was Israel als richtig ansieht, sei das Gesetz. Und das haben auch alle anderen Länder zu akzeptieren! Was ein großer Teil der Staaten - bisher - auch tut. Und man beachte: Erst indem eine solche Singularität ohne Widerspruch geschluckt, geduldet, anerkannt bzw. gar gefördert wird, wird sie als eine solche auch wirksam. Erst dadurch kommt zustande, was Deutschlands Prämisse allen derzeitigen Redens über Israel und zu sein scheint: Israels Wille ist das Gesetz, das singuläre, das über allen anderen Gesetzen steht.

Universalisierbarkeit? Im Israel-Kontext eine wohlfeile Münze für Philosophen und Sonntagsreden.

Die Kern-Frage hinter allen derzeitigen Israel-Kritik-Fragen scheint mir somit schlicht und einfach diese zu sein: Wie steht es mit einer Kritik an diesem israelischen Singularitäts-Postulat? Wäre eine solche Kritik nun antisemitisch oder nicht?5 Und was sagt unser obiger so harmlos klingende englische Arbeitsdefinitions-Zusatz dazu? Und, liebe Leserinnern und Leser: Was sagen Sie?

Georg Meggle ist Analytischer Philosoph. Er lehrt derzeit in Kairo; und im kommenden Sommersemester mit einem Seminar "Ethische Interventionen: Zum Antisemitismus" wieder am Philosophischen Institut der Universität Salzburg. Zum Thema dieses Beitrags siehe den von ihm herausgegebenen Band: Deutschland-Israel-Palästina. Streitschriften, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt), 2007. Zu der im obigen Beitrag erwähnten Petition EINSPRUCH.