Die Jungfrau aus Schweden

Szenenfoto aus dem Film Jeanne d'Arc von Bruno Dumont. Bild: Copyright 3B Productions

Erlöserinnen: Die neue Macht der jungen Mädchen - ist Greta Thunberg eine Jeanne d'Arc unserer Zeit?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gebt den Kindern das Kommando/ Sie berechnen nicht was sie tun/
Die Welt gehört in Kinderhände/ Dem Trübsinn ein Ende/
Wir werden in Grund und Boden gelacht/ Kinder an die Macht/
Sie sind die wahren Anarchisten/ Lieben das Chaos, räumen ab/
Kennen keine Rechte, keine Pflichten/ Noch ungebeugte Kraft/ Massenhaft

Herbert Grönemeyer: "Kinder an die Macht"

Ein junges Mädchen, ein Kind fast noch, bezaubert ihre Epoche. Wie aus dem Nichts kommt sie; sie bringt Visionen und Gewissheiten, behauptet, sie wisse, was zu tun ist; sie entfaltet Charisma, und mit alldem gelingt es ihr, bis in die Hinterzimmer der Mächtigen vorzudringen, und manche zu überzeugen, ihr zu folgen. So schafft es das Mädchen, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, manche behaupten sogar: ihn ein für allemal zu verändern. Ein unglaublicher Vorgang.

Aber einer, der tatsächlich geschah: Vor rund 600 Jahren, als ein 18-jähriges Bauernmädchen im Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England die entscheidende Wende brachte und als Jeanne d'Arc zum nationalen Mythos wurde.

Parallelen zu unserer Gegenwart drängen sich auf: Denn überall erheben Kinder und Jugendliche ihre Stimme, wenden sich gegen die Selbstverständlichkeiten der Erwachsenenwelt, kündigen den Generationenvertrag, von dem sie sich betrogen fühlen. Und auch sie werden angefeindet: Hysterisch, sektiererisch, ja krank sollen sie sein - so wie die alten Männer der katholischen Kirche Jeanne in einem arrangierten Prozess auf den Scheiterhaufen schickten, bevor sie sie Jahrzehnte später heiligsprachen.

Auch bei Greta freuen sich die einen über den Idealismus einer neuen Jugendbewegung, andere fürchten den Fanatismus eines Kinderkreuzzugs - aber wieviel Jeanne d'Arc steckt wirklich in Greta Thunberg?

Charisma gegen die Regeln der Polis

Und worin liegt eigentlich diese neue Macht der jungen Mädchen? Denn das sind viele der jungen Aktivisten: Außer Greta muss man hier auch an Emma Gonzalez erinnern, jene 18-jährige, die im Februar 2018 den Amoklauf an ihrer Schule in Parkland, Florida überlebte, und drei Tage später unter Tränen eine Wutrede gegen Präsident Trump und die amerikanische Waffenlobby hielt: "Schämen Sie sich." Seitdem kämpft Gonzalez für schärfere Waffengesetze.

Oder Luisa Neubauer, das Gesicht der deutschen "Fridays for Future". Oder Sina Kamala Kaufmann, Science-Fiction-Schriftstellerin und Herausgeberin des deutschen Handbuchs der "Extinction Rebellion"-Bewegung, die den zivilen Ungehorsam gegen die Klimakrise propagiert. Oder, etwas älter und etablierter, "AOC", Alexandria Ocasio-Cortez, die mit 29 Jahren zur jüngsten Abgeordneten der Geschichte im US-Kongress gewählt wurde - die neue Ikone der trotzigen US-Jugend.

Es gibt ähnliche Figuren auch als fiktive in der Kunst: Ob Sophokles' "Antigone", ein Mädchen desselben Alters wie Greta, die "unumstößliche" göttliche Gesetze zitiert, um die Regeln der Polis, die weltlich-pragmatischen Gesetze des Staates und der Menschen umzustürzen, oder in der Romantrilogie "His Dark Materials" des britischen Oxford-Professors Philip Pullman (die gerade für die BBC verfilmt wurde und bei uns auf Sky zu sehen ist): Dessen Heldin ist die 12-jährige Lyra, die mithilfe besonderer Geräte, aber auch charismatischer Begabung und entschlossener Willenskraft gegen Hexen und Dämonen und vor allem ein böses "Magisterium" kämpft, das der Katholischen Inquisition nachempfunden ist.

Eine unglaubliche Geschichte

Jeanne d'Arc, die in Deutschland meist "Johanna von Orléans" genannt wird, wurde um 1411 als Kind einer wohlhabenden Bauernfamilie in Nordfrankeich geboren. Schon als Kind hatte sie religiöse Visionen, hörte Stimmen. Das eigentlich Sensationelle ihrer Geschichte ist, dass und wie es ihr überhaupt gelang, zum König Karl VII. vorgelassen zu werden, dass und wie es ihr dann gelang, den Monarchen zu überzeugen, ihr das Kommando über seine Truppen zu geben, und dass ihr dann tatsächlich ein Siegeszug ohnegleichen glückte, der innerhalb eines Jahres das Kriegsgeschick komplett wendete.

Aktuell erzählt der französische Filmemacher Bruno Dumont in zwei Teilen diese Geschichte - als Musical! Sein Film Jeanne d'Arc läuft seit Anfang Januar bei uns im Kino. Dabei bleibt Dumont immer ganz nahe an der Seite seiner Heldin, betont vor allem das Kindliche, Unschuldige: Die zackigen Bewegungen der kleinen Jeannette zur rockigen Musik zeigen eine natürliche Ekstase, durch die das Mädchen zur Aktivistin wird. In der Welt herrscht Untergang, und wie Greta Thunberg beklagt Jeannette, dass einfach nichts passiert. Beider Auftreten als solches war schon denkbar unwahrscheinlich. Beider Erfolg erst recht.

Hoher Ton und Rechthaberei

Die Parallelen zwischen Jeanne und Greta sind Beobachtern nicht entgangen. Der französische Philosoph Bruno Latour schrieb, der Film biete "einen guten Schlüssel, um die Tiefe der prophetischen Dimension von Greta Thunberg zu ergründen." Welch' ein selbstgewisses Urteil!

Es spiegelt sich in den eigenen Worten der vermeintlichen Prophetin: "Ich will, dass ihr in Panik geratet", rief Greta bekanntlich schon früh in ihrem entschlossenen Ton, und vor der UNO dann, mit weit aufgerissenen Augen, bebendem Körper und den Tränen nahe: "Wie könnt ihr es wagen!" Müssen wir uns nicht so in etwa auch Jeanne d'Arc vorstellen? Dieser hohe Ton ist eine offenkundige Parallele zur Jungfrau.

Die erklärte in ihrem Prozess, ihre Kläger hätten nicht die Autorität, die göttlichen Worte, die ihr von Engeln im Zwiegespräch offenbart worden seien, aus ihrem Mund zu hören. Nun hat Greta zwar keine göttlichen Visionen, hört keine Stimmen. Aber in dem von ihr mit ihrer Mutter Malena Ernman veröffentlichten Buch "Szenen aus dem Herzen" präsentiert die Mutter ihre Tochter als Auserwählte: "Greta gehört zu den wenigen, die unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge erkennen können. Sie sieht, wie die Treibhausabgase aus unseren Schornsteinen strömen, mit dem Wind in den Himmel steigen und die Atmosphäre in eine gigantische unsichtbare Müllhalde verwandeln. Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und wir sind alle nackt."

Mag man ihren hohen Ton und Gretas Rechthaberei noch als normale Arroganz der Jugend abtun, nehmen der heilige Ernst und die tragische Gewissheit solchen Sendungsbewusstseins bei Greta auch immer wieder Züge des Fanatismus an.

Es ist die Unbedingtheit einer Hypermoral, die die Gewissheit in sich trägt, an einer tieferen Wahrheit teilzuhaben und Botschaften höherer Mächte zu verkünden. Dazu kommen der Puritanismus des Entweder-Oder und der naive Glaube an einfache Lösungen.

Das Ende der Geschichte

Schließlich bleibt noch die Frage: Wer ist eigentlich dieses diffuse "ihr", an das Greta ihre Reden richtet? "Ihr habt meine Träume und meine Kindheit gestohlen!"; "Wir werden euch nie verzeihen!"; "Wir werden euch beobachten." Sie hätte nicht dicker auftragen können: Wir gegen "Ihr". So reden Ideologen und Gläubige, Menschen, die kein Pardon kennen.

Aber wer ist gemeint? Die Alten, die Erwachsenen, die Gegenwart? Oder ist es nicht vielmehr die Menschheitsgeschichte als solche, über die die junge Aktivistin ihr Urteil fällt? Denn die Geschichte von Wissenschaft und Industrialisierung der letzten 300 bis 400 Jahre, nicht etwa die Entscheidung einer Handvoll böser alter Männer in den Konzernzentralen, schuf die Verhältnisse, deren Folge jetzt die Erderwärmung ist. Sie schuf allerdings auch den Wohlstand, der die Menschheit so gut leben lässt, wie noch nie, und in deren Schoß kluge junge Mädchen wie Greta heranwachsen, die ihre Eltern jetzt herausfordern. Und sie schuf die Medienkonzerne, die Greta erst eine Stimme geben.

Diese Geschichte, nicht weniger als das, will die sendungsbewusste Greta jetzt beenden. Hier liegen die Unterschiede zur Geschichte der Jeanne d'Arc.

Erlöserfiguren und Utopisten gehörten schon immer zu Krisenzeiten, verbunden persönlichem Charisma aus Unschuld und Fremdheit - das Rätselhafte, der Ernst und die von manchen als Hysterie empfundene Übersensibilität machen einen Großteil von Greta Thunbergs Ausstrahlung aus. Greta allerdings erscheint vor allem als extrem kontrolliert, betont sachlich, eine mit Wissen hantierende Pragmatikerin, dagegen selten spontan oder gar inspiriert, und so gut wie nie humorvoll, witzig gar ironisch. Sie ist zugleich ein Kind und uralt in ihrer Ausstrahlung, mehr Yoda als jugendlich.

Die Projektionen der Alten in der Opa-Demokratie

Der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Wirkungsmacht der jungen Frauen und Mädchen liegt aber noch woanders. Sie alle sind nämlich am Ende Projektionen der Älteren. Es sind die älteren Generationen, die sich an der Selbstermächtigung der Jugend ergötzen, und hier sich selber noch einmal jung fühlen dürfen. Jung und unschuldig sind sie eine ideale Projektionsfläche.

Zugleich wächst der Generationenkonflikt in den Gesellschaften des Westens unverkennbar: Der Brexit wurde von den über 60-Jährigen entschieden, die Wähler europafeindlicher, rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien haben den höchsten Altersschnitt von allen, zugleich ist mehr als die Hälfte der Unionswähler über 60, über ein Drittel (36%) aller deutschen Wahlberechtigten über 60 Jahre alt.

Mit dieser "Opa-Demokratie" wollen die Jüngeren jetzt Schluss machen. So hat der Jugendrat der - überparteilichen - Generationen-Stiftung jetzt die Kampagne "Wir kündigen den Generationenvertrag" gestartet. Darin attackiert der Rat eine Politik, die sich auf ältere Menschen konzentriert, und in dieser "Altenrepublik" vermeintlich die Zukunft verspielt.

Und da fällt einem dann doch wieder Jeanne d'Arc ein. In Dumonts Film wird der aufwühlenden Rigorosen an einer Stelle entgegengehalten: "Sie denken, dass alle so fromm, erbarmenswert und gut sind wie Sie. Aber das ist ein schwerer Irrtum. Wenn Sie das Leben kennen würden... Aber Sie sind nur ein Kind. Sie kennen das Leben nicht. Sie kennen die Welt nicht."

Bücher:
Heinz Thomas: "Jeanne d'Arc: Jungfrau und Tochter Gottes"; Alexander Fest Vlg., 2000; 624 Seiten [Nach wie vor erhältlich und die beste deutschsprachige Biographie]

Gerd Krumeich: "Jeanne d'Arc: Die Geschichte der Jungfrau von Orleans"; Beck Vlg., Beck'sche Reihe; 2012; 128 Seiten. Kurze und kompakte, verlässliche Einführung

Claudia Langer (Hg.): "Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen!: 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft"; Blessing Vlg.; 2019; 272 Seiten

Sina Kamala Kaufmann; u.a. (Hg.): "Wann wenn nicht wir*: Ein Extinction Rebellion Handbuch"; S.Fischer Vlg. 2019; 256 Seiten

Greta Thunberg et al.: "Szenen aus dem Herzen"; S.Fischer Vlg., 2019, 256 S.

Filme:
"Jeanette: Kindheit der Jeanne d'Arc"
"Jeanne d'Arc"; seit 02.01.2020 im Kino