"Wenn wir überfördern, machen wir die Menschen unglücklicher"

Wolfgang Schäuble verteidigt den Zwang zur Arbeit als Garant "persönlicher Lebenserfüllung" - Ein Kommentar

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Wolfgang Schäuble muss nicht gerade darben. Jetzt ist er Präsident des Deutschen Bundestages, in dem er seit 1972 ununterbrochen sitzt, also 48 Jahre. Er kann sich auf eine Rente in Höhe von 6440 Euro freuen, die weit über dem Durchschnitt liegt. Auch als Präsident des Deutschen Bundestags muss er keinen Cent umdrehen, sondern erhält doppelte Abgeordnetenentschädigung, also jetzt etwas mehr als 20.000 Euro monatlich. Dazu kommen noch eine steuerfreie Kostenpauschale von fast 4500 Euro monatlich, die nicht belegt werden muss, und eine Amtsaufwandsentschädigung von ca. 1000 Euro.

Wir brauchen nicht alles aufzuzählen, um feststellen zu können, dass Schäuble sicher weit weniger Einkommen als Politiker erzielt als Manager von Unternehmen oder öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, dennoch liegt es weit über dem Durchschnittseinkommen der Deutschen. Das durchschnittliche monatliche Bruttoeinkommen der Privathaushalte in Deutschland belief sich nach der Deutschen Statistikbehörde im Jahr 2017 auf 4474 Euro, das durchschnittliche monatliche Bruttogehalt eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers lag im Jahr 2017 bei ca. 3770 Euro, das sind immerhin sechsmal weniger als Schäuble nur in Form der "Diät" bezieht. Wie hoch Schäubles Vermögen ist, lässt sich nicht sagen.

Nach dem Statistischen Bundesamt waren im Jahr 2018 "rund 15,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht und damit 18,7 % der Bevölkerung", also ein Fünftel. Als armutsgefährdet gilt eine Person, wenn sie über weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt, 2018 lag die Schwelle für eine alleinlebende Person bei 1136 Euro im Monat.

"Arbeit-macht-glücklich" - aber nur die Armen

Man muss das vorausschicken, weil Schäuble in einer Rede am Freitag beim Neujahrsempfang der Mittelstands- und Wirtschaftsunion Hamburg den Anspruch erhob, allen Menschen in Deutschland verordnen zu wollen, dass sie bloß nicht zu viel und schon gar nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen sollen, was Erben großer Vermögen immer haben. Das mochte der einstige Finanzminister, der Griechenland gnadenlos mit einer Austeritätspolitik beglückte, und der tief verstrickt in der Parteispendenaffäre der CDU war, lieber nicht thematisieren.

Aber Schäuble versicherte den wohlhabenden Unternehmern, dass man sich in der CDU sehr wohl Sorgen darüber macht, dass dem ärmeren Teil der Bevölkerung womöglich zu viel leistungsloses Einkommen gewährt werden könnte, was dazu führen könnte, dass sie Jobs im Niedriglohnbereich nicht mehr annehmen und damit die Profite der Unternehmen schmälern. Letztlich vertritt Schäuble die neoliberale "Arbeit-macht-glücklich"-Ideologie für die Unterschicht, dass jede Form der Lohnarbeit, auch mit dem höchsten Grad der Ausbeutung, besser für den Menschen sei, als sich der Ausbeutung nicht zu unterwerfen. Das ist die Ideologie, die früher zur Einrichtung von Arbeitshäusern führte, in denen Menschen gezwungen wurden, miese Arbeiten auszuführen, auch legitimiert dadurch, dass Arbeit der Sinn des Lebens ist und angebliche Faulheit der Armen ein Laster.

Man muss die Menschen knapp halten, verlangt Schäuble, damit sie sich dem herrschenden System unterwerfen und brav arbeiten, um die Profite der Arbeitgeber zu mehren, an die aber keine Askeseforderungen gerichtet werden: "Wir müssen die Balance zwischen Fordern und Fördern richtig einhalten. Denn wenn wir überfördern, zerstören wir die Motivation der Menschen (...) und machen sie unglücklicher." Das ist harter Tobak. Die Menschen zu zwingen, auch beschissene und unterbezahlte Arbeit annehmen zu müssen, wird als Strategie verkauft, diese glücklich zu machen und dem Elend zu entreißen. Die Reichen, die ihr Geld arbeiten lassen, das für Armut und Niedriglohnarbeit sorgt, sind offenbar nicht überfördert von der Gesellschaft, die steuerliche Belastungen heruntergefahren, also immer weniger gefordert hat.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das auch garantieren würde, dass nicht jede Arbeit aufgenommen werden muss, ist das Schreckgespenst von Schäuble und der Klientel, die er als CDU-Politiker vertritt. Wenn die Leute nicht mehr arbeiten müssten, würde der Staat ihnen den Anreiz nehmen, "ihre persönliche Lebenserfüllung zu finden", wird er zitiert. Danach wäre es die persönliche Lebenserfüllung, aufgrund von finanziellem Zwang Lohnarbeit leisten oder Einkommen aus selbständiger Tätigkeit erzielen zu müssen.

Wenn dieser Zwang wegfallen würde, so muss man Schäuble interpretieren, würden sich die Menschen auf die faule Haut legen, das macht sie unglücklich, während es ihnen letztlich bei jeder beliebigen Arbeit unter allen Bedingungen und geringem, auch ausbeuterischem Verdienst besser ginge. Bei dieser Losung "Arbeitszwang macht glücklich" ist nicht die Rede davon, dass es auch andere Tätigkeiten als Lohnarbeit oder Einkommen aus selbständiger Tätigkeit geben könnte und dass bei denjenigen, die durch Erbschaft ein leistungsloses Leben führen können, niemals die Rede von Fordern und Fördern ist.

Vor allem spricht Schäuble nicht davon, wie Arbeit besser organisiert und Einkommen gerechter verteilt werden können, einmal abgesehen davon, dass nach der christlich-abendländischen Kultur Arbeit nicht immer so hoch bewertet war. Lebenserfüllung fand man durchaus, wenn man es sich leisten konnte, in der Muße, Arbeit verrichteten die, die dazu etwa als Sklaven gezwungen wurden oder sonst nicht überleben konnten. Der Zwang zur Arbeit wurde in der beginnenden Neuzeit im Zuge des Protestantismus und schließlich der kapitalistischen Industrialisierung eingeführt, "Arbeitsscheue", die es natürlich nur unter den Armen gab, wurden mit Zwang in den gefängnisähnlichen "Arbeitshäusern" erzogen.

Schäuble gab sich erschreckt über die Zustimmung in Deutschland für einen in Medien fälschlich verbreiteten Plan der finnischen Regierung, die Vier-Tage-Woche einzuführen und den Arbeitstag auf sechs Stunden zu beschränken. Die Arbeitswoche hätte dann nicht 40 Stunden, sondern nur 24 Stunden. Angeblich stehe hinter dieser Idee die neue und junge finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, die aber nur mal kurz darüber gesprochen hatte, ohne dass ihre Regierung an der Arbeitszeit etwas verändern will.

Marin ist allerdings der Meinung, dass die "Utopie" kürzerer Arbeitszeiten mit ausreichendem Lohn bei wachsender Arbeitsproduktivität durchaus irgendwann Wirklichkeit werden könnte. Tatsächlich werden bedingungsloses Grundeigentum und Arbeitszeitreduzierung mitsamt einer Maschinensteuer oder anderen Veränderungen bei wachsender Automatisierung von auch komplexen Arbeitsvorgängen sogar notwendig werden, um den sozialen Frieden zu wahren. Eine Diskussion über die Reduzierung der Arbeitszeit müsse möglich sein, sagt die Sozialdemokratin Marin.

Und da will offenbar Schäuble präventiv reingrätschen. Von Verkürzung will er mit Scheuklappenblick auf die Gegenwart nichts wissen. In Deutschland würden wegen der Vergreisung Arbeitskräfte fehlen, zudem müssten die Menschen wegen der längeren Lebenszeit länger arbeiten, dazu komme der Klimaschutz, der nicht erfolgreich mit weniger Arbeit und mehr Freizeit sein könne: "Wir brauchen jeden, selbst der Schwerkranke kann anderen etwas geben", ließ aber dabei aus, wer dieses "Wir" ist, für die auch noch Schwerkranke etwas leisten müssen, wenn der nicht auch durch den Arbeitszwang erst seine Lebenserfüllung findet.

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