Medikamente und Drogen im Wandel gesellschaftlicher Erwartungen

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Substanzen im Spannungsfeld zwischen Individuum und seiner Umgebung

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Stellen wir uns ein Städtchen wie Erlangen vor, das im 15. und 16. Jahrhundert mehrmals zwischen die Fronten konkurrierender Fürsten geriet. Überfälle und Plünderungen machten den Bewohnern das ohnehin schon harte Leben schwerer. Kalte Winter, Hungersnöte und Großbrände taten ihr Übriges. Wie schön wäre doch ein Leben in Frieden und Sicherheit, ein Leben ohne die Angst, das mühsam Aufgebaute in Bälde wieder verlieren zu können? Oder neben Hab und Gut gleich das eigene Leben?

Wieder einmal zerstritten sich aber zwei Fürsten, belagerte der eine den anderen, der wiederum im Rachezug umliegende Dörfer und Städtchen überfiel und ausplünderte. Groß war das Leid unter den Bewohnern. Kurz nach einem solchen Überfall ereignete es sich, dass ein Zauberer einzog und den Unglücklichen einen Trank aus Kräutern und Pilzen anbot. Wer ihn nahm, der spürte bald eine tiefe Beruhigung. Die Angst löste sich auf. Einigen erschien gar die Heilige Mutter Gottes. So breitete sich Ruhe und neue Hoffnung unter den Bewohnern aus und sie machten sich einmal aufs Neue daran, ihr Städtchen aufzubauen.

Das ist zugegeben eine frei erfundene Geschichte. Sie ist aber auch nicht so unrealistisch, dass sie sich nicht so oder so ähnlich ereignet haben könnte. Überfälle, Plünderungen und Kriege sind historisch überliefert. Wissen um die psychotrope - das heißt: die Psyche beeinflussende - Wirkung einiger Pflanzen oder gar Tiere (Orsolini et al., 2018) war schon vor der modernen Psychopharmakologie vorhanden. Von den heute im Volksmund als "magic mushrooms" bekannten Pilzen wissen wir etwa, dass sie das Wohlbefinden steigern und Halluzinationen auslösen können, die mitunter spirituell gedeutet werden.

Das Beispiel zeigt Menschen, die durch andere Menschen in eine miserable Lage gebracht werden. Die moderne Traumaforschung hat ergeben, dass von Menschenhand stammendes Unglück im Allgemeinen schwerer erträglich ist als Notlagen, die in Folge von Naturkatastrophen auftreten. Die Bewohner aus der Fantasiegeschichte können sich allem Anschein nach gegen die fürstliche Übermacht auch nicht wehren. Unter diesen Umständen könnte man sagen, dass die psychotrope Substanz, der "Zaubertrank", den Menschen vielleicht dabei hilft, sich in ihr Schicksal zu fügen und das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Mit diesem Beispiel habe ich einen zentralen Punkt herausgearbeitet, in dem es mir in diesem Aufsatz geht: nämlich die Bedeutung des sozialen Zusammenhangs, in dem Substanzen konsumiert werden. Das ist deshalb so wichtig, weil die meisten medizinischen aber auch psychologischen Behandlungen auf das Individuum zielen. Medikamente und Psychotherapie - aber auch andere Techniken, die man unter Umständen als Selbstmedikation verstehen kann, wie etwa Meditation, Yoga oder eben Drogenkonsum - wirken unmittelbar im Körper des Betroffenen, nicht in dessen Umgebung.

Damit ist der wichtigste Spannungsbogen dieses Aufsatzes aufgezogen: das Verhältnis vom Individuum zu seiner Umwelt. Wer den Herausforderungen der heutigen Welt - denken wir an Arbeitsverdichtung, Mehrfachbelastungen, Konkurrenzdruck oder allgemein Stress - mit Substanzkonsum begegnet, der betreibt also Problemlösung auf der Ebene des Individuums.

Diese Feststellung ist wertneutral gemeint. Diese Lösungsstrategie könnte gut oder schlecht sein. Sie ist aber zumindest aus theoretischer Perspektive nicht zwingend notwendig, sofern die Probleme durch Prozesse von Menschenhand entstehen und damit auch von Menschenhand geändert werden könnten. Es gibt also prinzipiell alternative Lösungswege, die freilich in der Praxis mehr oder weniger leicht umsetzbar sind.

Der soziale Zusammenhang entsteht durch das Zusammenspiel vieler Menschen und ihrer Institutionen. Wenn man die berühmte Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation von 1946 zugrunde legt, der zufolge Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen ist, sondern ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens1, dann umfasst der Bereich der Medizin durchaus auch das Soziale. Folglich ist auch nicht nachvollziehbar, warum medizinische Interventionen prinzipiell nur auf das Individuum und nicht etwa den sozialen Zusammenhang zugeschnitten werden sollten.

Im Folgenden werde ich erst auf die Frage eingehen, was Drogen eigentlich sind. Damit werden einige Grundlagen für den Rest des Artikels geklärt. Danach werde ich den Konsum von Amphetamin (Szenename: "Speed") und Methylphenidat (im Medikament Ritalin®) zur Behandlung der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diskutieren. Bevor ich zur Schlussfolgerung komme, verweise ich kurz noch auf frühere Beispiele, wie gesellschaftliche Rollenbilder mit Substanzkonsum zusammenhingen und vielleicht auch heute noch zusammenhängen.

Was sind eigentlich Drogen?

Ich will darauf hinaus, dass "Droge" ein sozialer Begriff ist und keine natürliche Kategorie, denn nur dann kann sich die Bedeutung des Begriffs ändern. Aus heutiger Sicht nehmen wir an, dass Gold das Element mit 79 Protonen im Atomkern ist und auch war, selbst in Zeiten, in denen man noch nichts von Protonen oder Atomkernen wusste. Bei "Droge" ist das aber nicht so.

Das Wort stammt wohl vom niederländischen droog = trocken und bezeichnete ursprünglich getrocknete Güter, vielleicht Kolonialwaren mit stimulierender oder berauschender Wirkung. Noch heute lassen sich getrocknete Kräuter in der "Drogerie" kaufen, freilich neben einem ganzen Sortiment neuerer Ernährungs-, Pflege-, Kosmetik- und Gesundheitspräparate.

Die Drogen grenzen wir in aller Regel auf zwei Seiten ab: nämlich einerseits von den Medikamenten und andererseits von den Genussmitteln. Viele Medikamente (man denke an Schmerzmittel) und Genussmittel (etwa Alkohol oder Kaffee) wirken psychotrop, auf die Psyche, verstehen wir aber nicht als Drogen. Bei Medikamenten gehen wir davon aus, dass diese zur Behandlung von Krankheiten verwendet werden; Genussmittel werden wegen ihres Geschmacks, ihrer anregenden oder beruhigenden Wirkung konsumiert.2 Für diese Abgrenzungen sind neben der Abwägung von Nutzen und Risiken der Mittel auch Traditionen und Interessengruppen ("Lobbys") relevant. Um diese Aspekte der Drogen- und Gesundheitspolitik soll es hier aber nicht weiter gehen.3

Wichtig ist hingegen die Unterscheidung verschiedener Klassen von Substanzen im Betäubungsmittelgesetz (BtMG), insbesondere dessen Anlagen I und III. In Ersterer werden die verbotenen, so genannten nicht verkehrsfähigen Mittel aufgelistet, etwa LSD. Dies sind psychotrope Substanzen, die der Gesetzgeber ohne Ausnahme für gefährlich hält und damit generell verbietet.

In Anlage III sind hingegen die sogenannten verkehrs- und verschreibungsfähigen Substanzen aufgenommen, beispielsweise Amphetamin. Auch diese psychotropen Substanzen werden für gefährlich gehalten - oder, wie manche Fachleute und Politiker gerne sagen, besitzen ein "Missbrauchspotenzial". Doch hier gib es Ausnahmen für Fälle, in denen der Nutzen die Risiken überwiegt, vor allem bei medizinischen Behandlungen.

In diese Anlagen können nun neue Substanzen aufgenommen oder alte daraus entfernt werden. Eine Substanz kann ebenfalls von einer Anlage in eine andere verschoben werden, wenn sich beispielsweise die Nutzen-Risiko-Abwägung verändert. Das könnte etwa dann passieren, wenn es neue, sicherere Alternativen gibt oder sich herausstellt, dass eine Substanz schädlicher ist, als man zuvor dachte.

Wie schon der Begriff "Droge", so ist auch der gesetzliche Begriff des "Betäubungsmittels" veränderlich - und er verändert sich tatsächlich. Philosophisch könnte man sagen, dass es sich bei diesen Begriffen um soziale Konstrukte handelt, also im Wesentlichen um Definitionen, Vorstellungen und Ideen, die von den Menschen selbst gemacht sind. Darum sind sie aber nicht weniger real. Das wird jeder feststellen, der von der Polizei beim Besitz einer Substanz aus der Anlage I aufgegriffen wird.

Nun kritisieren einige namhafte Wissenschaftler, allen voran der britische Pharmakologe David Nutt, diese gesetzliche Unterscheidung als irrational. So würden tendenziell gefährlichere Substanzen wie Alkohol nur leicht reguliert, eher gefahrlose Substanzen wie Ecstasy, LSD oder Cannabis hingen stark reguliert, bis hin zum völligen Verbot mit schweren Strafandrohungen (Kupferschmidt, 2014; Nutt, King, Saulsbury & Blakemore, 2007).

Es wird von diesen Forschern sogar argumentiert, dass Alkohol größere soziale Schäden hervorrufen würde als Heroin, auch wenn Letzteres Individuen mehr schade. Dabei muss man aber auch die wesentlich größere Verbreitung von Alkohol berücksichtigen. Und trotz des vielen Leids, das etwa durch Alkoholkonsum verursacht wird, können sehr viele Menschen damit auch vernünftig umgehen, wie dies beispielsweise Christian Müller hier kürzlich vertrat (Die Droge als Instrument). Dennoch ist damit gezeigt, dass man den Status quo der heutigen Drogenpolitik mit wissenschaftlichen Argumenten unter Druck setzen kann.

Dieser Abschnitt kann zwar keine endgültigen Antworten liefern, eben auch weil sich das Thema in einem permanenten gesellschaftlichen Wandel befindet. Dennoch lässt sich die wichtige Zwischenbilanz ziehen, dass die Unterscheidung zwischen Medikamenten, Drogen, Genussmitteln und schließlich Betäubungsmitteln im gesetzlichen Sinn eine gesellschaftlich-politisch vorgenommene ist. Dabei spielen verfügbare Alternativen, Zwecke, Traditionen, Moralvorstellungen und finanzielle Interessen in unterschiedlichem Maße eine Rolle.

In der heutigen Gesundheitskultur, in der das Verringern von Gesundheitsrisiken und -kosten ein wichtigeres Ziel geworden ist, steht beispielsweise Alkohol vermehrt unter Druck. Das sahen wir nicht nur bei der Forscherinitiative um den Pharmakologen David Nutt, sondern das äußert sich auch in Medienberichten, die selbst kleinste Gesundheitsrisiken bei nur geringem Alkoholkonsum in kampagnenartiger Form aufgreifen (Brauchen wir ein Alkoholverbot?). Das ist insofern besonders auffällig, als der Konsum dieses Genussmittels in vielen Ländern sowieso rückläufig ist.4 Auch in Deutschland sank er laut OECD-Zahlen im Zeitraum von 2000 bis 2013 um 15 Prozent.5

Selten wird in solchen Diskussionen thematisiert, dass Alkohol nicht nur ein Konsumwunsch von wahrscheinlich Milliarden Menschen auf dieser Welt ist, sondern auch eine bestimmte psychische Funktion erfüllt: Denken wir beispielsweise an die Entspannung nach einem langen Arbeitstag oder die Überwindung von Schüchternheit auf einer Feier (Die Droge als Instrument). Das heißt, auch der Alkoholkonsum findet (oft) in einem sozialen Zusammenhang statt. Wenn man die stärkere Regulierung dieser Substanz diskutiert, dann muss man auch berücksichtigen, dass Menschen nach anderen Mitteln suchen werden, um ihre psychosozialen Bedürfnisse zu befriedigen.

In Großbritannien wurde erst im April 2018 eine Zuckersteuer auf Softdrinks eingeführt. Dieser Schritt wurde gesundheitspolitisch gerechtfertigt. Umgekehrt wurde dort die Verschreibungspflicht des Potenzmittels Viagra® abgeschafft. Interessenten können es nun auch ohne Rezept in Apotheken kaufen. Auch dies sind Beispiele dafür, wie Genussmittel stärker oder Medikamente schwächer reguliert werden können. Viagra, vor rund zwanzig Jahren zum ersten Mal zugelassen, wurde ursprünglich zur Behandlung männlicher Erektionsstörungen und später auch für bestimmte Blutdruckstörungen angewendet.

Man kann sich nun fragen, ob dessen breitere Verwendung in der Gesellschaft zur Verlängerung des Geschlechtsverkehrs nicht vielmehr der eines Genussmittels entspricht. In der englischsprachigen Literatur hat sich dafür der Begriff "lifestyle drug" durchgesetzt, also eine Substanz beziehungsweise Droge, die einen bestimmten Lebensstil ermöglicht oder zumindest unterstützt. Im folgenden Abschnitt wird es darum gehen, inwiefern die zunehmende Verschreibung der Substanzen Amphetamin und Methylphenidat zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ein ähnliches Lebensstil-Phänomen sein könnte.

Amphetamin, Methylphenidat und ADHS

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, abgekürzt ADHS, ist in dieser Form seit 1987 im Diagnosehandbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung beschrieben. Die Störung zeichnet sich durch mangelnde Aufmerksamkeit und/oder übertriebene Impulsivität aus. In den Jahrzehnten davor wurden die Bezeichnungen "Minimal Brain Damage", "Minimal Brain Disorder" oder "Minimal Brain Dysfunction" (MBD) verwendet. Man dachte, dass Kinder mit bestimmten Verhaltensauffälligkeiten automatisch eine Gehirnstörung haben müssten. Die Kategorie MBD kam in den 1960er und 1970er Jahren jedoch zunehmend in die Kritik (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS).

Wichtig ist, dass es für MBD, ADHS sowie alle anderen psychischen Störungen keine objektiven, das heißt beobachterunabhängigen Diagnosekriterien gibt. Vielmehr stellt ein Psychologe, Psychiater oder Hausarzt die Abweichung einer irgendwie zustande gekommenen Norm fest, die mit subjektivem Leiden und/oder eine Einschränkung des Lebens einhergeht (Schleim, 2018a, 2018b).

Das häufig vorgetragene Argument, bei psychischen Störungen handle es sich um Krankheiten im medizinischen Sinne, führt insofern in die Irre, als für die psychischen Störungen bisher gerade keine zuverlässigen diagnostischen biologischen Merkmale wie Bakterien, Viren, Gene oder andere Laborwerte gefunden wurden (Frisch, 2016). Dabei muss man wissen, dass schon seit über 170 Jahren danach gesucht wird.

Dass die Diagnose psychischer Störungen in entscheidender Weise von Normen abhängt (Stier, 2013; Tebartz van Elst, 2017), erinnert uns an die Feststellung der Einleitung, dass auch hier ein sozialer Zusammenhang mitspielt. Die Norm - aus dem Lateinischen und Griechischen für Regel oder Maßstab - kommt ja nicht aus dem Nichts, sondern aus der Gesellschaft und ihren Institutionen.

Ich bin nicht für ein Urteil qualifiziert, wie Normabweichend das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen sein muss, um berechtigterweise von einer psychischen Störung zu sprechen. Im Folgenden möchte ich aber einige bedenkenswerte und wahrscheinlich auch bedenkliche Trends im Zusammenhang mit der Diagnose und Therapie von ADHS diskutieren.

Zunächst einmal galt ADHS lange Zeit als eine Entwicklungsstörung des Kindes- und Jugendalters. Seit einigen Jahren hat sich aber die Vorstellung durchgesetzt, dass es auch eine Erwachsenen-ADHS gibt (Lange et al., 2010). Tatsächlich berichtete die Barmer-Ersatzkasse in ihrem Arztreport 2018 eine Zunahme der Diagnosen dieser Störung um 512% bei den 18- bis 25-Jährigen in den Jahren 2005 bis 2016. Im Mittel stieg die Diagnose von psychischen und Verhaltensstörungen in dieser Altersgruppe und diesem Zeitraum um 38%, von rund 1,4 auf 1,9 Millionen.

Eine deutliche Sprache sprechen auch die Produktionszahlen der zwei wichtigsten Substanzen zur Behandlung von ADHS in den USA, nämlich Amphetamin und Methylphenidat. Wie auch in Deutschland und vielen anderen Ländern, ist deren Besitz nur unter bestimmten Ausnahmen erlaubt, vor allem auf besondere Verordnung eines Arztes. Dennoch stieg deren jährliche Produktion schon in den 1990er Jahren stark an und erreichte 1999 erstmals über 20.000 kg. Schon damals warnte die WHO vor den stark ansteigenden Verschreibungen an Kinder und Jugendliche.

Aus heutiger Sicht, gerade einmal zwanzig Jahre später, erscheinen diese Zahlen jedoch fast vernachlässigbar klein. Inzwischen werden in den USA jährlich davon mehr als 100.000 kg produziert, in den Jahren 2013 bis 2016 sogar rund 140.000 kg pro Jahr. Die jährliche Produktion ist damit heute höher als die der ganzen Dekade der 1990er (siehe Abbildung). Neben Kindern und Jugendlichen konsumieren inzwischen auch viele Erwachsene diese Substanzen auf Rezept.

Die jährlichen Produktionszahlen für Amphetamin (rot) und Methylphenidat (blau; beide in kg) in den USA nach Vorgaben der Regierung. Quelle: Federal Register

In Deutschland gab es bis zum Jahr 2012 einen vom Muster her ähnlichen Anstieg, jedoch auf einem niedrigeren Niveau. Damals wurde entschieden, dass ADHS nicht mehr automatisch medikamentös behandelt werden darf, sondern erst ein anderer Therapieversuch zum Umgang mit den Problemen unternommen werden muss.

In Dänemark gab es auch einen ähnlichen Anstieg wie in Deutschland; im Vereinigten Königreich jedoch nicht. Dort bekommen nur wenige Kinder und Jugendliche die Mittel verschrieben. In den Niederlanden werden die ADHS-Medikamente seit 2011 an diese Personengruppe jedoch sogar häufiger verschrieben als in den USA (Bachmann et al., 2017).

Manche Fachkollegen behaupten, die Störung werde inzwischen eben besser diagnostiziert. Wie wir gesehen haben, ist das Störungsbild in seiner heutigen Form - mit kleineren Anpassungen - bereits seit 1987 festgelegt. Schon in den 1990er Jahren gab es Diskussionen darüber, ob die Diagnose zu häufig gestellt und die Mittel zu oft verschrieben werden.

Die genannte Erklärung würde bedeuten, dass man die Mehrheit der Betroffenen in den vergangenen zehn bis dreißig Jahren schlicht übersehen hätte. Ohne konkrete Erklärung, worin der diagnostische Fortschritt bestehen sollte, kann sie aber nicht überzeugen.

Drei andere Erklärungen hängen wahrscheinlich miteinander zusammen: Psychotherapeuten und Ärzte würden immer mildere Formen psychischer Störungen diagnostizieren, die Menschen seien heute besser über psychische Störungen informiert und suchten daher eher professionelle Hilfe und immer mehr Probleme des heutigen Lebens würden in medizinischer Weise verstanden, wodurch die Hilfe vom Arzt oder Therapeuten naheliege.

Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie den sozialen Zusammenhang des Themenkomplexes psychischer Störungen hervorheben: Wie wir über unsere Probleme kommunizieren, beeinflusst unser Verständnis und unseren Umgang mit uns selbst, anderen und den Institutionen unserer Gesellschaft.

Eine fünfte Erklärung geht davon aus, dass tatsächlich mehr Menschen psychische Probleme haben, in unserem Fall also vor allem Aufmerksamkeitsprobleme. Dieser Ansatz ist so politisch brisant, wie in der Fachwelt umstritten. Führende Epidemiologen behaupten beispielsweise, die Häufigkeit psychischer Störungen habe sich kaum verändert. Dabei suchen deren Forschungsinstrumente aber vor allem nach der Häufigkeit bestimmter Symptome in der Gesellschaft und berücksichtigen kaum, inwiefern das Leben der Menschen dadurch eingeschränkt ist (Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit).

Mit anderen Worten: Nicht jeder, der diesen Untersuchungen zufolge eine Störung hat, braucht wirklich Hilfe. Das sieht man schon daran, dass die jährliche Prävalenz mindestens einer Störung von diesen Forschern auf rund 40% geschätzt wird (Wittchen et al., 2011). Das Gesundheitssystem verfügt bei weitem nicht über die Ressourcen, so viele Menschen mit psychischen Problemen zu behandeln; und würden so viele Menschen das überhaupt wollen?

Zu einer Katastrophe hat das bisher in noch keinem Land geführt. Am Rande sei erwähnt, dass es aber gerade bei den Menschen mit den größten Problemen eine Unterbehandlung gibt: Einerseits fehlt es diesen vielleicht am Antrieb, sich Hilfe zu suchen; andererseits sind sie für die gewinnorientierten Anbieter auf unserem Gesundheitsmarkt auch am wenigsten attraktiv.

Die Frage, was Drogen sind, ließ sich nicht eindeutig beantworten. Auch mit der Frage, wie der Anstieg der ADHS-Diagnosen und der damit ansteigende Medikamentenkonsum zu erklären ist, verhält es sich so. Das liegt auch daran, dass sich Ursache-Wirkungsbeziehungen bei solchen komplexen gesellschaftlichen Themen schwer nachweisen lassen. Fest steht aber, dass der Anstieg - das gilt nicht nur für ADHS, sondern auch viele andere psychische Störungen - ein tatsächliches Phänomen ist, das in verschiedenen Ländern und Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt ist und wissenschaftliche, ethische und gesellschaftspolitische Fragen aufwirft.

Wichtig ist hier auch der Hinweis, dass eine entsprechende Diagnose mitunter Vorteile und Privilegien bringt: So können Schüler und Studierende unter Umständen mehr Zeit zum Bearbeiten von Klausuren bekommen; Sportler können sich dann stimulierende Mittel verschreiben lassen, die andernfalls als Doping verboten wären. Selbst wenn diese Substanzen einem nur das Gefühl geben, wacher zu sein, länger durchhalten zu können, mehr Energie zu haben oder Schmerzen länger auszuhalten, so können wir uns doch viele Situationen der heutigen Gesellschaft vorstellen, in denen dies vorteilhaft ist.

Insofern könnte es durchaus sein, dass Amphetamin oder Methylphenidat von vielen genommen wird, nicht um eine medizinische Krankheit zu behandeln, sondern um einen bestimmten Lebens- oder Arbeitsstil zu unterstützen, also als "lifestyle drug". Es grenzt fast an ein Wunder, dass die Verwendung solch einer Substanz, die sonst als Täuschungsversuch und/oder Straftat aufgefasst wird, durch die Diagnose einer nicht objektiv feststellbaren psychischen Störung legitimiert wird. Dazu noch ein paar abschließende Gedanken.

Substanzen und gesellschaftliche Rollenbilder

Substanzen wie Amphetamin oder Methylphenidat sind keine neuen Entdeckungen, sondern stammen aus den 1930er und 1940er Jahren. Schon früher wurden sie zur Leistungssteigerung am Arbeitsplatz, im Studium oder im Sport verwendet (Schleim & Quednow, 2017, 2018).

In den meisten Kriegen des 20. Jahrhunderts dürften sie eine wichtige Rolle gespielt haben. Belegt ist etwa, dass die Deutsche Wehrmacht sie für ihren Blitzkrieg verwendete (Ohler, 2015). Die verschiedenen gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie ebenfalls großen Anklang fanden, wurden bereits andernorts beschrieben (Dany, 2008; Rasmussen, 2008).

Darin äußert sich aber auch ein etwas widersprüchlicher Umgang mit den Mitteln durch unsere Gesellschaft und ihre Institutionen: Geht es um besseres Arbeiten in Schule oder im Studium und liegt eine Diagnose vor, dann ist der Konsum gesellschaftlich gewünscht. Hochrangige Experten räumten tatsächlich schon vor vielen Jahren ein, dass dabei eine moralische Komponente mitschwingt (Schleim, 2014).Will ein Land seine Interessen militärisch durchsetzen, dann gehört der Substanzkonsum mitunter zur soldatischen Pflicht.

Wollen Menschen mit solchen Mitteln aber schlicht auf Partys länger Spaß haben, dann ruft das prinzipiell Polizei und Staatsanwaltschaft auf den Plan. Ob Personen in verantwortungsvollen Positionen - denken wir an operierende Ärzte oder Piloten - zu den Mitteln greifen sollten oder eben Schüler und Studierende auch ohne psychische Störung, ist seit mehr als zehn Jahren Gegenstand der Diskussion um das "Cognitive Enhancement" oder "Gehirndoping".

Dabei sei auch kurz auf die Pharmakologie der Substanzen verwiesen: Methylphenidat und das hierzulande eher verpönte, in den USA aber wieder sehr beliebte Amphetamin ("Speed") ähneln sich auf molekularer Ebene. Der Unterschied zwischen Letzterem und dem gesellschaftlich geächteten Methamphetamin (Szenename: "Crystal Meth"), das übrigens viele Wehrmachtssoldaten auf offiziellen Beschluss als "Panzerschokolade" verzehrten, beträgt im Wesentlichen eine Methylgruppe (chemisch: CH3).

Wie weiter oben erklärt, ist der Unterschied zwischen Genussmittel, Medikament und Droge kein naturwissenschaftlicher, sondern ein vom Menschen gemachter. Die Analyse, welche Substanzen wir für welche Zwecke erlauben, ist also auch ein Spiegel der Normen unserer Zeit.

Dann überrascht es auch nicht, dass Untersuchungen zur Verbreitung von "Gehirndoping" unter Studierenden herausfanden, dass dieses Verhalten in Umgebungen mit größerem Wettbewerb häufiger vorkommt (Schleim & Quednow, 2017, 2018).6 Es ist nicht anzunehmen, dass Menschen mit einer ADHS-Problematik ausgerechnet solche Umgebungen wählen; wohl aber könnte in so einer Umgebung ein vergleichsweise niedrigeres Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration schneller auffallen. Wieder einmal stoßen wir so auf die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhangs (Schleim, 2014).

Das macht die Erinnerung daran wichtig, wie schon früher Medikamente oder andere Mittel für gesellschaftliche Zwecke eingesetzt wurden. Der Psychiater Peter Kramer, der in den 1990ern Psychopharmaka an Menschen ohne psychische Störungen verschrieb und mit seinen Erzählungen über die Effekte weltberühmt wurde, machte schon damals auf die "Mother's Little Helpers" aufmerksam (Kramer, 1993).

So wurden in den 1950ern und 1960ern Aufputsch- oder Beruhigungsmittel häufig an Frauen verschrieben, die Mühe mit ihren Aufgaben in der Kindeserziehung oder im Haushalt hatten. In Deutschland wurde von den 1950ern bis frühen 1980ern das Mittel "Frauengold" vermarktet - im Wesentlichen enthielt es Alkohol -, das Frauen ausdrücklich beim Bewältigen des Alltags, des Berufs oder der Liebesbeziehung helfen sollte.

Wieder einmal sehen wir, dass der Fokus auf die Substanzen auf das Individuum zielt und nicht darauf, etwas an dessen Lebensumständen zu verändern. Die Frage, ob Amphetamin, Methylphenidat sowie andere Substanzen die kleinen Helferlein oder das "Menschengold" von heute sind, lasse ich hier für die Beantwortung durch die Leserin oder den Leser im Raum stehen. Dass es die Mühe wert ist, darüber nachzudenken, scheint mir aber offensichtlich.

Schlussfolgerung

Wir begannen mit einer Einleitung, die den Bogen dieses Themenkomplexes vom Individuum zur Gesellschaft spannte. Der gesellschaftliche Zusammenhang spielte sowohl bei der Frage, was Drogen sind, als auch bei der Analyse des Medikamentenkonsums zur Behandlung der ADHS eine Rolle.

Im letzten Abschnitt haben wir einige Indizien darüber kennengelernt, dass psychotrope Substanzen zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen gebraucht werden können. Wie wir eingangs gesehen haben, schließt der Gegenstandsbereich der Medizin über die Gesundheitsdefinition ausdrücklich auch das Soziale mit ein.

Aus sich heraus ist nicht nachvollziehbar, wieso die meisten medizinischen oder psychologischen Interventionen dann ausschließlich oder vor allem aufs Individuum abzielen und nicht auf den gesellschaftlichen Zusammenhang. Das psychiatrische Diagnosehandbuch der Amerikanischen Vereinigung umfasst, je nach Zählweise, rund 150 bis 600 verschiedene Störungen. Allerdings beschreibt keine einzige von ihnen eine abnormale oder gestörte Umgebung, sondern nur abnormale oder gestörte Personen.

Dabei wissen wir um den prägenden Einfluss der biologischen wie sozialen Umwelt auf Körper und Geist des Menschen. Es wäre die Aufgabe eines politischen Aufsatzes, diesen Fokus auf das Individuum vor dem Hintergrund des vorherrschenden neoliberalen Denkens zu analysieren. Denn auch dabei geht es um die Vernachlässigung des sozialen Zusammenhangs und das Hervorheben der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied; und damit auch, wohlgemerkt, seines eigenen Versagens.

Wenn es um Drogen und Medikamente geht, dann geht es also auch um Mensch und Gesellschaft. Substanzen können in diesem Spannungsfeld einen wichtigen Beitrag leisten. So gewannen die Bewohner des mittelalterlichen Städtchens nach einer Plünderung durch den "Zaubertrank" neue Hoffnung. Wer würde es ihnen verübeln, wo ihre Lage angesichts der fürstlichen Übermacht doch aussichtslos erschien? Wer alle Probleme auf diese Weise löst, also individualisiert, dem muss aber klar sein, dass er die Welt damit entpolitisiert und entsozialisiert.

Der Mensch wird dann letztlich eine biologische Maschine, die ähnlich wie ein Roboter an die Anforderungen der Umgebung angepasst wird. Gesetzgeber, Ärzte und Psychotherapeuten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Unsere Gedanken über Medikamente und Drogen unterliegen einem Wandel, auch in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Erwartungen. Das heißt, dass sie sich jederzeit wieder ändern können.

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Hinweis: Dieser Artikel erschien in ähnlicher Form bereits im Sammelband "altered states: Substanzen in der zeitgenössischen Kunst" im Zusammenhang mit der gleichnamigen Ausstellung des Kunstpalais Erlangen. Wir danken dem Kunstpalais für die freundliche Genehmigung der Zweitveröffentlichung.