"Das Regime ist nicht überlebensfähig"

Bild: Khamenei.ir/CC BY 4.0

Proteste gegen eine Einmischung von außen und gegen das System - Farhad Payar zur Lage in Iran

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Die Lage in Iran kommt nicht zur Ruhe. Seit dem Eingeständnis der iranischen Regierung, versehentlich ein Passagierflugzeug abgeschossen zu haben, gibt es neue Proteste gegen das System, und die Befürchtung, dass die Behörden erneut mit Gewalt reagieren könnten, steht im Raum.

Bei Massenprotesten im November waren Hunderte Menschen getötet worden. Wie ist die Lage im Land, wie sehen die Iraner das System Khamenei und die Einmischung aus den USA und der EU? Darüber sprach Telepolis mit dem Journalisten Farhad Payar, der als Chefredakteur des Iran Journals die Berichterstattung der Massenmedien ergänzen und auch Einblicke abseits der großen Aufregerthemen geben möchte.

Kürzlich gingen Millionen Iraner auf die Straßen, um Ghassem Soleimanis zu gedenken, nun gibt es neue Proteste gegen die Regierung. Wie groß ist der Rückhalt noch, den Khamenei und Rouhani in der Bevölkerung haben?

Farhad Payar: Die Tötung von Soleimani hat das System nicht in großem Maße gestärkt. Die Islamische Republik hat in den letzten Jahren viele Anhänger verloren, und zwar auch innerhalb des Systems. Selbst viele Hardliner sehen inzwischen, dass es nicht um einen islamischen Staat geht, sondern nur um die Person von Ayatollah Khamenei, der das System repräsentiert, und kehren ihm den Rücken.

Soleimanis Tötung war ein Akt einer ausländischen Macht, das hat viele verärgert, es waren Islamisten, Nationalisten, Linke und Rechte, die auf die Straße gingen, aber die normale Bevölkerung hat damit nicht viel am Hut. Das System hat nur noch, vorsichtig gesagt, fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bürger hinter sich.

Das sind einerseits Leute, die ideologisch gefestigt sind und andererseits solche, die Vorteile haben. Vor zwei Jahren zeigte eine Untersuchung des Parlaments, die rasch in der Schublade verschwand, dass achtzig Prozent der Iraner nicht mit dem System einverstanden sind.

Was treibt die Studenten aktuell auf die Straßen?

Farhad Payar: Schon zur Schah-Zeit haben die Studenten stellvertretend für die fehlenden Parteien und Gewerkschaften die Interessen der Menschen verteidigt. Nach der Islamischen Revolution 1979 hat das nachgelassen, doch als klar wurde, dass die Islamische Republik im Grunde auch wieder nur ein Einparteiensystem ist, nahm der Protest wieder zu. Heute gehen sie gegen Ungerechtigkeit, gegen Armut und fehlende politische Mitbestimmung und persönliche Freiheit auf die Straßen.

Studentinnen und Studenten der Amir Kabir Universität in Teheran, von der die seit Samstag anhaltenden Proteste ausgingen, haben ein Statement veröffentlicht, in dem sie Demokratie fordern und den Despotismus der iranischen Regierung ebenso ablehnen wie imperialistisch motivierte Einmischungen von außen. Ist das eine mehrheitsfähige Position in Iran?

Farhad Payar: Es gibt dazu keine Umfragen, daher ist das schwer zu sagen. Aber meine Gespräche mit Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten in Iran geben mir den Eindruck, dass ein erheblicher Teil gegen eine Einmischung von außen ist. Weil sie sehen, dass es nichts bringt. Aber es gibt auch andere, die sagen: Seht nach Deutschland, dort hat die Einmischung die Befreiung gebracht.

Aber die Menschen sehen auch, dass die aktuellen Sanktionen eben nicht die Machthaber treffen, sondern die Bevölkerung. Eine Unterstützung des Systems wird ebenso abgelehnt. Russland und China, aber auch Europäer hofieren die Machthaber, auch diese Form der Einmischung wollen die meisten Iraner nicht.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich das brutale Vorgehen vom vergangenen November wiederholt?

Farhad Payar: Zum einen ist davon auszugehen, dass die Menschen weiter demonstrieren werden. Weil sie keine Wahl haben. Laut Zahlen der staatlichen Gewerkschaften leben bis zu neunzig Prozent der iranischen Arbeiter unter der Armutsgrenze. Lehrer brauchen zwei Jobs, um sich über Wasser zu halten, eine Mittelschicht gibt es kaum noch.

Es gibt fast nur noch Arme und Superreiche. Die Probleme, wegen denen so viele im November protestiert haben, sind ja nicht aus der Welt, im Gegenteil. Und die neuen US-Sanktionen werden die Lage nochmal verschlimmern. Und das Regime wird wieder schießen, weil es sich nur noch mit Gewalt an der Macht halten kann. In seiner jetzigen Form ist das Regime nicht mehr überlebensfähig.

US-Präsident Trump sagt den Demonstranten Unterstützung zu - wie kommt das bei der Opposition an?

Farhad Payar: Die Reaktion vieler Menschen sind Hohn und Gelächter. Trump wird von den meisten Iranern nicht ernstgenommen. Ein Beispiel: Gestern passierten die Demonstranten in Teheran eine Stelle, wo die israelische und die amerikanische Flagge auf die Straße gemalt sind. Die Regierung will, dass man da drübertrampelt. Doch die Demonstranten gingen um die Flaggen herum, aus Protest gegen die Hardliner. Trump verstand das nicht, er twitterte: Wow, sie treten nicht auf unsere großartige Flagge, das ist ein Fortschritt. Dafür wurde er einmal mehr belächelt.

Es gibt auch Stimmen, die davor warnen, dass Iran zu einem zweiten Syrien werden könnte. Wie realistisch ist diese Befürchtung?

Farhad Payar: Sie enthält einen Kern Wahrheit, aber Iran ist in vieler Hinsicht anders als Syrien. Ich denke, das ist in erster Linie Angstmacherei. In Iran gab es vor hundert Jahren die erste Revolution, seitdem gab es immer wieder kluge Köpfe, die von den Regimen eingesperrt, hingerichtet oder ins Exil getrieben wurden, um neue Revolutionen zu verhindern.

Aber es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Angriffe von außen zu einer Destabilisierung führen können, und auch im Inland gibt es bewaffnete Gruppen, die dazu beitragen können, darunter etwa auch separatistische Gruppen in Süden, Westen und Osten des Landes.