15 Jahre Hatun Sürücü: Mythen und Fakten zu "Ehrenmorden"

Hatun Sürücü auf einem Grablicht an ihrem Gedenkstein, 2015. Foto: LezFraniak/CC BY-SA 3.0

Auch 15 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü entzweit das Phänomen "Ehrenmord" Medien und Öffentlichkeit. Ein Faktencheck

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Mit drei Schüssen endete am 7. Februar 2005 das Leben von Hatun Sürücü. Der jüngste ihrer drei Brüder hatte die 23-jährige Deutsch-Türkin erschossen, weil er und seine Familie nicht bereit waren, der jungen Frau ein Leben abseits familiärer und kulturellerer Traditionen zuzugestehen.

Nur wenige Morde in Deutschland dürften solch nachhaltige mediale und politische Debatten ausgelöst haben: über Zwangsehen innerhalb muslimischer Familien und die Integration von Migranten, über Gewalt gegenüber Frauen und vermeintliche "Kultur-Rabatte" gegenüber zugewanderten Straftätern.

Vor allem ein Begriff ist seit dem Mord an Hatun Sürücü vor 15 Jahren nicht mehr aus dem öffentlichen Diskurs wegzudenken: Ehrenmord. Für die einen handelte es sich dabei um eine aus der islamischen Welt importierte besondere schlimme Form der Gewalt gegenüber Frauen, vor der viele aus falsch verstandener kulturellen Sensibilität die Augen verschließen. Für die anderen versteckt sich hinter dem Phänomen nichts mehr als ein "Familiendrama" mit Migrationshintergrund, ein Kampfbegriff um Minderheiten zu diskriminieren. Die Wahrheit ist komplizierter.

Was sind eigentlich Ehrenmorde?

Eine einheitliches Verständnis des Phänomens "Ehrenmord" gibt es nicht. Medien, Sicherheitsbehörden und Wissenschaftler gebrauchen den Begriff auf ganz unterschiedliche Weise. So unterschiedliche Institutionen wie das BKA und Amnesty International arbeiten jeweils mit ganz eigenen Definitionen.

Was den meisten Definitionen allerdings gemein ist. Beim Ehrenmord steht - anders als bei anderen Beziehungstaten - nicht die individuelle Kränkung des Täters im Vordergrund. Stattdessen dient die Tat der Wiederherstellung der "Ehre" einer ganzen Familie.

Von "Tötungsdelikten, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde", schreibt die Hamburger Soziologin Ayfer Yazgan in ihrer Untersuchung "Morde ohne Ehre" zu Ehrenmorden in der Türkei. Anders als bei anderen Formen von Partnergewalt geschehe auch der Entschluss zur Tat häufig im Familienkreis. Die Tat wird oft durch mehrere Angehörige geplant.

Wie viele Ehrenmorde gibt es in Deutschland?

Auch im Fall von Hatun Sürücü gab es Hinweise, dass der Bruder, der die Schüsse abgab, nicht allein handelte. Zwei weitere mitangeklagte Brüder, die verdächtigt wurden, dass sie die Tat beauftragt haben sollen, wurden 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Acht Jahre nach dem Mord leiteten türkische Behörden im Juli 2013 erneut Ermittlungen gegen die beiden ein. Nachdem sich die Hauptzeugin weigerte auszusagen, wurden sie erneut aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ein vom türkischen Familienministerium initiiertes Berufungsverfahren ist bis heute nicht beendet.

Durchsucht man Medienberichte zu "Ehrenmorden" in Deutschland, fällt allerdings schnell auf: Bei den meisten sogenannten "Ehrenmorden" gibt es keine Hinweise auf eine Beteiligung der Familie. Sie unterscheiden sich von anderen "Beziehungstaten" oder "Familiendramen" durch die Herkunft des mutmaßlichen Täters.

Wie viele echte "Ehrenmorde" es in Deutschland gibt, haben die Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt und der Soziologe Dietrich Oberwittler versucht herauszufinden. Für das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht haben sie im Auftrag des Bundesinnenministeriums Prozessakten und über 90.000 Agenturmeldungen zu Tötungsdelikten untersucht.

Für den Zeitraum 1996 bis 2005 stießen sie auf insgesamt 78 Tötungsdelikte in Deutschland, die sich klar als "Ehrenmord" einordnen lassen. Kasselt und Oberwittler schätzen, dass es in Deutschland - je nach Definition - drei bis zwölf Ehrenmorde pro Jahr geben dürfte. Zum Vergleich: Nach Zahlen des Bundeskriminalamtes wurden im Jahr 2018 140.000 Menschen in Deutschland Opfer von Gewalt durch "Beziehungstäter". 122 Frauen sind infolge dieser Gewalt gestorben.

Werden Ehrenmorde vor allem von Migranten begangen?

Dass nahezu jeder Fall eines Ehrenmordes in den Medien auftaucht, dürfte weniger mit ihrer Häufigkeit als mit der Charakteristika der Täter zu tun haben. Kasselts und Oberwittlers Untersuchung zeigt: Ehrenmorde sind in Deutschland ein nahezu ausschließlich migrantisches Phänomen. Unter den Tätern fanden die beiden nur einen einzigen Deutschen ohne Migrationshintergrund. Und selbst bei diesem handelte es sich um einen Auftragskiller, der von einer jesidischen Familie engagiert worden war.

Die absolute Mehrzahl der Täter (93 Prozent) wurden hingegen außerhalb Deutschlands geboren und besaß keine deutsche Staatsbürgerschaft (91 Prozent). Wie im Fall von Hatun Sürücü waren die Täter in den meisten Fällen türkischer Abstammung (63 Prozent).

Nur in einem Ergebnis widersprachen die Ergebnisse der Untersuchung der öffentlichen Wahrnehmung: Mit 43 Prozent lag der Anteil männlicher Opfer unerwartet hoch. In den meisten Fällen handelte es dabei um die Partner der weiblichen Opfer.