Wer hat Vorteile vom Thüringer Politzirkus?

Auch manche Kritiker der AfD haben sich demaskiert, als sie mal für einige Stunden nicht mehr alles unter Kontrolle hatten - Ein Kommentar

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Stand am vergangenen Donnerstag die Machtergreifung von Nazis vor der Tür? Den Eindruck konnte man gewinnen, nachdem sich in Thüringen überraschend der FDP-Kandidat Kemmerich gegen den Sozialdemokraten mit Linksparteibuch, Ramelow, durchgesetzt hat und dabei auch von der AfD unterstützt wurde.

Stunden später waren Demonstranten mit Antifa-Fahnen auf der Straße und riefen Parolen gegen die FDP. In der liberalen und linken Presse fehlte es nicht an Nazi-Vergleichen. Die Taz zeigt, wie der AfD-Politiker Höcke Kemmerich zur Wahl gratuliert und setzt den Stempel "Von Faschisten gewählt" darüber. Tatsächlich war Kemmerich von Union, FDP und AfD gewählt worden. Aber warum mit Fakten kommen, wenn es auch Emotionen tun?

Diese Frage konnte man sich bei der gesamten Berichterstattung nach der Thüringen-Wahl stellen. Emotionalisierung, Halbwahrheiten, gewagte Historisierungen, all das, was man berechtigterweise den Rechten vorwerfen kann, bedienen auch ihre Gegner. Denn was ist in Thüringen eigentlich geschehen? Es haben sich zwei Kandidaten zur Wahl gestellt und nicht der Aussichtsreichere, sondern der Außenseiter hat gewonnen. Das soll passieren, wenn man sich einer bürgerlichen Wahl stellt.

Eigentlich müsste man sich rein demokratietheoretisch freuen, dass es einen Gegenkandidaten gab und nicht nur einen Zählkandidaten, wie es der von der AfD nominierte Kindervater gewesen ist.

Gibt es falsche Stimmen in einer bürgerlichen Demokratie?

Nun wird fast unisono behauptet, der Dammbruch sei eingetreten, weil Kemmerich auch mit den Stimmen der AfD gewählt wurde. Und von der AfD darf man sich selbst dann nicht wählen lassen, wenn man, wie Kemmerich behauptet, mit der Partei nicht kooperieren will. Das ist nun wahrscheinlich auch gelogen.

Jetzt wollen manche schon beweisen, dass vor den Wahlgängen verschiedene Szenarien bei FDP und Union durchgespielt wurden. Dabei dürfte auch die Möglichkeit, dass die AfD mitstimmen könnte, nicht ferngelegen haben. Da drucksen FDP und CDU jetzt rum. Warum eigentlich?

Die AfD ist in einer nicht beanstandeten Wahl zur zweitstärksten Partei in den Thüringer Landtag gewählt worden. Sie kann nun eben taktisch geschickt ihre Stimmen einsetzen wie alle anderen Parteien auch. Das ist nicht undemokratisch, sondern so läuft bürgerliche Demokratie.

Sehr problematisch ist, praktisch unterschiedliche Kategorien von Stimmen einzuführen. Nämlich die, die zählen, und die anderen, die nicht zählen dürfen. Was wird da eigentlich für ein Signal an die Wähler gegeben? Wählen dürft ihr noch, aber eure Stimmen sind schmutzig oder unmoralisch. Das Wahlergebnis muss daher wieder rückgängig gemacht werden, hat Bundeskanzlerin Merkel auf ihrer Auslandsreise verkündet.

Niemand fragt, ob sie nicht ihre Richtlinienkompetenz überschritten hat? Weil sie eben als Bundeskanzlerin nicht entscheiden kann, ob das demokratisch zustande gekommene Wahlergebnis in einem Landtag rückgängig gemacht werden muss. Wird doch sonst der Föderalismus in Deutschland immer als Popanz hochgehalten …

Die schiefe Metapher vom Dammbruch

Nun werden viele argumentieren, was interessieren demokratietheoretische Überlegungen, wenn es gilt, ein zweites 1933 zu verhindern? Doch wenn diese Historisierung noch irgendwie Sinn ergeben würde, hätten FDP und Union Höcke zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen müssen. Doch in Thüringen ist ein - sicher rechtslastiger - FDP-Mann auch von der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden.

Anschließend wird davon geredet, dass die Wahl allein schon deshalb ein Dammbruch war, weil Stimmen der AfD dabei waren. Wer sich in der Geschichte Deutschlands nach 1945 auskennt, weiß, dass viele Ex- und Altnazis in den unterschiedlichen Parteien, besonders häufig in der FDP, weiter Politik machten und dort auch mit dafür sorgten, dass viele NS-Täter nicht verurteilt werden konnten und lange keine Entschädigungen für die NS-Opfer gezahlt wurden.

Rechte Dammbrüche gab es eine Menge in der Geschichte der BRD. Ende der 1960er Jahre hatte die NPD in zahlreichen Landesparlamenten auch mit Union und FDP dafür gesorgt, dass bestimmte Gesetze durchkamen. Da die NPD damals entsprechend ihrer Stärke in den Landtagen auch für die Besetzung der Bundesversammlung eine Rolle spielte, war sie 1969 bereit, bei der Bundespräsidentenwahl den Kandidaten der Union, Gerhard Schröder (nicht zu verwechseln mit dem späteren SPD-Kanzler), mitzuwählen. SPD und FDP hatten aber mehr Mandate und deren Kandidat Gustav Heinemann setzte sich durch.

War damals also auch ein Damm gebrochen, als sich der Unionskandidat von NPD-Stimmen hätte mitwählen lassen?

Solche Dammbrüche gab es viele, nur wurden sie oft gar nicht als solche wahrgenommen. Historischer Amnesie ist es zu verdanken, dass die Überraschung so groß ist, wenn sich ein FDP-Kandidat auch von rechten Stimmen wählen lässt. Kaum noch bekannt ist der Naumann-Kreis, eine Nazizelle innerhalb der FDP, die von den Alliierten ausgehoben wurde.