Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr draußen spielen

Symbolbild: Unsplash

"Sturmfrei" wegen Sturmtief Sabine an bayerischen Schulen und die Gefahren der "Gebäudekindheit"

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In Bayern wurde gestern Abend die Nachricht verschickt, dass es "sturmfrei" gebe: Der Schulunterricht fiel am heutigen Montag flächendeckend aus. Ein paar Schulen boten eine Notbetreuung für verzweifelte Eltern, die nicht wussten, wohin mit ihren Kindern, während sie zur Arbeit mussten.

Die Kinderaugen leuchteten, so lange sie darauf hoffen konnten, dass ihnen ein weiterer Tag einer "Gebäudekindheit" mit Videos und Spielen am Netz bevorsteht. Doch gab Jörg Kachelmann der Aufsichtsperson aus einer älteren Generation den entscheidenden Tipp: "Man kann und sollte Sturm auch genießen, wenn in Windrichtung nichts ist, was einem um die Ohren fliegen kann. Man muss dafür einfach bei Trost sein, dann ist es ein tolles Erlebnis - aber nicht im Dunkeln machen!"

Sie mussten raus. Wie sich am späten Vormittag zeigte, sollte Kachelmann zumindest für das südliche Umland von München Recht behalten. Es zeigte sich kein Monsterorkan, sondern ein, so der Wettermann, "anständiger Wintersturm", den "man mit üblichen Vorsichtsmaßnahmen überleben kann", Wegbleiben von Bäumen und anderen flugtauglichen Dingen. Man müsse nicht zuhause bleiben.

Die Ausflügler überlebten die katastrophale Zumutung mit leicht geröteten Gesichtern. Die hatten auch die Erwachsenen auf der Straße, die sehr erhitzt über die Gefahren sprachen, die heute gedroht haben oder vielleicht auch nicht - und über Verantwortlichkeiten. Während die Älteren mit dem Begriff "übervorsichtig" herumwirbelten, deuteten die gestressten jüngeren Eltern auf die vielen vom Wind losgebrochenen Zweige auf der Straße. Zuletzt einigte man sich auf den Kompromiss, wonach die Wettermeldungen der jüngsten Zeit einen Zug ins Katastrophische hätten und verunsicherte Schulbehörden darauf reinfallen, was ja zu anderen Lücken im Wirklichkeitsbezug der Institution passen würde.

Eltern neu erziehen

"Eltern lassen die Kinder nicht mehr auf der Straße spielen", berichtete kürzlich der belgische Rundfunk rtbf und bearbeitete eine ganz ähnliche Kerbe wie die Älteren bei der Diskussion. Man müsse die Eltern neu erziehen, damit sie die Kinder mehr draußen spielen lassen und damit einen Sinn für ihre Bewegungen und Risiken entwickeln können.

Der Bericht untermauert seine Aufforderung mit Untersuchungsergebnissen aus Flandern und den Niederlanden. Demnach habe sich der Prozentsatz von Kindern, die an öffentlichen Plätzen spielen, in den Jahren zwischen 1983 und 2008 im belgischen Flandern halbiert. Eine neuere Studie, vorgestellt im Juni 2019 in den Niederlanden, habe gezeigt, dass 15 Prozent der untersuchten Kinder niemals draußen spielen.

Der Beitrag des öffentlichen Rundfunks hat vor allem die Städte im Auge und stellt im Zusammenhang mit der Abwesenheit von spielenden Kindern auf öffentlichen Plätzen neue Ideen von Spielplätzen vor, die teils als Abenteuerspielplatz konzipiert, teils mit neuen Spiel- und Turngeräten statt der Schaukeln und den herkömmlichen Klettergeräten neu zum Spielen in der Öffentlichkeit verlocken sollen.

Experimentiert wird auch mit sogenannten "Schulstraßen". Diese sollen zu Zeiten des Unterrichtsbeginns und dem Ende des Unterrichts mit Barrieren für den Autoverkehr gesperrt sein, um den Kindern freiere Bewegung zu ermöglichen. In Brüssel gibt es 13 solcher Projekte.

Die Idee dazu wird vom erwähnten Beitrag als pars pro toto in einen größeren Kontext gestellt, demzufolge die Kinder Anreize brauchen, damit sie sich mehr draußen aufhalten. Zu den Spielplätzen heißt es, dass es "absolut nötig sei, mit den ultra-sicheren Spielplätzen aufzuhören. Man müsse dem Risiko mehr Platz einräumen, das sei Bestandteil des Spiels und Teil einer Lehrzeit, die das Kind durchlaufen müsse.

Bemerkenswert ist, dass der belgische Rundfunkbeitrag als elterliche Sorge nicht nur die weitverbreitete und nicht von der Hand zu weisende Angst vor Autounfällen in den verkehrsreichen Städten angibt, sondern auch die Furcht vor Entführungen.

Das Stubenhocker-Phänomen: "Eine Gefahr für die Gesellschaft"

Im deutschsprachigen Raum gab es in den vergangenen Jahren ebenfalls eine ganze Reihe von Alarmrufen vor dem Stubenhocker-Phänomen (Kinder und Jugendliche bewegen sich dramatisch wenig angereichert mit Tipps wie Eltern Überzeugungsarbeit liefern könnten, um die Kinder aus ihrem "Aggregatszustand: Auf dem Sofa bleiben und mit dem Handy spielen" rauszuholen.

Die mit Abstand dramatischste Warnung kam vom österreichischen Kindheitsforscher Michael Hüter von dem der Begriff "Gebäudekindheit" stammt. Nach seinen Nachforschungen, die das Magazin Focus im November letzten Jahres zitierte, verbringen Kinder vom ersten bis zum 18. Lebensjahr "70 Stunden pro Woche in Gebäuden". Vor 30 Jahren seien noch drei Viertel der Kinder nach der Schule "draußen in der Natur" gewesen. "Vor ein paar Jahren waren es nur noch ein Viertel der Kinder, heute seien es vermutlich noch weniger", wird Hüter wiedergegeben.

Er sieht dadurch den Weg in eine Katastrophe vorgezeichnet, da "unser evolutionäres Programm" nicht darauf angelegt sei, dass die Kindheit hauptsächlich in Gebäuden verbracht werde. Der gesunde Menschenverstand würde erkennen, "dass dabei keine gesunden Menschen herauskommen können".

Hüters Forderung zielt ebenso ins leicht behauptete Generelle ("evolutionäres Programm") wie seine Feststellungen: Er fordert, dass die Gesellschaft neu aufgebaut werden müsse, mit einem "fokussierten Blick auf die Kinder und die Familie". Ansonsten würde sich der Mensch schon sehr bald selbst abschaffen. Das Verschleudern der Ressourcen unserer Kinder halte er "für nichts Geringeres als ein Menschheitsverbrechen".

Der Katastrophismus hat gegenwärtig eine große Zeit.