"Erhebt euch, steht auf!"

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Sitzen wird dämonisiert, auch die Studenten in den Vorlesungs- und Seminarräumen sollen sich bewegen. Findet eine Revolution der körperlichen Kulturtechniken statt?

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Wer viel sitzt, rostet nicht nur, er stirbt auch früher. Sitzen erhöht angeblich das Risiko für viele auch tödliche Krankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Despression, Diabetes und Fettleibigkeit. Daher ist Aufstehen und Bewegung angesagt, am besten auch dann, wenn man es nicht vermeiden kann, dennoch zu sitzen (Stehen oder Sitzen beim Arbeiten?). Also werden nicht nur die Stühle immer besser und variabler der Körperhaltung und der Lendenunterstützung angepasst, sondern homo sedens muss sich auch möglichst sitzend bewegen, denn vorgeschrieben ist dauernde Bewegung, schließlich soll auch kompensierende Aktivität beim Joggen oder im Fitnessstudio zwischen oder nach dem Sitzen nicht wirklich helfen (Senkt Bewegung das Gesundheitsrisiko vom langen Sitzen?). Der Bürger darf oder muss nun die Haltung der einstigen Könige auf dem Thron einnehmen, aber er ist dem Tod geweiht, der Körper wird dick und breit, wird steif und zugleich schlaff, bis er verendet.

Wissenschaftler der University of California in Los Angeles bedauern, dass zwar an manchen Arbeitsplätzen bereits Bewegung eingezogen ist, wenn die Angestellten zumindest an Pulten stehen, aber auch bei Treffen und Besprechungen stehen oder umherwandern, aber nicht an Universitäten. Dort würden die Studenten wie immer noch zum Sitzen gezwungen, was ihrer Gesundheit schadet. Tatsächlich wurden Kinder, Schüler und Studenten Jahrhunderte lang zum möglichst bewegungslosen Sitzen gezwungen, der Zappelphilipp, der jetzt gefragt wird, war verpönt und muss auch jetzt noch darum kämpfen, nicht mit Ritalin gedämpft zu werden. In einer Umfrage unter Studenten stellte sich heraus, dass die Hälfte glaubt, es sei sozial inakzeptabel, während eines Seminars oder einer Vorlesung aufzustehen und sich zu strecken, für fast Zweidrittel ist dies auch in kleineren Diskussionsrunden verpönt.

Aufstehen für die individuelle Gesundheit

Das geht natürlich nicht, sagen die Wissenschaftler, es muss ein Kulturwandel vom stillen Sitzen zur jederzeit möglichen Bewegung erfolgen. Es müsse okay sein, eine Unterbrechung zu machen, um sich zu strecken, während einer Vorlesung aufzustehen oder herumzuzappen, wenn Bewegung nötig sei. Ihren Beitrag, der im Journal of American College Health erschienen ist, gaben sie den Titel: "Get up, stand up, stand up for your health!"

Dabei geht es nicht um gesellschaftliche oder politische Revolte, wie man vielleicht zuerst meinen könnte, sondern alleine um die Sorge um den eigenen Körper. Da müssen Störungen der Konzentration der Mitstudenten und des Lehrpersonals hingenommen werden. Aber die finden natürlich sowieso immer statt, wenn man mit Laptops, Smartphones, Tablets etc. sowieso in zwei Welten lebt, die ständig miteinander konkurrieren. Der Raum, in dem sich der Körper befindet, hat meist den Nachteil, weniger beweglich, abwechslungsreich und die Aufmerksamkeit bindend zu sein, als die virtuelle Welt, in der ständig Neues gepusht und gestreamt wird und schnelle Reaktion erwartet wird.

Allmählich wird symptomatisch das Sitzen zu einer Kulturtechnik, die als unnatürliche Stellung, als Volkskrankheit, dämonisiert wird, während Bewegung verherrlicht wird, als ob wir uns aus der Sesshaftigkeit wieder in den Nomadismus zurückbewegen sollten. Im Fitnesszeitalter geht es darum, den Körper als Maschine leistungsstark zu machen, ihn zu optimieren, damit er möglichst lange als Träger der Person zur Verfügung steht. Der Drang ist paradox, denn die technische Entwicklung setzt darauf, den menschlichen Körper zu entlasten oder ganz überflüssig zu machen.

Der fitte Körper wird damit zum freigesetzten, nutzlosen Körper, dessen vermeintlichen, sich ständig wie Moden verändernden oder wie Sekten sich differenzierenden Anforderungen sich die Menschen in der Sorge um den Körper unterwerfen. Damit werden sie endgültig zu Subjekten und verkehren das sesshafte Verhältnis vom dienenden Körper und herrschenden Geist. Das wäre auch eine Parallele zum durch die Technik freigesetzten Menschen, der jetzt in Kompensation zum sitzenden Arbeits- und Lebensdasein schon einmal die pure Selbsterhaltung übt.

Zurück von der Sesshaftigkeit zum nomadischen Leben?

Nomaden waren die Menschen die längste Zeit in der Geschichte des homo sapiens, bevor die Zeit der Sesshaften, des homo sedens, begann und damit auch die Zeit des Stuhls und des rechtwinkeligen Sitzens, das mittlerweile zur primären und gefährlichen Körperhaltung für die meisten Menschen wurde. Das Sitzen ist wahrscheinlich auch eine Rückkehr des Erwachsenen in das Kindesalter, weil es das Sitzen auf dem Schoß der Mutter oder des Vaters imitiert oder rekonstruiert - ohne noch auf einen Menschen angewiesen zu sein. Eine Technik der Verselbständigung und Singularisierung.

Die Nomaden waren natürlich nicht nur unterwegs, in ihren mobilen oder temporären Niederlassungen hockten, knieten, kauerten oder lagen sie. Wann die ersten Throne für die Herrscher, die Vorläufer der Stühle aufkamen, weiß man nicht, aber sie sind eine Kulturerfindung, die nach Beginn der Sesshaftigkeit, also dem Wohnen an einem Ort, in einem Dorf oder in einer Stadt entwickelt wurden. Früher durften nur die Könige und andere Herrschende auf einem Thron oder auf Stühlen sitzen, während die niederen Chargen auf dem Boden, auf Bänken und Stufen wie in den antiken Theatern saßen oder auf Schemeln oder anderweitig kauerten. Vermutlich waren die lesenden und schreibenden Mönche die Avantgarde der sitzenden Bürger, die erst seit der Reformation auch in der Kirche Platz nehmen durften.

Nach der bürgerlichen und der industriellen Revolution verbreitete sich das Sitzen auf Stühlen, die den Körper jeden Tag stundenlang formen und kneten. Hüften und Kniegelenke werden im rechten Winkel gebeugt, ein großer Teil der Körperlast wird über das Becken, genauer das gekrümmte Kreuzbein (os sacrum!) und die übrige Lendenregion auf die gerade Fläche des Stuhls abgegeben, die Rumpfmuskulatur , aber auch die Schulter- und Beinmuskulatur verkümmern, der Energiebedarf des Körpers verringert sich gegenüber dem Stehen, das Atmen wird flach, was mit dem stillgestellten die Konzentration steigert, aber auch die Ekstase der Lektüre oder vor dem Bildschirm stimuliert.

Aber zurück zu den Wissenschaftler der UCLA, die das universitäre Leben durch Aufstehen und körperliche Bewegung verändern wollen, also körperliche Gesundheit gegen das traditionelle Format der Wissensvermittlung ausspielen. Aber ganz so individuell, wie manche Aussagen klingen, will man die Bewegungsrevolution doch nicht machen. Primär sei aber, dass in den Universitäten deutlich gemacht werde, wie schädlich langes Sitzen ist. Angeregt wird, dass mindestens jede Stunde eine Pause gemacht wird, um aufstehen und sich strecken zu können. In kleinen Gruppen würde schon helfen, öfter einmal den Sitzplatz zu wechseln, aber dann soll es auch offene Seminarräume geben, in denen es genug Platz gibt, um herumzugehen und Bereiche mit Stehpulten einzurichten.

Professoren und Lehrende sollten Vorreiter sein und den Studenten Bewegungspausen anbieten und sie auffordern, sich zu bewegen. Man scheut aber noch davor zurück, dass dann auch gemeinsam und angeleitet etwa von den Professoren Bewegungsübungen wie in China gemacht werden. Da ist der Individualismus der Fitnessgesellschaft doch stärker, die Menschen sollen mit Druck letztlich doch selber für körperliche Optimierung sorgen und damit auch für ihren körperlichen Zustand selbst verantwortlich sein. Man bietet ja nur offene Räume oder verstellbare Tische an.