War das Kapitalismus?

Eine Elektroenzephalografie des deutschen Sprachraums (1800-2000)

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1. Einleitung: Big Data und große Erzählungen

Als informierte Beobachter von Gesellschaft sind wir an zutreffenden Beschreibungen der wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen interessiert. So erscheint uns Säkularisierung als prägend für moderne Gesellschaften, und wir reagieren durchaus sensibel auf Kontexte, in denen Religion nie nachrangig war oder wieder im Kommen ist. Ebenso stimmig klingt die Aussage, dass Wirtschaft seit Jahrhunderten an Bedeutung gewinnt und mittlerweile alle sozialen Beziehungen dominiert. Daneben gilt das 20 Jahrhundert als politisches Jahrhundert; und neuerdings beschreiben wir Gesellschaften gerne auch als medialisiert.

Ein weiterer Trend besteht darin, dass wir solche groß angelegten Trendaussagen bislang mehr tradieren als reflektieren (Kraemer, 2017). Kritisch wird diese unkritische Haltung dann, wenn wir von trendigen Gesellschaftsbeschreibungen auf konkrete Entscheidungsgrundlagen schließen und so Gefahr laufen, mit den richtigen Lösungsansätzen auf die falschen Problemlagen zu reagieren. Nun muss auch im Internetzeitalter ein solches Risiko eingehen, wer sich die großen Erzählungen nicht ausreden lassen will. Gleichwohl wächst mit der ihrerseits trendigen Big-Data-Forschung die Hoffnung, dass sich dieses Risiko künftig besser berechnen oder einschätzen lässt.

In diesem Artikel wagen wir eine solche Einschätzung. indem wir einen tatsächlich großen Datensatz auf die Stimmigkeit der ihrerseits großen Erzählungen von der Säkularisierung, Ökonomisierung, Medialisierung und Politisierung von Gesellschaft prüfen. Dabei nutzen wir den Google Ngram Viewer, mit dessen Hilfe wir Zeitreihen-Diagramme für kombinierte Häufigkeiten von einschlägigen Stichwörtern im weltweit größten Online-Korpus, dem Google Books Korpus, erstellen und interpretieren. Am Ende der Untersuchung steht der Eindruck, dass gerade besonders trendige Gesellschaftstheorien Gefahr laufen, am Trend vorbei zu argumentieren. In diesem Sinne werden Theorien im Zeitalter von Big Data alles andere als obsolet; es werden nur manche über den Haufen geworfen. Im Folgenden illustrieren wir das an jenem Allgemeinplatz, nach dem wir in einer post-/kapitalistischen Gesellschaft leben oder gelebt haben.

2. Zeitreihen über mehrere hundert Milliarden Wörter: Der Google Ngram Viewer als Forschungsinstrument

In dieser Forschungsarbeit benutzten wir das Internet, um das Internet zu beobachten. Dieses Vorgehen ist angemessen insofern, als dass es sich beim Internet um den bevorzugten Ansatzpunkt von Big-Data-Forschung handelt. Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung erscheint dieses Vorgehen jedoch zunächst problematisch, weil das Internet deutlich jünger ist, als man es für die von uns untersuchten Trends annimmt. Entsprechend muss unsere Beobachtung auf spezifische Interfaces von Internet und älteren Verbreitungsmedien wie Buchdruck oder Schrift abzielen, wie sie glücklicher Weise im Fall des Google Books Projektes und des Google Ngram Viewers vorliegen.

Seit der offiziellen Ankündigung im Jahr 2004 hat das Google Books Projekt mehr als 25 Millionen der weltweit geschätzt 130 Millionen je publizierten Bücher gescannt und digitalisiert. 2007 wurde das Forschungspotenzial des Projektes von einem Forscherteam der Universität Harvard (Michel et al., 2011) erkannt, welches bald darauf die Qualitätssicherung des Korpus übernahm und einen Prototyp des späteren Google Ngram Viewers entwickelte, welcher heute jährliche Zeitreihen von Worthäufigkeiten im Google Book Korpus plottet. Dabei prägte das Team auch den Begriff Culturomics, definiert als "the application of high-throughput data collection and analysis to the study of human culture" (ebd., 181).

Heute umfasst der konsolidierte Korpus mehr als 8 Millionen Bücher und damit mehrere hundert Milliarden Wörter1 in englischer, spanischer, russischer, französischer, deutscher, chinesischer, italischer und hebräischer Sprache.2 Pioniere erschlossen den Google Ngram Viewer zunächst vor allem für die Geisteswissenschaften, allen voran die Sprach-, Geschichts- und Kulturwissenschaften (Gibbs & Cohen, 2011; Johnson, 2010; Nicholson, 2012; Ophir, 2010; Sparavigna & Marazzato, 2015). Daneben finden sich auch erste Versuche, Culturomics in den Sozialwissenschaften zu verankern, etwa im Kontext einer retroaktiven Big-Data-Anales Arabischen Frühlings (Leetaru, 2011), ersten eigenen Arbeiten zur Verifizierung von gesellschaftlichen Megatrends (Roth, 2014; Roth, Clark, & Berkel, 2017) oder einer unlängst veröffentlichten Studie zur Popularität soziologischer Theorien, Methoden, Untersuchungsgegenstände und Autoren (Chen & Yan, 2016).

Wie in all diesen Fällen beobachten wir Worthäufigkeit als einfachsten und unparteiischsten Maßstab für die Wichtigkeit eines Wortes (Kloumann, Danforth, Harris, Bliss, & Dodds, 2012, p. 1) und so letztlich auch der bezeichneten Gegenstände, Konzepte oder Personen (Bohannon, 2011; Ophir, 2010). In diesem Sinne lässt sich der Google Ngram Viewer in der Tat nutzen, um begriffliche und persönliche Karrieren nachzuzeichnen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Die Karrieren von Habermas und Luhmann im deutschen Sprachraum (1800-2000)

Obwohl Abbildung 1 durchaus aufschlussreich ist, gehen wir in diesem Artikel davon aus, dass ein Schlüsselbegriff allein zu wenig ist, um die Karriere so vielschichtiger Konzepte wie Religion oder Wirtschaft über zweihundert Jahre nachzuverfolgen. Eine besondere Herausforderung stellt demnach die Auswahl einschlägiger Schlüsselbegriffe dar, die dadurch noch erhöht wird, dass die isolierte Performance selbst eines ganzen Clusters von religiösen oder wirtschaftlichen Schlüsselbegriffen alleine noch keinen Rückschluss auf den relativen Stellenwert von Religion oder Wirtschaft im untersuchten Sprachraum zulässt. In diesem Sinne genügt es nicht, dass man nach Religion oder Wirtschaft sucht, wenn man Säkularisierung oder Ökonomisierung finden will.

3. -isierung operationalisiert: Funktionale Differenzierung und ein Python-Programm

Sobald wir den Kapitalismus auch nur im Entferntesten mit einer gesteigerten gesellschaftlichen Bedeutung oder gar Dominanz wirtschaftlicher Prinzipien in Verbindung bringen (Braun & Wolbring, 2013; Nassehi, 2013), verweisen wir implizit auf funktionale Differenzierung (Roth, 2015; Schimank, 2009). Das gilt auch, wenn man funktionale Differenzierung anders als eine Vielzahl von Autoren (Beck, Bonss, & Lau, 2003; Bergthaller & Schinko, 2011; Kjaer, 2010; Leydesdorff, 2002; Luhmann, 1977, 1997, 2017; Pahl, 2008) nicht als die entscheidende Form sozialer Differenzierung in modernen Gesellschaften begreift.

Dabei ist funktionale Differenzierung zunächst eine sinnvolle Antwort auf die Frage, wie man Religion von Wirtschaft oder Politik von Kunst unterscheiden und allenfalls auch unzulässige Übertretungen von Funktionssystemgrenzen - wie im Fall von Korruption, wo die Grenzen von Wirtschaft und Politik missachtet werden - in den Blick bekommen kann. Funktionale Differenzierung ist somit eine notwendige Hintergrundannahme, wenn man Ökonomisierung als Prozess in oder Zustandsbeschreibung von modernen Gesellschaften3 und dabei allenfalls auch lokale Variationen (Baur, 2014) beobachten will. Wie oben gesagt genügen isolierte Untersuchungen der Entwicklung von Wirtschaft oder Religion aber keinesfalls, um Ökonomisierung oder Säkularisierung als zutreffende Beschreibung von Gesellschaft zu etablieren.

So folgt aus der Beobachtung einer zunehmenden Bedeutung von Wirtschaft in bestimmten Gesellschaften noch nicht, dass diese Gesellschaften von der Wirtschaft bestimmt sind. Ebenso lassen sich Gesellschaften schwer als säkularisiert bezeichnen, wenn sie trotz eines zunehmenden Bedeutungsverlustes von Religion nach wie vor von Religion dominiert werden. Entsprechend lässt sich die Frage, ob moderne Gesellschaften zutreffend als kapitalistische Gesellschaften beschrieben werden können, nur dann einigermaßen zuverlässig beantworten, wenn man den absoluten Bedeutungswandel der Wirtschaft relativiert, indem man ihn in den Kontext der Entwicklung der anderen Funktionssysteme stellt.

In diesem Artikel gehen wir davon aus, dass es aktuell zehn Funktionssysteme gibt (Roth & Schütz, 2015): Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht, Sport, Gesundheit, Erziehung und Massenmedien. Die methodische Herausforderung besteht demnach darin, jedem dieser Funktionssysteme stimmige Suchwörter zuzuordnen, die es erlauben, die Karrieren der Funktionssysteme im deutschen Sprachraum zwischen 1800 und 2000 nachzuvollziehen.4

Mittlerweile lassen sich in den Google Ngram Viewer nicht nur einzelne, kommagetrennte Ngrams eingeben, sondern mittels Klammern und Pluszeichen auch Ngram-Kombinationen. Gleichwohl bleibt die Aufnahmekapazität der Eingabemaske des Viewers auf unter 30 Ngrams beschränkt. Um hinreichend aussagekräftige Diagramme anfertigen zu können, beschränken wir uns auf die fünf häufigsten Stichwörter je Funktionssystem.

Die Häufigkeit, mit der die jeweiligen Stichwörter im Untersuchungszeitraum auftauchen, lässt sich im ersten Schritt mit Hilfe eines Python-Programmes ermitteln, welches von Jan Berkel entwickelt wurde, unter gitlab.com/jberkel verfügbar ist und zeit- und sprachraumspezifische Worthäufigkeitslisten aus dem Google Books Korpus extrahiert. Diese Wortliste lässt sich im nächsten Schritt nach Begriffen durchsuchen, welche möglichst eindeutig auf ein und nur ein Funktionssystem verweisen. Geld oder Gott wären Beispiele für recht eindeutige Stichwörter, wohingegen wir Begriffe wie Universität unberücksichtigt lassen, weil sie sowohl auf Erziehung als auch auf Wissenschaft verweisen. Im Ergebnis entsteht so die folgende Liste von Suchbegriffen (vgl. Tabelle 1):

Funktionssystem Kombinierte Suchbegriffe Häufigkeit/Komb.
Politik (politischen +Regierung +Staaten +Politik +Staat) 62414914
Recht (Recht +Gesetz +Rechte +Gesetze +Gesetzes) 40407209
Wissenschaft (Wissenschaft +System +Theorie +Philosophie +Wahrheit) 40078241
Religion (Kirche +Gott +Gottes +Seele +Religion) 36619670
Erziehung (Bildung +Schule +Ausbildung +Schüler +Lehrer) 25699368
Wirtschaft (Wirtschaft +Kosten +wirtschaftlichen +Unternehmen +Geld) 24474056
Massenmedien (Buch +Verlag +Zeitschrift +Hrsg. +Zeitung) 21346370
Kunst (Kunst +Dichter +Musik +Künstler +Schönheit) 20451747
Sport (Erfolg +gewonnen +spielen +Spiel +Sport) 13180185
Gesundheit (Krankheit +Patienten +Kranken +Arzt +Krankheiten) 10590675
Tabelle 1: Die fünf häufigsten Suchbegriffe pro Funktionssystem samt kombinierter Worthäufigkeiten im Google Books Korpus (1800-2000).

Indem wir die Suchbegriffe nun kombiniert in den Google Ngram Viewer eingeben, verfolgen wir kein klassisches quantitatives Forschungsprogramm. Zwar ließe sich anführen, dass die Funktionssysteme zweifellos inkommensurabel sind (Windolf, 2009, p. 13) und wir als Nullhypothese entsprechend von einer Gleichverteilung der Funktionssystem-Stichwörter im untersuchten Sprach- und Zeitraum ausgehen können. Gleichwohl sind wir uns mit Blick auf die im Ergebnisteil präsentierten Diagramme durchaus bewusst, dass diese ebenso wissenschaftlich fundiert wie interpretationsbedürftig sind wie die auch optisch ähnlich gelagerten medizinischen Elektroenzephalogramme, welche erst in Interaktion mit ärztlichem Erfahrungswissen zu Ergebnissen werden. Es ist daher nicht unser Anspruch, Alternativ-Hypothesen wie die zunehmende Bedeutungslosigkeit von Religion oder zunehmende Dominanz von Wirtschaft im engeren Sinne streng deduktiv zu überprüfen.

Wir äußern an dieser Stelle lediglich die Erwartung, dass die Bedeutung der einzelnen Funktionssysteme ungleich verteilt ist und dem Wandel unterliegt; und dass sich der gemeinhin unterstellte Bedeutungsverlust von Religion sowie der Wandel zur kapitalistischen Gesellschaft auch im deutschen Segment des größten Online-Korpus der Welt niedergeschlagen haben muss.

4. Viel Politik, wenig Wirtschaft. Funktionale Enzephalogramme des deutschen Sprachraums

Für das 19. Jahrhundert beobachten wir eine intensive Interaktion von Religion, Recht, Politik und Wissenschaft (vgl. Abb. 2.1).5

Abbildung 2.1: Häufigkeitsverteilung der kombinierten Stichwörter für Politik (blau), Recht (rot), Wissenschaft (grün), Religion (orange) und Erziehung (violett) im deutschen Sprachraum (1800-2000)

Religion ist zunächst klar dominant, insbesondere zwischen 1830 und 1850, bis das zuvor zweitplatzierte Rechtssystem von spätestens 1880 bis zum Ersten Weltkrieg die Führung übernimmt. Politik ist zu Beginn des Untersuchungszeitraumes weniger bedeutsam als die zunächst drittplatzierte Wissenschaft und rangiert anfangs gar unterhalb von Gesundheit (vgl. Abb. 2.2), welche im Laufe der Zeit in relativer Bedeutungslosigkeit versinkt.

Abbildung 2.2: Häufigkeitsverteilung der kombinierten Stichwörter für Wirtschaft (blau), Massenmedien (rot), Kunst (grün), Sport (orange) und Gesundheit (violett) im deutschen Sprachraum (1800-2000)

Zu einem Take-Off der Politik kommt es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, bei nur kleineren Rückgängen gegen Ende der beiden Weltkriege, welche vor allem auch die Kunst stark beeinflusst zu haben scheinen. Es schließt sich an eine nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft beflügelnden zweite Nachkriegszeit. Hier sticht auch ein Pegelausschlag der für etwa 15 Jahre zweitplatzierten Religion ins Auge. Der gemeinsame, wenngleich ungleich intensive Höhepunkt von Politik und Wissenschaft ist gegen 1970 erreicht. Etwa zur gleichen Zeit taucht die vor dem Ersten Weltkrieg letztplatzierte Wirtschaft erstmals unter den ersten drei Funktionssystemen auf.

Abbildung 3: Häufigkeitsverteilung der kombinierten Stichwörter für Politik (blau), Wissenschaft (grün), Religion (orange), Wirtschaft (rot) und Massenmedien (violett) im deutschen Sprachraum (1800-2000)

Gegen Ende des Untersuchungszeitraumes liegt Wirtschaft seit etwa 30 Jahren unverändert hinter Wissenschaft auf Platz 3 (vgl. Abb. 3), gefolgt von Recht (Abb. 2.1), Religion, Massenmedien und Kunst. Im Jahr 2000 sind Sport und Gesundheit bereits seit einem halben Jahrhundert die vergleichsweise unpopulärsten Funktionssysteme in den Büchern des deutschen Sprachraums.

5. Wo ist der Kapitalismus? Erwartungswissen trifft überraschende Daten

Unsere Google Ngram Analyse zeigt, dass die Funktionssysteme im deutschen Sprachraum deutlichen Bedeutungsunterschieden und zudem mitunter starkem Bedeutungswandel unterliegen. Mit Blick auf Religion zeigen sich zudem deutliche Hinweise auf Säkularisierung, wobei sich der Bedeutungsverlust der Religion den Daten zufolge vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ereignet hat.

Im 20. Jahrhundert erscheint die Säkularisierungstendenz dahingegen bereits moderater und man beobachtet mitunter Gegentrends wie den dramatischen Anstieg zwischen 1940 und 1955 (der sich Mitte der 1960er nahezu ebenso dramatisch ins Gegenteil verkehrt) sowie den flachen aber kontinuierlichen Aufwärtstrend von Religion nach 1980. Dessen ungeachtet steht aber der Befund, dass die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch klar führende Religion zur Jahrtausendwende im unteren Mittelfeld der Funktionssysteme angekommen ist. In diesem Sinne kann man den deutschen Sprachraum mit einiger Zuversicht als säkularisiert bezeichnen.

Mit Blick auf die Entwicklung der Bedeutung der Wirtschaft ist die Datenlage ebenfalls klar: Die Wirtschaft stellt zu keinem Zeitpunkt zwischen 1800 und 2000 das wichtigste Funktionssystem des deutschen Sprachraums dar. Bis Mitte der 1970er kommt die Wirtschaft nicht über jenen fünften Platz hinaus, der uns zuvor so zuversichtlich von Säkularisierung hat sprechen lassen. Insbesondere präsentiert sich die Wirtschaft während des gesamten 19. Jahrhunderts und somit inmitten der vermuteten Blütezeit des Kapitalismus als relativ bedeutungslos.

Erst Kriege scheinen die Wirtschaft zunehmend zu beflügeln: Man erkennt einen leichten Anstieg während der Gründerzeit, und insbesondere zwischen 1910 und 1950 fällt auf, dass Wirtschaft auf die Weltkriege reagiert. Das anschließende Wirtschaftswunder scheint die Wirtschaft dahingegen nicht beflügelt zu haben: nach 1950 verläuft die Kurve nahezu flach.

Dass Wirtschaft im Jahr 2000 als drittwichtigstes Funktionssystem zu Buche steht, ist somit eher dem nach 1960 noch einmal intensivierten Bedeutungsverlust von Religion und Recht geschuldet. Vor dem Hintergrund dieser Daten von einer Ökonomisierung der Gesellschaft zu sprechen ist demnach gewagt: Zum einen war die Wirtschaft während der gesamten 200 Jahre zu keiner Zeit dominant, und zum anderen fällt der zweifellos wahrnehmbare Trend zu mehr Wirtschaft im Vergleich zur Säkularisierung, zur Politisierung und selbst zu den Bewegungen der Wissenschaft nicht übermäßig stark aus.

Selbst wenn sich auf den Umstand pochen lässt, dass sich im Falle der Wirtschaft die Performance eines zuvor nahezu bedeutungslosen Funktionssystems im Gesamtverlauf verdreifacht hat, lässt sich nur schwer ausblenden,

  1. Dass sich der Bedeutungszuwachs der Wirtschaft offenbar nicht wie gemeinhin unterstellt im 19. Jahrhundert ereignet hat,
  2. Dass der Bedeutungszuwachs der Politik mit dem der Wirtschaft im gleichen Verhältnis steht und letzteren in seiner absoluten Bedeutung bei Weitem überragt,
  3. Dass selbst in den Zeiten einer relativen Prominenz der Wirtschaft eben doch die Wissenschaft und nicht die Wirtschaft das zweiwichtigste Funktionssystem im deutschen Sprachraum ist.

Wir schließen daraus, dass man sich den deutschen Sprachraum nicht in erster Linie als ökonomisiert, sondern vielmehr als politisiert vorstellen muss. Starke Definitionen des Kapitalismus als einer von der Ökonomie dominierten Gesellschaft können den deutschen Sprachraum demnach nicht adäquat beschreiben. Darüber hinaus scheinen auch Ideen von einer als "politische Ökonomie" gedachten kapitalistischen Gesellschaft insofern unrecht zu tun, als dass hier die entscheidende Rolle der Wissenschaft unterschlagen wird. In diesem Sinne scheint kritische Theorie mit ihrem in der Tat näher an der Datenlage zu argumentieren als traditionelle Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, welche die Rolle des erstplatzierten sowie - letztlich willkürlich - die eines bestenfalls drittplatzierten Funktionssystems betonen.

In jedem Fall scheinen die Daten zu zeigen, dass ein um Wissenschaft ergänzter Fokus auf Politik und Wirtschaft erst seit den 1970ern zu einer annähernd zutreffenden Beschreibung des deutschen Sprachraumes führt. Und selbst in diesem Fall lautet der Hauptbefund, dass wir auch in diesen zunehmend wirtschaftsorientierten Zeiten in einer primär politisierten und sekundär verwissenschaftlichten und eben nicht in einer primär ökonomisierten Gesellschaft lebten.

Diese Feststellung ist umso folgenreicher, als ein mit derselben Methode gestalteter Blick über die Sprachgrenzen zeigt, dass selbst die Idee einer zumindest nachgeordneten Prominenz der Wirtschaft nur im deutschen und im französischen Sprachraum verfängt, während sie sich einen solche Situation im englischen, spanischen, russischen und italienischen Sprachraum nicht beobachten lässt, wo die Wirtschaft auch gegen Ende des Untersuchungszeitraumes nicht über einen vierten oder fünften Platz hinauskommt.

Da dieser Befund deutlich quer liegt zur vertrauten Vorstellung, dass wir in kapitalistischen oder von der Ökonomie anderweitig eingenommenen Gesellschaften leben (Busch, 2012) oder zumindest gelebt haben (Kraemer, 2017), wird es gelten, die hier vorgestellte Untersuchungsmethode grundsätzlich zu kritisieren. So berechtigt diese Kritik auch sein wird, so wird sie doch auch mit der Frage umzugehen haben, warum eine Methode, der es gelingt, die Säkularisierung im 19. Jahrhundert ebenso einzufangen wie den anschließenden kaiserlichen Rechtsstaat und das politisierte 20. Jahrhundert, ausgerechnet an der Bestimmung der "wahren" Bedeutung der Wirtschaft scheitern sollte.

6. Ausblick: Big Data als Spielfeld für die nächsten Gesellschaftstheorien

Es ist nicht Anliegen dieses Textes irgendetwas im strengen Sinne zu beweisen. Wenn man den Kapitalismus retten will, verschiebt man den Untersuchungszeitraum leicht bis 2008, erfreut sich an der Beobachtung, dass Politik und Wirtschaft nach 2000 deutlich aufeinander zu laufen, und hofft darauf, dass die beiden Systeme im weiteren Verlauf gar die Plätze tauschen so wie Luhmann und Habermas, der nach 2000 von Luhmann überholt wird (vgl. Abb. 4).

Die Karrieren von Habermas und Luhmann im deutschen Sprachraum (1800-2008)

Man kann die Hoffnung also getrost zuletzt sterben lassen, muss dann aber mit dem Umstand zurechtkommen, dass sich ein derartiger Bedeutungsanstieg der Wirtschaft nach 2000 nur im deutschen Sprachraum beobachten lässt. Daraus kann man verschiedene Schlüsse ziehen: Man kann zum Beispiel annehmen, dass der deutsche Sprachraum dabei ist, einen Sonderweg der Ökonomisierung zu beschreiten.

Oder man kann vermuten, dass der deutsche Sprachraum der einzige ist, in dem das Bewusstsein für die Ökonomisierung der Gesellschaft so stark ausgeprägt ist, dass er als einziger unter allen anderen Sprachräumen in der Lage ist, sich zunehmend zutreffend als ökonomisiert oder kapitalistisch zu beschreiben. Oder man unterstellt, dass es in Deutschland eine spezifische Kultur der Wirtschaftskritik gibt, der es seit den 1970ern zunehmend besser gelingt, die Grenzen von Wirtschaft und Wachstum heraufzubeschwören und so ironischer Weise auch die Bedeutung der Wirtschaft für die Gesamtgesellschaft drastisch zu erhöhen.

In jedem Fall legt unsere Forschung aber nahe, dass wir mit Begriffen wie Kapitalismus und Ökonomisierung in Zukunft durchaus etwas sparsamer umgehen können: Erstens scheinen beide Konzepte erstaunlich wenig geeignet, die Vergangenheit des deutschen Sprachraums zutreffend zu beschreiben. Zweitens sind beide Begriffe noch weniger geeignet, Zustände außerhalb des deutschen Sprachraums zu beschreiben. Drittens kann es eben durchaus vernünftig sein zu fragen, inwieweit die regelmäßig kritisierte Dominanz der Wirtschaft in der Tat nur vom wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream und dessen pro-kapitalistischen Stakeholdern herbeiperformt wird (Callon, 2007), oder nicht eben auch und gerade durch die Regelmäßigkeit der antikapitalistisch oder ökologisch motivierten Kritik (Roth, 2015; Schimank, 2009).

In diesem Sinne ist es diesem Artikel ein Anliegen, den Kapitalismus als Gegenstand und nicht als Hintergrundannahme von Kapitalismusforschung zu etablieren. Das meint also gerade nicht Kapitalismusforschung, welche die Existenz des Kapitalismus ohne Weiteres annimmt und dann etwa nach regionalen Varietäten und Auswirkungen des global unterstellten Kapitalismus sucht. Vielmehr läge uns an Forschung, die sich wieder dafür interessiert, ob und wie sich Ökonomisierung und Kapitalismus überhaupt beobachten lassen, und wie sich die Stimmigkeit dieser Gesellschaftsdiagnosen in einem Maßstab beobachten lässt, der der Größe der Erzählung angemessen ist. Dieser Vorschlag verfängt allerdings nur, wenn man tatsächlich am Fortbestand des Kapitalismus als Forschungs- und Kritikgegenstand interessiert ist.

Wenn man sich stattdessen tatsächlich für Alternativen zum Kapitalismus interessiert, dann kann man die Großdatenlage als guten Grund begreifen, in Zukunft einfach etwas anderes zu beobachten und zu kritisieren als ausgerechnet das Bedeutungswachstum der Wirtschaft. Gerade wenn man also der Meinung ist, dass Ökonomisierung und Kapitalismus das Problem sind, sollte man in Zukunft vielleicht bewusst verzichten auf sein gutes Recht, seine gute Meinung zu äußern. Nicht aus Angst vor Repression, sondern aus der Einsicht heraus, dass selbst der intellektuell schärfste Problemfokus nicht mehr vermag als das Problem zu verschärfen (Roth, 2015), dass auch negative Kritik den Kritikgegenstand popularisiert und dass gut gemeint somit tatsächlich das Gegenteil von gut gemacht ist.

In der Tat schließt unsere Big-Data-Analyse die Möglichkeit nicht aus, dass es sich beim Kapitalismus um ein intellektuelles Artefakt ohne nennenswerte Resonanz in den Sprachräumen der Welt handelt, und dass dieser imaginäre Kapitalismus ausgerechnet von jenen die stärkste Unterstützung erfährt, die ihn am stärksten kritisieren.

In diesem Sinne lässt sich Big-Data-Forschung auch als Einladung zu mehr skeptischer Distanz, theoretischer Selbstironie und methodischem Spieltrieb verstehen. Wenn sich die im Grunde letztlich ja inkommensurablen Funktionssysteme wie auf einem Equalizer angeordnet vorstellt, dann erscheint Gesellschaftskritik nun tatsächlich ein wenig eindimensional, wenn sie sich schwerpunktmäßig auf die Bestimmung der korrekten Einstellung nur der ersten beiden der insgesamt zehn Regler konzentriert (vgl. Abb. 5).

Abbildung 5: Der Funktionssystem-Equalizer (modifizierte Version eines Screenshots des OS X Mountain Lion equalizer gadget von Apple Inc).

In der Tat gibt es gerade angesichts der am Großdatensatz nachvollzogenen, wechselvollen Geschichte der Funktionssysteme keinen begründeten Anlass anzunehmen, dass es immer und vor allem die politisch-ökonomische Baseline ist, welche die meiste Aufmerksamkeit im Konzert der Funktionssysteme verdient. Vielmehr steht umgekehrt zu befürchten, dass gerade der letztlich willkürliche Fokus auf Politik und Wirtschaft genau jene Verzerrungen erzeugt, die man dann mit noch stärkerer Konzentration auf Politik und Wirtschaft wieder auszugleichen versucht. Dass darin ein ironischer Widerspruch steckt, zeigt, dass Gesellschaftstheorie im Zeitalter von Big Data nicht obsolet wird, sondern lediglich gefordert ist, sich Aufschluss über ihre eigene Performance und Performativität zu verschaffen, und das gerade dann, wenn sie gesellschaftliche Trends nicht nur mitperformen, sondern vielmehr zutreffend beschreiben und allenfalls auch verändern will.

Author biography:

Steffen Roth is Full Professor of Management at the La Rochelle Business School, France, and Adjunct Professor of Economic Sociology at the University of Turku, Finland. He holds a Habilitation in Economic and Environmental Sociology awarded by the Italian Ministry of Education, University, and Research; a PhD in Sociology from the University of Geneva; and a PhD in Management from the Chemnitz University of Technology. He is the field editor for social systems theory of Systems Research and Behavioral Science. The journals his research has been published in include Journal of Business Ethics, Journal of Cleaner Production, Administration and Society, Technological Forecasting and Social Change, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, and Futures. His ORCID profile is available at orcid.org/0000-0002-8502-601X.