Giftgas in Syrien: Warum sich die OPCW weiter unglaubwürdig macht

OPCW-Zentrale in Den Haag. Bild: CEphoto, Uwe Aranas/CC BY-SA-4.0

Im Streit um einen Bericht über das syrische Duma greift die Organisation nun eigene Mitarbeiter an. Die interne Untersuchung wirft neue Fragen auf

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Inmitten des Skandals um einen manipulierten Bericht der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) reagieren die Verantwortlichen nun mit Gegenattacken. Nach einer internen Untersuchung griff OPCW-Generalsekretär Fernando Arias unlängst zwei ehemalige Mitarbeiter scharf an, die von der Organisationsleitung für die Veröffentlichung zahlreicher Dokumente verantwortlich gemacht werden. Diese Dokumente belegen, wie die Führung der in Den Haag ansässigen Organisation systematisch den Abschlussbericht zum mutmaßlichen Chlorgaseinsatz im syrischen Duma am 7. April 2018 manipuliert hat, um die These eines solchen Giftgasangriffs zu stützen (OPCW-Bericht: In Duma war wahrscheinlich Chlorgas als Waffe eingesetzt worden). Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten bereits wenige Tage nach den Ereignissen von Duma - noch während der OPCW-Ermittlungen - Einrichtungen der Assad-Regierung und der syrischen Armee bombardiert.

Im Herbst vergangenen Jahres hatte ein Mitarbeiter der sogenannten Fact-Finding-Mission (FFM) in Duma und Damaskus zunächst einen internen Expertenkreis über die Manipulationen informiert. Demnach ließ die OPCW-Führung systematisch alle Erkenntnisse übergehen oder gar zensieren, die der Giftgasthese zuwiderliefen. Zudem wurde fast das gesamte FFM-Team ausgetauscht (Whistleblower: OPCW-Bericht zum Giftgasanschlag in Douma einseitig). Dem Treffen des OPCW-Inspektors, das von der WikiLeaks-nahen Courage-Foundation anberaumt worden war, waren monatelange Versuche der involvierten FFM-Mitglieder vorangegangen, die Manipulationen zu verhindern und einen Kompromisstext zu erreichen. Von Ende Oktober bis Ende Dezember vergangenen Jahres veröffentliche WikiLeaks dann in vier Schüben umfangreiche interne Dokumente, die alle Vorwürfe bestätigen (OPCW-Dokument ordnete die Löschung eines Berichts zum Vorfall in Duma an).

OPCW-Generalsekretär Arias, ein spanischer Diplomat, reagierte nun äußerst harsch mit Attacken auf die mutmaßlich Verantwortlichen für die Leaks, die von der Organisation als Inspektor A und Inspektor B bezeichnet werden. "Die Inspektoren A und B sind keine Informanten", so Arias: "Sie sind Einzelpersonen, die nicht akzeptieren konnten, dass ihre Ansichten nicht durch Beweise untermauert wurden." Als ihre Meinung nicht durchgesetzt werden konnte, hätten sie die Sache selbst in die Hand genommen und damit ihre Verpflichtungen gegenüber der Organisation verletzt (Hauptvorwurf: Veröffentlichung vertraulicher Informationen).

Für die OPCW birgt der Frontalangriff nach Monaten des Schweigens ein hohes Risiko. Sollte der Konflikt arbeits- oder zivilrechtlich ausgetragen werden, würden bisher noch interne Dokumente und Vorgänge öffentlich. Auch deswegen spielen bislang alle Seiten das Spiel der Anonymisierung mit, obwohl einer der involvierten Kritiker, der australische Experte Ian Henderson, unlängst vor den UN-Sicherheitsrat in der Sache öffentlich ausgesagt hat. So dürfte sich der Konflikt nach den heftigen Vorwürfen weiter zuspitzen. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass die jüngste OPCW-Untersuchung zu den Leaks offensichtlich schwere Fehler enthält (Ex-OPCW-Inspekteur kritisiert Abschlussbericht).

So behauptet Arias, dass der als Inspektor A bezeichnete Mann, den der britische Journalist Peter Hitchens in der Mail on Sunday als Ian Henderson identifiziert, gar nicht Teil der FFM in Duma gewesen sei. Das stellt Hitchens in Abrede, denn als das erste Team zusammengestellt wurde, sei Inspektor A auf einer Mission in Nepal gewesen. Daher habe er natürlich nicht auf der Liste der mandatierten Personen für das zuerst eingesetzte Team stehen können. Später habe er sich auf Bitten der OPCW der Mission angeschlossen. Vor allem aber schreibt die OPCW selbst: "Am 4. Juni markierten und versiegelten Mitglieder des FFM-Teams die Zylinder der Standorte 2 und 4 und dokumentierten das Verfahren." Just Hendersons geleakter Bericht über Standort 2, wo ein mutmaßlicher Giftgaszylinder im Oberschoss eines Hauses in Duma lag, hatte die öffentliche Debatte in Gang gebracht. Der OPCW-Mann muss also als Teil der FFM vor Ort gewesen sein. Zumal die Authentizität seines geleakten Berichtes von der OPCW mit den internen Ermittlungen indirekt bestätigt worden ist.

Zu den Ungereimtheiten zählt auch, dass Arias behauptet, die meiste Arbeit sei erst nach Ausscheiden der beiden Männer geleistet worden. "Ihr Verhalten erscheint noch ungeheuerlicher durch die Tatsache, dass sie offensichtlich unvollständige Informationen über die Douma-Untersuchung hatten", so der OPCW-Chef. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sie beide in den letzten sechs Monaten der FFM-Untersuchung, als der Großteil der analytischen Arbeit stattfand, nicht mehr beteiligt gewesen seien. Tatsächlich zeigt der Vergleich des Entwurfs des Duma-Berichtes mit der umstrittenen Endfassung, dass meist nur einzelne Passagen geändert wurden. Alleine das Kapitel über den Fund der Zylinder wurde entsprechend der These ergänzt, es habe einen Giftgasangriff aus der Luft gegeben - wofür aufgrund ihrer Lufthoheit nur die syrische Armee verantwortlich sein könnte.

Arias wirft Inspektor A in diesem Zusammenhang vor, ohne Autorisierung externe technische Studien über die gefundenen mutmaßlichen Gasbomben in Auftrag gegeben zu haben. Dagegen wehrte sich Henderson vor dem UN-Sicherheitsrat:

Ich hatte die Unterlagen und den Arbeitsumfang des Projektvorschlags fertig gestellt und eine Liste qualifizierter externer Experten erstellt, die bei der technischen Studie helfen konnten. Ich nahm mit ausgewählten Anbietern Kontakt auf, wobei ich sichere verschlüsselte Übertragungen verwendete und (in dieser Phase) nur unklassifizierte Open-Source-Informationen zur Verfügung stellte, und erhielt Voranschläge. Dazu gehörten auch Voranschläge von zwei Beratern, die für die Arbeit am besten qualifiziert schienen. Der Teamleiter bestand jedoch darauf, dass wir nicht mit privaten Unternehmen zusammenarbeiten, so dass ich diese Anfragen abbrach.

Henderson

Verweigerung jeder inhaltlicher Debatte

Es ist zweifelhaft, ob die OPCW-Führung in der nun öffentlich geführten Debatte über die Manipulation des Duma-Berichtes mit ihrer aggressiven Strategie gegen einzelne Mitarbeiter wieder die Oberhand gewinnen kann. Bislang hat sie durch die Ermittlungen vor allem die Echtheit der geleakten Dokumente bestätigt. Die persönlichen Angriffe gegen langjährige Mitarbeiter könnten indes vollends zur Eskalation des intern und extern ausgetragenen Streits beitragen.

Die Strategie der Nato-Vertreter in der OPCW und der Organisationsführung besteht daher vorrangig in einer demonstrativen Verweigerung jedweder fachlichen Debatte über den umstrittenen Bericht. Deutlich macht das nicht nur OPCW-Generalsekretär Arias. Auch der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen reagierte auf die jüngsten Einlassungen Hendersons vor dem UN-Sicherheitsrat mit herablassenden Bemerkungen über die von Russland anberaumte Anhörung und verließ dann den Saal, bevor sein russischer Botschafterkollege Wassili Nebensja antworten konnte. Die persönliche Präsenz Hendersons bei der Sitzung im sogenannten Arria-Format - ein offenes Expertengespräch auf Antrag von Sicherheitsratsmitgliedern - war überdies nicht möglich: Die US-Behörden hatten dem Rüstungsexperten ein Visum verweigert.

In einer nun veröffentlichten, anonymisierten E-Mail beschrieb ein ehemaliger leitender OPCW-Beamter seine Amtszeit bei der Organisation als "die stressigste und unangenehmste Arbeit seines Lebens". Er sei tief beschämt über den Zustand der Organisation, heißt es in der Mail, die vom Nachrichtenportal Grayzone veröffentlicht wurde. "Ich fürchte die Hintermänner der Verbrechen, die im Namen der 'Menschlichkeit und Demokratie' begangen wurden", so der Mann: "Sie werden nicht zögern, mir und meiner Familie Schaden zuzufügen, sie haben schon oft Schlimmeres getan, sogar im Vereinigten Königreich. Ich will mich und meine Familie nicht ihrer Gewalt und Rache aussetzen, ich will beim Überqueren der Straße nicht in Angst leben!"

Auch der ehemals leitende OPCW-Beamte prangerte die Absetzung von Mitgliedern des ursprünglichen Untersuchungsteams in Syrien "vom Entscheidungsfindungsprozess und vom Management der kritischsten Operationen" an.

Es ist zu erwarten, dass der Konflikt um den umstrittenen Duma-Bericht in eine weitere Runde geht. Der Unmut über eine mutmaßlich politische Einflussnahme auf die Arbeit der Organisation scheint sich schon lange nicht mehr auf nur zwei Inspektoren zu beschränken.