"Die Kinder werden zum Problem erklärt"

Die Entwicklungspsychologin Laura Batstra fordert ein Umdenken über ADHS

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Laura Batstra ist Assoziierte Professorin für Heilpädagogik an der Universität Groningen in den Niederlanden. Nach ihrer Promotion über die Auswirkungen schwerer Geburten auf die Lebensqualität (2004) arbeitete sie mehrere Jahre in der Kinderpsychiatrie. Seit 2010 forscht sie an der Universität Groningen, wo sie inzwischen mit mehreren Preisen für ihre Lehre ausgezeichnet wurde.

2012 erschien ihr erstes Buch mit dem provokanten Titel (auf Niederländisch): "Wie beugt man ADHS vor? Indem man es nicht diagnostiziert." 2017 folgte "ADHS: Macht und Missverständnisse." In verschiedenen Projekten informiert sie Eltern und Lehrer über ADHS oder unterstützt Feiern für Kinder, die sonst ausgegrenzt werden. Batstra ist außerdem Mutter von sechs Kindern.

Frau Batstra, wie lange beschäftigen Sie sich jetzt eigentlich schon wissenschaftlich mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm. S. Schleim)?

Laura Batstra: Seit ich hier an der Universität arbeite, also seit 2010.

Warum interessierte Sie das Thema so sehr?

Laura Batstra: Nach meiner Promotion dachte ich, jetzt muss ich erst einmal Praxiserfahrung sammeln. So kam ich in die Kinderpsychiatrie, wo ich fünf Jahre lang als behandelnde Psychologin arbeitete.

Was ich dort sah, überraschte mich aber sehr. Mir begegneten viele Kinder, von denen ich dachte: Die sind doch ziemlich normal! Ich fand sie jedenfalls nicht sehr abweichend. Anfangs dachte ich, dass mir die Probleme vielleicht noch nicht auffallen, dass ich das erst lernen muss.

Die meisten meiner Kollegen kamen direkt von der Ausbildung und lernten dann in der Psychiatrie, die Kinder durch eine medizinische Brille zu betrachten. So wurden Verhaltensweisen schnell zu "Symptomen".

Sie meinen, dass Ihre Kollegen einen anderen Ausgangspunkt hatten?

Laura Batstra: Ich war promoviert. Und was lernt man in der Wissenschaft? Kritische Fragen zu stellen und sich bei allem zu überlegen: Was machen wir hier eigentlich? Von welchen Annahmen gehen wir aus und stimmen die überhaupt? Die meisten anderen kamen direkt aus dem Studium der Psychologie, Pädagogik oder Heilpädagogik in die Klinik und hatten das nicht so ausgeprägt gelernt.

Meine Fragen wurden im Laufe der Zeit immer größer. Müssen wir immer gleich psychiatrische Diagnosen stellen? Und damals, also 2005-2010, galt für die Diagnose ADHS noch die Richtlinie, dass man gleich Medikamente verschreiben soll. Nur wenn die Eltern das nicht wollten oder die Medikamente nicht halfen, wurde Verhaltenstherapie durchgeführt oder bekamen die Eltern Begleitung.

Ich war anderer Meinung und machte den Vorschlag, die Reihenfolge umzudrehen: Also erst Therapie oder Begleitung und danach Medikamente. Davon war man in der Klinik aber nicht sehr begeistert. Da schaute ich mir die Forschungsergebnisse etwas genauer an und mir fiel auf, dass es damals schon deutliche Hinweise darauf gab, dass man die Medikamente nicht zu schnell verschreiben sollte.

Wie sahen diese Forschungsergebnisse aus?

Laura Batstra: Es gab in den 1990er Jahren und dann insbesondere 1999 Studien, die sehr stark für die medikamentöse Behandlung sprachen. Diese wurden in der Wissenschaftswelt und in den Medien stark verbreitet. Schon wenige Jahre später gab es aber Untersuchungsergebnisse, die diese Erfolge wieder relativierten und die Pillen nicht mehr als Wundermittel erscheinen ließen, sondern stattdessen für die Verhaltenstherapie sprachen.

Ich machte meinen Arbeitgeber hierauf wiederholt aufmerksam, doch der wollte nichts davon wissen. Daher kündigte ich, denn ich wollte nicht länger unter den Richtlinien arbeiten, die Kindern so schnell Diagnosen und Medikamente verordnen.

Dann bewarb ich mich auf eine Forschungsstelle an der Uni mit dem Vorschlag, ob man nicht ein Stufenmodell einführen könne: Nicht gleich diagnostizieren, sondern erst die Eltern begleiten. Damit tanzte ich ziemlich aus der Reihe, denn man war felsenfest davon überzeugt, dass man für die richtige Behandlung mit der richtigen Diagnose anfangen müsse.

Woher kommt denn überhaupt dieses Denken, dass die psychiatrische Diagnose so wichtig sei?

Laura Batstra: Dafür gibt es nicht den einen Grund. An den Universitäten ist es leider immer noch sehr weit verbreitet. Einer meiner Doktoranden hat das als Forschungsthema. Und seine Untersuchung beispielsweise von akademischen Lehrbüchern zeigt eindeutig, dass man sehr stark in Begriffen von Störungen und Diagnosen denkt, die man dann biomedizinisch versteht. Dasselbe Muster haben wir leider auch in Informationsmaterial für Kinder gefunden: Da lernen sie, dass ADHS eine Gehirnstörung ist, für die es glücklicherweise Pillen gibt.

Dazu kommen eine Reihe von Interessenskonflikten. Nicht nur von der pharmazeutischen Industrie, sondern auch von Wissenschaftlern, die ihre Karriere auf diesem Thema aufbauen. Vergessen Sie auch nicht den Publikationszwang des heutigen Wissenschaftssystems. Und wir wissen alle, dass man schneller solche Veröffentlichungen bekommt, wenn man schöne positive Ergebnisse präsentiert. Das begünstigt Übertreibungen.

Denken Sie nicht zuletzt auch an die Lehrkräfte in den Schulen: Wenn es Probleme im Unterricht gibt und das Kind dann die ADHS-Diagnose bekommt, dann ist das eine Entlastung für alle Beteiligten. Oft verbessert sich dann die Beziehung zwischen Lehrkräften und Eltern und es scheint mehr Verständnis für das Kind zu geben. Wie Sie sehen, haben viele Parteien ein Interesse daran, das bestehende Denken über psychische Störungen aufrechtzuerhalten.

Ich denke, dass hier jetzt zwei Themen ineinanderspielen: Dass wir einerseits abweichendes Verhalten als Störung bezeichnen und es dann andererseits biologisch erklären. Sind das für Sie zwei Seiten einer Medaille oder doch zwei getrennte Vorgänge?

Laura Batstra: Die Situation wäre anders, wenn man die Störungsbegriffe nuancierter verstehen würde, etwa in dem Sinne: Wir verständigen uns jetzt darauf, ein bestimmtes Muster von Verhaltensweisen aus praktischen Gründen so-und-so zu nennen, beispielsweise ADHS. Es gibt aber viele Missverständnisse darüber, was so eine Bezeichnung eigentlich bedeutet. Und dadurch kommt es schnell zu Problemen.

Wenn man nämlich ADHS als eine neurobiologische Störung auffasst, dann lässt man Menschen mit dieser Diagnose fälschlicherweise glauben, dass sie eine Gehirnstörung hätten. Und das halte ich - sicherlich bei Kindern - für eine problematische Entwicklung.

Warum?

Laura Batstra: Aus verschiedenen Gründen. Wenn man mit der Überzeugung aufwächst, dass man ein krankes Gehirn hat, dann scheint mir das nicht gut für die Entwicklung zu sein. Dabei wurde das noch gar nicht genau erforscht, was diese Botschaft einem Kind vermittelt.

Dazu kommt, dass das Kind zum Problem gemacht wird. Man sagt: "Das ist ADHS und das ist in deinem Kopf. Du bist also das Problem und du musst behandelt werden." Und was machen wir dann? Medikamente verschreiben. Oder vielleicht haben Sie schon von diesem neuen Hype gehört, dass man Kindern 6kg schwere, mit Sand gefüllte Westen anzieht, damit sie etwas länger auf einem Stuhl sitzen bleiben. So werden die in der Tat etwas ruhiger. (lacht)

Und diese strenge Diät ist zurzeit auch wieder in den Medien. Man gibt Kindern fünf Wochen lange vor allem Reis, etwas Geflügel und Birne. Mehr dürfen sie nicht essen. Dahinter steckt die Idee, dass die ADHS-Problematik durch Lebensmittelallergien verursacht würde.

So belasten wir aber die Kinder mit allen Arten von Behandlungen, zum Teil sehr schweren Behandlungen, während wir uns kaum noch mit der Umgebung beschäftigen. Denken Sie nur an den Stress, den Lehrkräfte heutzutage erfahren. Hierzu haben auch meine Doktoranden geforscht. Es ist doch nur logisch, dass erschöpfte Lehrkräfte weniger Ressourcen übrig haben, um auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen.

Ist das also Ihre Erklärung dafür, dass heute so viele Störungen diagnostiziert werden? Weil der Stress zunimmt und wir uns kaum mit der Umgebung beschäftigen?

Laura Batstra: Das ist meine größte Sorge, ja. Nicht nur der Arbeitsdruck nimmt zu, sondern denken Sie auch an Kinder, die in Armut aufwachsen. Zudem verändert sich die Umgebung so, dass lebhaftes Verhalten von Kindern schneller zum Problem wird.

Hier muss ich aber wieder an zwei Möglichkeiten denken. Einerseits könnte das lebhafte Verhalten von Kindern zunehmen. Andererseits könnte es aber auch bloß schneller als Problem wahrgenommen werden. Was trifft Ihrer Meinung nach eher zu?

Laura Batstra: Das ist eine sehr gute Frage und hierzu hat der (niederländische, Anm. S. Schleim) Gesundheitsrat einen Bericht erstellt, der 2014 unter dem Titel "Medikamente und Gesellschaft" veröffentlicht wurde. Darin kommt der Rat zu dem Ergebnis, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass Kinder heute lebhafter wären als früher. Vielmehr scheinen Lebhaftigkeit und fehlende Konzentration heutzutage schneller ADHS genannt zu werden.

Wenn ich das alles zusammenfasse, dann heißt das, dass wir heute als Gesellschaft lebhaftes Verhalten von Kindern weniger ertragen können - und dann aber die Kinder dafür verantwortlich machen und behandeln, indem wir ihnen eine ADHS-Diagnose geben.

Laura Batstra: Ja. Das sind in Wirklichkeit natürlich sehr komplexe Prozesse. Wenn Sie mich jetzt aber bitten, eine möglichst einfache Erklärung zu geben, dann läuft es darauf hinaus: Wir leben heute in einer Leistungsgesellschaft, in der alles immer besser, immer schneller und immer schöner sein muss.

Durch die steigenden Ansprüche kommen immer mehr Kinder - und übrigens auch Erwachsene - in Schwierigkeiten. Und wenn Sie erst einmal in solchen Schwierigkeiten sind, dann ist es eine große Entlastung, dafür entschuldigt zu werden: Es liegt nicht an dir, sondern an deiner ADHS.

Und dann kommen Sie daher und sagen, diese in der Gesellschaft verbreitete Geschichte stimme nicht. Wir müssten mehr an die Umgebung denken und sowohl Eltern als auch Lehrkräfte besser aufklären. Wie reagieren die Menschen denn darauf? Vor allem mit Widerstand oder danken sie es Ihnen auch?

Laura Batstra: Anfangs war das nicht sehr angenehm und bekam ich viele wütende Reaktionen…

…vor allem von Eltern und Lehrern, von Wissenschaftlern oder von allen Seiten?

Laura Batstra: Ja, eigentlich von fast allen. Es gab sogar ein paar Psychiater, die meine Vorgesetzten hier an Universität unter Druck setzten. So bekam ich den Eindruck, als wolle man mich einschüchtern und mir den Mund verbieten.

Ist das etwas, das ich im Interview schreiben kann, oder sollen wir das besser für uns behalten?

Laura Batstra: Man macht sich damit keine Freunde. Aber ich denke doch, dass man solche Erfahrungen beim Namen nennen muss. Ich weiß auch sicher, dass ich nicht die Einzige war, der das widerfuhr.

Die meisten Menschen gehen Problemen doch lieber aus dem Weg und das kann ich auch verstehen. Gleichzeitig halte ich es aber auch für einen besorgniserregenden Mechanismus, dass kritisch denkende Menschen durch das psychiatrische Bollwerk so unter Druck gesetzt werden, dass sie ihren Mund halten. Warum kann man solche Probleme nicht ausdiskutieren?

Ich erfuhr auch viel Kritik von Eltern, die die Entscheidung getroffen hatten, ihre Kinder diagnostizieren und ihnen Medikamente verschreiben zu lassen. Und da gab es zwei Arten von Eltern: Die einen schrien solche Dinge wie "Laura Batstra gehört geschlachtet!" Die anderen waren höflicher und erklärten mir, dass ich solche Reaktionen provoziere, wenn ich meinen Standpunkt so stark vertrete. Davon habe ich viel gelernt. Heute formuliere ich das etwas vorsichtiger.

Es gibt natürlich auch Familien, die von den Medikamenten profitieren, und bei denen man froh darüber ist, dass es diese Behandlungsmöglichkeit gibt.

Widersprechen Sie sich da jetzt aber nicht selbst? Einerseits kritisieren Sie das biomedizinische Modell und jetzt räumen Sie ein, dass die Medikamente durchaus von Nutzen sein können.

Laura Batstra: Nein, so funktioniert das nicht. Es muss keine identifizierbare Gehirnstörung geben, damit die Medikamente wirken. Wir verwenden gerne Verlegenheit als Beispiel: Wenn Sie Alkohol trinken und nach ein paar Drinks weniger verlegen sind als vorher, dann heißt das natürlich nicht, dass sie eine Gehirnstörung haben.

Und Ritalin wirkt bei den meisten Menschen so wie Kaffee, bloß viel stärker. Den meisten Menschen hilft das dabei, die Konzentration vorübergehend zu verstärken.

Mir sind aber vor allem Studien geläufig, denen zufolge diese Stimulanzien eher subjektiv wirken, man sich dadurch besser fühlt, energiereicher und motivierter, um Aufgaben zu erledigen.

Laura Batstra: Schauen Sie, es ist immerhin ein Aufputschmittel. Diese Wirkung darf man von einem Aufputschmittel schon erwarten.

Im zweiten Teil des Interviews beschreibt Laura Batstra, wie sich das Denken über ADHS allmählich ändert. Sie erklärt auch, wie sie mit ihrem Ansatz Eltern und Lehrkräften beibringt, das störende Verhalten der Kinder stärker im Kontext zu verstehen und mit einfachen Regeln zu mäßigen.