Corona: Betroffen sind nicht nur die Infizierten

Peking (fotografiert am 26.01.2020). Foto: X. Wang

"Tatsächlich hielt der Zug in Wuhan, dem Ort der Apokalypse." Bericht über die Erfahrungen bei einer kürzlichen Reise nach China und die Rückkehr

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Am 30.12.2019 flogen wir nach Zhuhai, einer für chinesische Verhältnisse kleinen Stadt in der Provinz Guangdong nahe Hongkong. Mein Mann sollte dort aus dienstlichen Gründen für ca. 6 Wochen tätig sein. Mein Plan war es, für diesen Zeitraum die verbleibende Elternzeit zu nutzen, so dass wir gemeinsam mit unserer Tochter dem nasskalten und dunklen nordeuropäischen Winter entkommen konnten.

Das erste Mal hörten wir in einem Hongkonger Nachrichtensender von dem neuen Coronavirus. Allerdings wurden zu unserer Verwunderung die Nachrichten permanent von Werbung unterbrochen - wie wir später erfuhren geschieht das Schalten von Werbung vom Festland aus, wenn die Meldungen dem Festland-Publikum vorenthalten werden sollen.

So blieb es auch für uns bei unverständlichen Nachrichtenfetzen. In Erinnerung geblieben sind Szenen am Bahnhof bzw. Flughafen Wuhans. Menschen mit Mundschutz. Ich war optimistisch, vielleicht auch etwas naiv und dachte, dass es um eine auf Wuhan beschränkte Krankheitswelle geht - die Nachrichten würden sicherlich bald wieder aus den Medien verschwinden. In Zhuhai sind wir bis zum 18. Januar geblieben.

In dieser Zeit hörte man gar nichts vom Coronavirus, es sei denn man wechselte zu den Hongkonger Nachrichten - mit dem besagten Problem der Zensur durch Werbung. Ich kenne die angespannte Beziehung zwischen Hongkong und Festland China, daher war ich immer noch der Überzeugung, dass es sich um einen Fall von Schwarzmalerei seitens der Hongkonger handelte. Dass aus einer Nebensächlichkeit ein großes Thema gemacht würde.

Um das chinesische Neujahrsfest herum wollten wir ein bisschen verreisen, da in dieser Zeit ein Großteil der Betriebe schließt und die Belegschaft nach Hause zu ihren Familien fährt. Der Plan war, eine Woche in Yangshuo zu verbringen, in der Nachbarprovinz Guangxi. Anschließend sollte es über die Feiertage zu meiner Familie nach Peking gehen, bevor mein Mann wieder nach Zhuhai zurückkehren würde. Die Reise von Zhuhai nach Yangshuo verlief, überraschenderweise, sehr glatt.

Keine Spur von Menschenmassen, die alles daransetzen, mit Bus oder Bahn nach Hause zu ihren Familien zu kommen. Es war vergleichsweise leer, auch im angeblich ausgebuchten Zug, wo wir nur Karten für Stehplätze ergattern konnten, fanden wir Sitzplätze, die frei geblieben waren. Das Hotel in Yangshuo war groß, sauber und modern, hatte jedoch zu dieser Jahreszeit nur wenig Gäste. Wie andere Touristen auch besuchten wir die örtlichen Sehenswürdigkeiten.

Bis auf das nasskalte Wetter war es ein völlig gewöhnlicher und unbeschwerter Urlaub. Weiterhin komplett unberührt von den Hiobsbotschaften aus der nördlich gelegenen Provinz Hubei, die uns bald einholen sollten. Zwei Tage vor unserer Abreise nach Peking erfuhr ich von Auslandschinesen in Norwegen, die über eine WeChat-Gruppe Schutzkleidung und Geld für Wuhan sammelten. Ich fand die Initiative absurd - in meinen Augen war China ein wirtschaftlich starkes Land -, Hilfe schien nicht nötig.

Jedoch eskalierte die Lage im Stundenrhythmus immer weiter. Plötzlich war auch in Yangshuo, einem kleinen Landkreis mit ca. 300.000 Einwohnern, das Thema präsent. Der aus der chinesischen Öffentlichkeit inzwischen nicht mehr wegzudenkende Mundschutz war immer häufiger zu sehen. Einen Tag vor unserer Abreise aus Yangshuo, dem 23. Januar, beschlossen auch wir, für unsere Zugreise nach Peking sowohl Mundschutz als auch Desinfektionsmittel zu besorgen.

Die Fahrt ins Ungewisse

Unser Zug würde am nächsten Tag über Wuhan fahren. Schon zu diesem Zeitpunkt war es schwer, an OP-Masken zu kommen, Desinfektionsmittel waren jedoch noch reichlich verfügbar. Wir zahlten schließlich umgerechnet etwa 14 Euro (100 Yuan) für 20 Einweg-Masken. Wir ahnten nicht, dass es das letzte Mal gewesen sein würde, dass wir OP-Masken im freien Verkauf sehen würden - genau wie Desinfektionsmittel. Am Tag unserer Abreise war eine Ausgangssperre für die Stadt Wuhan verhängt worden.

Informationen zu den neuesten Entwicklungen bekamen wir jetzt auch von staatlichen Medien. Etwas nervös machte uns die Fahrt ins Ungewisse dennoch. Der Waggon unseres Zuges war gespenstisch leer - wir teilten uns den Wagen mit etwa drei weiteren Passagieren. Tatsächlich hielt der Zug in Wuhan, dem Ort der Apokalypse. Außer dem Ordnungspersonal waren die Bahnsteige komplett leer. Einer der größten Verkehrsknotenpunkte Chinas, Wuhan, war im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Geisterstadt geworden.

Mit dem rasanten Anstieg der veröffentlichten Zahlen Infizierter, nahm die Angst und Panik der Menschen von Tag zu Tag zu. In Peking wurden alle geplanten Neujahrstreffen meiner Großfamilie sowohl in Restaurants als auch im häuslichen Bereich gestrichen. Öffentliche Einrichtungen wie z.B. Kinos, Parks, Museen sowie Ferienkurse wurden geschlossen oder abgesagt. Viele kleine Straßen wurden gesperrt; Fußgänger wurden immer wieder darauf hingewiesen, nach Hause zu gehen. Plötzlich tauchten überall rote Banner auf.

Der Tenor war, dass das Virus mit Disziplin und Geschlossenheit zu besiegen sei. In den sozialen Medien (Weibo und WeChat) kam es kurzzeitig zu heftigen Anschuldigungen gegenüber den Regierungsorganen; Bilder von verbarrikadierten Türen und Häusern machten die Runde. So lange, bis die Hüter der Ordnung dem Wildwuchs ein Ende bereiteten. Die Artikel und Kommentare wurden mit "verbotener Inhalt" gekennzeichnet und gelöscht. Gleichzeitig wucherten allerhand Verschwörungstheorien und es tauchten krude Vorschläge auf, wie man mit Hausmitteln das Virus bekämpfen könnte.

Zurück nach Berlin

Die Firma meines Mannes forderte ihn auf, so bald wie möglich zurückzufliegen, der Schutz der Mitarbeiter sei nicht mehr gewährleistet. Außerdem stand die Befürchtung im Raum, dass die WHO einen internationalen Notstand ausrufen könnte und Fluggesellschaften daraufhin ihre Flüge streichen würden. Es kam andersherum. Am 5. Februar, nachdem wir 7 Tage lang in Peking einen isolierten Alltag geführt hatten, ging es zurück nach Berlin. Es waren kaum Passagiere an Bord, die Verpflegung war mies, es fühlte sich wie das Entkommen aus einem schlechten Endzeitfilm an. Wir waren Teil der letzten Fluchtwelle aus dem Land der Mitte.

Zurück in Deutschland dachte ich zuerst, es sei vorbei mit der Panik, der Angst, der Ausgrenzung. Allerdings täuschte ich mich auch diesmal. Da ich nicht wusste, was Rückkehrer aus China in Deutschland zu beachten haben, rief ich am zweiten Tag nach unserer Rückkehr die Corona-Hotline an. Nach einem sehr netten Gespräch, in dem grundlegende Fragen geklärt wurden, bekam ich die Antwort, dass Rückkehrer, die sich nicht in Wuhan/Hubei aufgehalten, keinen Kontakt zu infizierten Personen sowie keine Beschwerden haben, ab dem nächsten Tag sofort arbeiten dürfen.

Diese Information leitete ich meinem Arbeitgeber weiter, einer staatlichen Einrichtung in Berlin. Mein Arbeitgeber stimmte einer baldigen Rückkehr zu, meine Bürokolleginnen und -kollegen leider nicht. Mein Vorgesetzter konnte oder wollte dem starken Protest seitens meiner Kollegen nicht widersprechen, deswegen teilte er mir schließlich am Telefon mit, dass er die Rückänderung der von mir im Dezember beantragten Urlaubstage aufgrund meiner verfrühten Rückkehr nun doch nicht mehr akzeptieren würde.

Ich müsste deswegen noch weiter im Urlaub bleiben. Wenn ich die Urlaubstage zurückbekommen wollte, müsste ich eine Krankschreibung einreichen. Krankgeschrieben, ohne krank zu sein. Zurück in Deutschland aber weiterhin isoliert und ausgeschlossen.

Traurig und wütend war ich wieder zuhause eingesperrt und ich wusste auf einmal nicht mehr, was ich tun sollte - das Gefühl absoluter Leere schlich sich ein. Jeden Morgen schalte ich mein Handy an und sehe die steigenden Zahlen in Wuhan/Hubei und in anderen Provinzen. Ich denke an meine Eltern, an meine Verwandten, deren Alltag nicht wegen des Virus selbst, sondern wegen der radikalen Maßnahmen stark beeinträchtigt wird. Und sie stellen nur einen nicht messbaren Teil der Bevölkerung Chinas dar, deren Bewegungen massiv durch die Präventionsmaßnahmen eingeschränkt sind.

Solche Fakten und die Tatsache, dass sich der Großteil der Katastrophe ausschließlich in Wuhan abspielt, sind vielen Menschen in Deutschland offensichtlich gar nicht bewusst. Es wird permanent von der Verbreitung des Virus, von Quarantäne und von der Gefahr einer globalen Epidemie gesprochen. Ganz China ist gefühlt ein Risiko, man traut sich nicht mehr, Pakete aus China zu öffnen.

"Besorgte" Bürger sprechen sich gegen die Globalisierung und die Einreise von Chinesen aus. Das Coronavirus leistet, so scheint es, einer unterschwelligen und irrationalen Angst Vorschub. Womöglich ist es einigen nicht einmal bewusst, dass eine derartige Denkweise schlicht und ergreifend diskriminierend, wenn nicht gar rassistisch ist.

Bevor Wuhan gesperrt wurde, konnten ca. 5 Millionen Menschen die Stadt verlassen. Das war ungefähr ein Drittel der Gesamteinwohnerzahl. Viele sind geflüchtet, aus Angst und Panik. Genau wie diejenigen, die so schnell es ging, China verließen. In China sind Menschen aus Hubei nirgendwo willkommen, da sie sofort als potenzielle Virusträger gebrandmarkt werden.

Fragen

Im Ausland scheinen Chinesen, ungeachtet woher sie kommen, nicht willkommen, da China ein "verseuchtes" Land ist. Ich frage mich, ob dieser Logik nach nicht auch Außerirdische, falls es sie denn gäbe, die gesamte Erdbevölkerung als potenzielle Gefahr sehen würden, unabhängig davon, aus welchem Land oder Kontinent ein Individuum kommt.

Wer flüchtet, anstatt vor Ort zu bleiben, wird getadelt. Die Moral wird infrage gestellt, die Flüchtenden handeln verantwortungslos und egoistisch. Selten jedoch fragt jemand nach dem Schaden, nicht zuletzt dem wirtschaftlichen, der weniger durch das Virus als vielmehr durch irrationale Handlungen bedingt ist, die ihren Ursprung in Angst und Panik haben. Wer soll dafür aufkommen?

Der mittellose Wanderarbeiter, der in Peking aufgrund strikter Quarantänepolitik sein Geschäft nicht mehr öffnen darf, weil er aus Hubei kommt? Menschen wie ich, die gesund sind, aber nicht mehr zur Arbeit dürfen, weil sie neulich in China waren? Angestellte die entlassen wurden, weil ihre Unternehmen aufgrund der mehrfach verlängerten Schließzeit Personal abbauen müssen? Chinesische Studierende, die ihren Studienplatz im Ausland verlieren, da sie nicht mehr einreisen dürfen? Wissenschaftler und Geschäftsleute, die nicht mehr ins Ausland eingeladen werden?

Mit den weiteren Ausbrüchen des Virus in Südkorea und Italien werden die Fragen immer drängender: Wie stark müssen und dürfen Vorsichtsmaßnahmen sein? Wie viel ist nötig und wie viel kann unsere durch den globalen Handel eng vernetzte Welt verkraften? Nur um es klarzustellen: Es geht mir nicht darum, jegliche Vorsichtsmaßnahmen, die eine Verbreitung des Virus eindämmt, aufzuheben.

Prävention ist wichtig und richtig. Was allerdings in unserer Gesellschaft nach wie vor ignoriert wird, ist, dass zurzeit auch viele Menschen sowohl in China als auch in Deutschland von "Schutzmaßnahmen" und Ausgrenzung betroffen sind, die nie im Kontakt zum Coronavirus standen.

Es ist höchste Zeit, den Fokus nicht nur auf das Virus selbst zu legen, sondern auch auf die dadurch bedingten Kollateralschäden; auf Individuen, die nicht körperlich, sondern psychisch und emotional durch die Katastrophe und deren vermeintliche Prävention verletzt wurden.