"In der Psychiatrie wird es wohl immer einen unerklärbaren Rest geben"

Im dritten Teil des Gesprächs erklärt Ludger Tebartz van Elst, warum Psychiater genauer hinschauen sollten und wie die Zukunft seines Fachs aussehen könnte

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Ludger Tebartz van Elst ist Professor für Psychiatrie und stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Der zweite Teil des Gesprächs endete mit Vorschlägen, wie sich die Stigmatisierung psychischer Störungen reduzieren lässt, während die Psychiatrisierung in unserer Gesellschaft fortschreiten würde.

Was sind denn positive und negative Aspekte der Psychiatrisierung, also der zunehmenden Diagnose und Behandlung menschlicher Probleme durch Psychiater, in unserer Gesellschaft?

Ludger Tebartz van Elst: Positiv ist, dass die Toleranz dann wächst. Ich glaube schon, dass die Menschen weniger Angst vor einem Nachbarn mit einer Psychose haben, wenn sie darüber nicht nur Halbwissen haben und das im Sinne des genetischen Denkens von vor hundert Jahren missverstehen.

Negativ ist wohl, dass mit der Psychiatrisierung auch die Robustheit der Menschen abzunehmen scheint. Nehmen wir an, ich habe nach dem Verlust eines geliebten Menschen einen Durchhänger. In meiner Kindheit auf dem Dorf dachte man: "Der hat jetzt eine schwere Zeit, das geht auch wieder vorbei."

Heute bekommt das schnell das Etikett "Depression", es wird dadurch medizinalisiert und man gibt bei einem, der einfach nur drei Schicksalsschläge gleichzeitig wegstecken muss, Antidepressiva. Dadurch kann auch eine subjektive oder existentielle Komponente verloren gehen, die für manche Menschen von großer Bedeutung ist.

Die eigene Verzweiflung wird dann nicht mehr als Herausforderung durch das Schicksal, sondern als Krankheit gedeutet. Das Selbstbild und auch das Fremdbild kann sich negativ verändern, wenn man solche Probleme als Krankheit versteht.

Der Titel Ihres neuesten Buchs, "Vom Anfang und Ende der Schizophrenie", deutet darauf hin, dass diese Diagnose in der Psychiatrie aufgegeben werden könnte. Was meinen Sie damit?

Ludger Tebartz van Elst: Mir geht es vor allem um das Konzept hinter dem Begriff "Schizophrenie". Meiner Meinung nach schadet das mehr, als dass es nutzt. Viele - Patienten, Angehörige aber auch Fachärzte - gehen davon aus, es mit einer Erkrankung im engeren Sinne zu tun zu haben, wenn sie von Schizophrenie sprechen. Das führt oft dazu, dass man nicht mehr so genau untersucht, ob hinter den Problemen vielleicht eine Immunerkrankung steckt. Oder eine der Epilepsie ähnelnde Erkrankung. Solche Fälle sehen wir aber immer wieder in unserer Klinik.

Um das abzuklären, muss man zusätzliche Untersuchungen machen. Denken Sie z.B. an die Entnahme von Hirnwasser, an ein EEG, eine Untersuchung im Magnetresonanztomographen oder auch einen PET-Scan.

Findet man darin Auffälligkeiten, dann spricht das für die Vergabe anderer Medikamente. Die können dann nicht nur besser wirken, sondern auch weniger Nebenwirkungen haben. Wenn man jemandem mit einer Psychose aber schlicht das Etikett "Schizophrenie" gibt, dann wird oft nicht mehr so genau hingeschaut.

Was Sie hier vorschlagen, hört sich sehr aufwändig an.

Ludger Tebartz van Elst: Viele halten meinen Vorschlag für zu teuer und übertrieben. Denken Sie aber an die dramatischen Folgen einer Diagnose "Schizophrenie" für das Leben des Betroffenen und seiner Angehörigen! Oder die zu erwartenden sozialmedizinischen Folgekosten, wenn der Verdacht "Schizophrenie" im Raum steht, weil jemand Stimmen hört oder einen Wahn entwickelt hat. Das ist etwas anderes als von Depressionen zu sprechen oder zu sagen, jemand sei autistisch strukturiert. Verglichen mit den schweren Folgen fallen die zwei- bis dreitausend Euro für die genannten Untersuchungen doch kaum ins Gewicht.

Wenn diese Untersuchungen zu keinem Ergebnis führen, dann sollte man besser von einer "idiopathischen Psychose" als von einer "Schizophrenie" sprechen. Das bedeutet dann: Wir haben nach Ursachen gesucht, konnten aber keine finden. Dann leiden die Betroffenen weniger unter den Vorurteilen gegenüber Schizophrenen, die sie wahrscheinlich sogar selbst haben. Denken Sie daran, wie wir den Begriff "Schizophrenie" im Alltag verwenden: Da reden wir etwa von "schizophrenen Ideen" oder "schizophrener Politik".

Das erinnert mich an mein vorheriges Gespräch mit dem Psychiater Jim van Os, der Schizophrenie darum auch als "vernichtende Diagnose" bezeichnet und für die Abschaffung dieses Begriffs plädiert ("Es gibt keine Schizophrenie").

Ludger Tebartz van Elst: Dieser Begriff vermittelt eine Pseudosicherheit, die er nicht hat, und führt oft zu den genannten negativen Folgen. Was ich hier vorschlage, gibt es übrigens auch in anderen Teilen der Medizin. Denken Sie an die Diagnose "essentielle Hypertonie". Das heißt schlicht: Wir haben nach Ursachen für den hohen Blutdruck gesucht, konnten aber keine finden.

Sie erwähnten gerade die hohen sozialmedizinischen Folgekosten der Diagnose "Schizophrenie". Vorher sprachen wir schon über Stigmatisierung. Ist es nicht gefährlich, immer wieder die Kosten so hervorzuheben, die mit bestimmten Krankheiten einhergehen?

Sie hatten vorher schon einmal das falsche Verständnis von Erbkrankheiten angesprochen und was im Dritten Reich daraus wurde. Tatsächlich hat Nazi-Propaganda auf die Krankheitskosten abgezielt und behauptet: "Schaut euch an, diese Kranken kosten Hunderttausende Reichsmark. Mit dem Geld könnte man viele gesunde Familien unterstützen." Wenn wir heute so über Krankheitskosten sprechen, dann hört sich das für mich manchmal so an, als gebe man den Patienten dafür die Schuld, dass sie so teuer sind.

Ludger Tebartz van Elst: Nichts liegt mir ferner als das. Es heißt doch, wie eine Gesellschaft mit ihren Kranken und Behinderten umgeht, daran erkennt man ihre Humanität. Und das sehe ich auch so.

Natürlich gehen Krankheiten und Behinderungen, wenn man es nüchtern betrachtet, mit sozialmedizinischen Kosten einher. Aber hier muss man sagen: Die Menschen sind uns das immer wert! Ansonsten wirkt das negativ auf die ganze Gesellschaft zurück.

In diesem Sinne halte ich auch die vor allem von dem Philosophen Peter Singer befeuerte Diskussion um den sogenannten "effektiven Altruismus" für problematisch. Da will man vordergründig zwar mit Geld Gutes tun. Aber das Grundproblem ist die Bereitschaft, den Wert von Menschen überhaupt in Geld ausdrücken zu wollen.

Dabei geht das Absolute verloren. Und im Relativen verliert sich der Wert der Menschen. Was passiert dann aber mit denen, für die kein Geld mehr übrig bleibt? Diese Bewegung erscheint mir manchmal schon wie eine Religion.

Wenn man an sehr teure Behandlungen denkt, kommt man allerdings nicht um die Sachargumente herum. Denken Sie etwa an neue Medikamente mit Antikörpern, die schon einmal 40.000 Euro pro Jahr kosten können - und das bei einer chronischen Erkrankung. Anders als bei einer teuren Krebsbehandlung ist das also keine einmalige Sache, sondern geht es mitunter um eine lebenslange Therapie.

Da stellen sich irgendwann unangenehme Fragen. Mein Standpunkt bleibt aber: Wir müssen allen Menschen so gut wie möglich helfen, das müssen sie uns wert sein.

Sprechen wir am Ende noch über die Zukunft der Psychiatrie. Sie haben in Ihrer Forschung beispielsweise in einigen Fällen psychotische Symptome auf Entzündungen im Gehirn zurückführen können. Was bedeutet das?

Ludger Tebartz van Elst: Wir machen hier sicher eine ausführlichere organische Diagnostik, als das in anderen Kliniken üblich ist. Das ist immerhin unser öffentlicher Auftrag und eigener Anspruch als Universitätsklinik, weil wir auch Forschung betreiben.

Bei solchen Untersuchungen finden wir immer wieder heraus, dass beispielsweise eine psychotische Symptomatik mit einer anderen Erkrankung im Zusammenhang steht. Oft geht es dabei um Varianten von Erkrankungen des Immunsystems, wie etwa systemische Lupus Erythematodes oder das Sjörgren-Syndrom. Diese können zu Entzündungen im Gehirn führen, die wiederum mit Stimmenhören, kognitiven Problemen oder einer depressiven Verstimmung in Zusammenhang stehen.

In solchen Fällen kann dann eine Behandlung der Entzündung mit Kortison die psychiatrischen Symptome lindern oder gar ganz zum Verschwinden bringen. Das ist für uns als Psychiater eine tolle Erfahrung, wenn es diesen Patienten dann auf einmal besser geht.

Haben Sie hierfür vielleicht ein anschauliches Beispiel?

Ludger Tebartz van Elst: Ich muss hier insbesondere an eine Patientin denken, die uns auch die Zustimmung gegeben hat, Ihren Fall für Fortbildungen zu verwenden. Sie hörte nicht nur Stimmen, sondern litt auch unter Wahnvorstellungen: Sie meinte, Menschen wollten überall Sex mit ihr haben. Sie roch auch überall sexuelle Düfte. Das war für sie sehr schwer.

Nun konnten wir zwar mit sogenannten Neuroleptika das Stimmenhören behandeln. Die führten aber einerseits zu Nebenwirkungen und andererseits blieb der Wahn bestehen. Nach sieben Jahren des Suchens und Ausprobierens folgten wir noch einmal einer Spur, die auf eine Hirnentzündung deutete, und behandelten die Frau mit Kortison. Nach einer Woche waren die Probleme verschwunden.

Da begreift man, dass wir vieles immer noch nicht so genau verstanden haben. Gleichzeitig motiviert uns das aber auch dazu, als Psychiater genauer hinzuschauen.

Hier will ich noch einmal an die erste, eher theoretische Hälfte unseres Interviews anknüpfen. Da problematisierten Sie den Krankheitsbegriff in der Psychiatrie und brachten auch das historische Beispiel, dass viele psychische Störungen nach dem Vorbild der Neurosyphilis vor hundert Jahren verstanden werden. Demnach gibt es einen biologischen Krankheitserreger für die psychiatrischen Probleme.

Ihre neuen Beispiele hören sich sehr ähnlich an. Geht es Ihrer Meinung nach um Einzelfälle oder steht uns doch die lange versprochene neurobiologische Revolution in der Psychiatrie bevor?

Ludger Tebartz van Elst: Betrachten Sie etwa die große Gruppe der Schizophrenien von heute. Die wird meiner Meinung nach in vierzig bis fünfzig Jahren in kleinere Gruppen zerfallen. Ich gehe davon aus, dass man in der Hälfte der Fälle neurobiologische Ursachen wird identifizieren können. Und von diesen wird wahrscheinlich ein Drittel bis zur Hälfte mit Entzündungen zu tun haben, wie ich es hier darstellte.

Es wird aber wahrscheinlich auch die andere Hälfte der heutigen großen Gruppe übrig bleiben, bei der man keine Ursache findet. Das könnte man dann, wie ich es schon erwähnte, "idiopathische Psychose" nennen.

Der Fehler vor hundert Jahren bestand darin, dass man glaubte, es gebe einige wenige Ursachen für psychiatrische Störungen. Davon gehe ich nicht aus. Aber man wird viele Ursachen für kleine Untergruppen finden.

Die Psychiatrie wird sich Ihrer Meinung nach also langfristig weiter neurobiologisch spezialisieren und ausdifferenzieren, es aber auch weiterhin mit vielen Fällen zu tun haben, die letztlich nicht durch Probleme im Gehirn erklärt werden können?

Ludger Tebartz van Elst: Genau. Und vergessen wir auch nicht meine Analogie zur Weitsichtigkeit und der Brille, als wir über ADHS sprachen. Nun kommen manche Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass immerhin sechs Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens einmal Stimmen hören, sonst aber keine schwerwiegenden psychiatrischen Probleme haben.

In der heutigen gesellschaftlichen Realität würde man das wohl eher für sich behalten. Ich selbst würde das wahrscheinlich auch keinem erzählen, außer vielleicht meiner Frau, wegen der Vorurteile, die damit einhergehen. So gesehen könnte man aber selbst ein Symptom wie das Stimmenhören als Normvariante auffassen, schlicht weil es so häufig vorkommt. Und vielleicht kommen wir als Gesellschaft irgendwann zu dem Punkt, offen über so etwas reden zu können, ohne es gleich problematisieren und psychiatrisieren zu müssen.

Hinweis zum Interessenkonflikt: Ludger Tebartz von Elst und Stephan Schleim gehören beide zu den Unterzeichnern des Memorandums "Reflexive Neurowissenschaft" aus dem Jahr 2014, das aus einer Initiative der Professoren Boris Kotchoubey und Felix Tretter entstanden ist. 2016 folgte eine gemeinsame Publikation über methodische Probleme auf dem Weg zu einer integrativen Neurowissenschaft vom Menschen. Eine weitere Zusammenarbeit bestand oder besteht nicht.