"Es geht nicht ganz ohne soziale Normen"

Der Psychiatrieprofessor Ludger Tebartz van Elst über die Theorie und Praxis seines Fachs

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Ludger Tebartz van Elst ist Professor für Psychiatrie und stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Neurobiologie und Therapie von Autismus, ADHS und schizophrener Störungen.

Hiermit beschäftigte er sich in den letzten Jahren in seinen zwar anspruchsvollen, aber auch für Patienten und Angehörige geschriebenen Büchern "Autismus und ADHS. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstärung und neuropsychiatrischer Krankheit" (Kohlhammer, 2016) und "Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept" (Kohlhammer, 2017). Über die Freiheitsproblematik schrieb er die beiden Bücher "Freiheit: Psychobiologische Errungenschaft und neurokognitiver Auftrag" (Kohlhammer, 2015) und das in Kürze erscheinende "Jenseits der Freiheit: Vom transzendenten Trieb".

Professor Tebartz van Elst, wie lange arbeiten und forschen Sie nun eigentlich schon als Psychiater?

Ludger Tebartz van Elst: Seit 1998, also seit über 20 Jahren.

Und wie würden Sie Laien - oder Sie haben doch auch Kinder: Wie würden Sie denen erklären, was ein Psychiater macht?

Ludger Tebartz van Elst: Ich sage immer: Die Psychiatrie ist die Königin der Medizin. Damit meine ich die Medizin der höchsten Leistungen, die der menschliche Körper hervorbringen kann, nämlich das Denken, das Fühlen, Sprechen, Bewegen, Wollen, das Planen. Psychiater sind Ärzte, die Krankheiten in diesem Bereich diagnostizieren und behandeln.

Sie sagen "Krankheiten". Das ist in Ihrem Fach aber doch ein umstrittener Begriff. Betrachten wir es einmal theoretisch: Haben Sie eine einfache Antwort auf die Frage, was psychische Störungen überhaupt sind?

Ludger Tebartz van Elst: Kurz gesagt sind es Syndrome, also Muster von Auffälligkeiten. Der Störungsbegriff ist eigentlich der schwierigste von allen. Das muss man historisch betrachten. Der Störungsbegriff in der Psychiatrie funktioniert wie ein Krankheitsbegriff und man muss erst einmal verstehen, warum man sie "Störung" nennt und nicht "Krankheit". In der Allgemeinbevölkerung wird er meiner Wahrnehmung nach regelmäßig als Krankheitsbegriff missverstanden. Wenn jemand eine depressive oder schizophrene Störung hat, dann wird das oft verkürzt zu: Der hat Depressionen oder Schizophrenie.

Wenn wir jetzt ganz theoretisch werden, dann müssen wir einräumen, dass bisher alle Versuche gescheitert sind, den Krankheitsbegriff herzuleiten. In der Praxis geht man davon aus, dass eine Krankheit eine Gruppe von auffälligen Symptomen oder Funktionsstörungen ist, zu denen man die Erstursache kennt. Dies nennt man auch den ursächlichen Krankheitsbegriff.

Beispiele hierfür wären Pneumokokken und die Lungenentzündung; oder Neurosyphilis. Als man vor 100 Jahren in der Psychiatrie die Schizophrenie definiert hat, war die Neurosyphilis das Modell, dass also der Erreger der Syphilis im späten Stadium psychiatrische Probleme verursacht.

Müssen Erstursachen immer biologisch sein oder könnte auch ein Ereignis wie eine Scheidung als Erstursache gelten?

Ludger Tebartz van Elst: Das gibt es sogar in der Psychiatrie. Eine der neuesten Störungen in den Handbüchern ist genauso definiert, nämlich die posttraumatische Belastungsstörung (PTSS). In der Form des Traumas wird hier die Erstursache angegeben. Das wird inzwischen aber mehr und mehr aufgeweicht. Früher sagte man, das muss ein katastrophales Trauma sein, da wurde die Messlatte sehr hoch gehängt. Mittlerweile wird das aber mehr und mehr relativiert und das "erlebte" Trauma in den Vordergrund gestellt.

Ist nun eine Scheidung ein Trauma, das eine PTSS verursachen kann? Nach den alten Kriterien würde man das verneinen, das ist viel zu alltäglich. Heute würde man aber eher sagen, dass das sehr stark vom Erleben des Betroffenen abhängt, wie stark etwa der Streit bei der Scheidung war.

Aber wenn ich Sie richtig verstehe, dann würden Sie psychosoziale Vorgänge wie eine Scheidung prinzipiell als Erstursache für eine psychische Störung anerkennen?

Ludger Tebartz van Elst: Ja. Und wie immer in der Psychiatrie gilt hier das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, also die Anfälligkeit einer Person in Form der Genetik, der Lerngeschichte, der Biographie, einer schweren Kindheit oder anderer stresshafter Ereignisse im Leben. Das prägt die Anfälligkeit - oder die Widerstandfähigkeit, wie man heute eher betont - eines Menschen. Meiner Meinung nach bestreitet niemand ernsthaft, dass dies für die psychische Gesundheit von großer Bedeutung ist.

In Ihrem neuesten Buch ("Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept", Anm. S. Schleim) haben Sie sich intensiv mit dem Störungsbegriff auseinandergesetzt. Ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen, läuft es im Endeffekt aber doch immer darauf hinaus, dass psychische Störungen normativ sind, dass sie sich also auch mit unserem Denken und unseren gesellschaftlichen Strömungen verändern. Stimmen Sie dem zu?

Ludger Tebartz van Elst: Ja.

Verwundert es aber dann nicht, dass Sie diese Störungen neurobiologisch diagnostizieren und behandeln wollen? Treffen da nicht unterschiedliche Welten aufeinander?

Ludger Tebartz van Elst: Das ist ein großes Problem, vor allem bei den Persönlichkeitsstörungen. Man muss hier erst einmal den Unterschied zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung begreifen. Was sind noch normale Ausprägungen - und wo fängt die Störung an?

Sowohl das diagnostische Handbuch der Weltgesundheitsorganisation, das ICD, als auch das der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung, das DSM, haben sich hier darauf geeinigt, dass die Persönlichkeit von den gesellschaftlichen Erwartungen abweichen muss, um von einer Störung zu sprechen. Da haben wir es mit einem sozialen Normbegriff zu tun. Und das kritisiere ich auch in meinem Buch.

Weniger problematisch in diesem Sinne ist aber beispielsweise das Stimmenhören bei den Psychosen oder die Antriebslosigkeit und der Interessenverlust bei den Depressionen. Normalerweise hören die allermeisten Menschen keine Stimmen und können sie sich auch zu den Tätigkeiten motivieren, die sie interessieren.

Bei den Persönlichkeitsstörungen geht es aber um solche Fragen, wie: Wie viel Impulsivität ist normal? Wie viel emotionale Instabilität? Welches Sexualverhalten? Was nenne ich da normal, was nicht? Das sind natürlich brandheiße gesellschaftliche Diskurse. Diese starke Bezogenheit auf die gesellschaftlichen Erwartungen bei der Definition dessen, was gestört sein soll, halte ich für sehr problematisch.

Sie nannten Depressionen als weniger problematisches Beispiel. Aber Gesellschaften können sich doch auch darin unterscheiden, wie viel Antrieb und Interesse als normal gelten. Und jetzt sucht man in der psychiatrischen Forschung Entsprechungen solcher Phänomene auf der neurobiologischen Ebene - ist das kein Widerspruch in sich?

Ludger Tebartz van Elst: Das ist ein inhärentes Problem der Psychiatrie, dem wir nie ganz entkommen können. Das hängt damit zusammen, dass die Phänomene, mit denen wir es zu tun haben, dimensional sind, also wie auf einer Skala mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können; oder eben auch extrem.

Das schließt aber nicht aus, dass es dafür eine neurobiologische Entsprechung gibt. Denken Sie an das Beispiel Körpergröße, die in vielen Fällen multigenetisch geprägt wird. Wenn Sie z.B. 300 Größevarianten bestimmter Gene geerbt haben, dann sind Sie wahrscheinlich über zwei Meter groß. Haben Sie dagegen nur 150 geerbt, dann sind Sie wahrscheinlich, so wie ich, durchschnittlich groß. Es gibt hier keinen Widerspruch.

Hier will ich noch einmal nachhaken. Führende Psychiater haben doch gerade in den letzten Jahren wieder die fehlende neurobiologische Fundierung der von Ihnen genannten Diagnosehandbücher kritisiert. Daher formuliere ich meine Frage noch einmal anders: Was rechtfertigt uns in dem Glauben, dass das, was die Gesellschaft heute als Abweichung von der Norm festlegt, eine starke Entsprechung im Gehirn hat? So stark, dass man damit psychische Störungen diagnostizieren und behandeln könnte?

Ludger Tebartz van Elst: Ich persönlich würde diese These in dieser starken Form gar nicht vertreten. Das ist nicht so einfach. Eigentlich sollten wir in der Psychiatrie auf keine sozialen Normen zurückgreifen. Kurt Schneider (1887-1967, bedeutender deutscher Psychiater und Professor u.a. in Heidelberg, Anm. S. Schleim) hat immer wieder betont, dass wir das nicht tun sollen. Wenn man ganz genau hinschaut, lässt sich das aber nicht vermeiden, weil man sonst zu keinem Ergebnis kommt. Man muss irgendwie mit den Phänomenen umgehen - und mit den Menschen, die wir in der Psychiatrie vor uns haben. Bei unserer Begriffsbildung kommen wir um den Rückgriff auf sozial-normative Aspekte nie ganz herum.

Wie ich schon andeutete, glaube ich nicht, dass das bei der Definition der Persönlichkeitsstörungen gut gelungen ist. Das ist mir zu offen. Statistisch gesehen dürften nur zwei Prozent der Bevölkerung am oberen und unteren Ende des Spektrums die Kriterien erfüllen: Also etwa zwei Prozent zu impulsiv, zwei zu wenig impulsiv. Die Häufigkeiten der heute unterschiedenen Persönlichkeitsstörungen liegen aber zwischen zehn und zwanzig Prozent. Wir definieren also aufgrund einer sozialen Norm viel mehr Personen als gestört, als dies nach der statistischen Norm erlaubt wäre.

Dass es aber eine klare Neurobiologie gibt, um auf Ihre Frage zurückzukommen, die Störung von Nicht-Störung unterscheidet, das glaube ich nicht. Ich gehe jedoch davon aus, dass es innerhalb der großen Kategorien, etwa der Depressionen, Untergruppen gibt, bei denen sich die Probleme auf neurobiologische Faktoren zurückführen lassen, und dazu forschen wir auch in Freiburg.

Bevor wir das vertiefen, würde ich gerne noch beim Krankheits- und damit auch beim Gesundheitsbegriff bleiben. Nun definiert die Weltgesundheitsorganisation "Gesundheit" bekanntlich sehr breit als "Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen". In der Definition steckt also der soziale Aspekt. Behandlungen in der Psychotherapie und Psychiatrie zielen aber vor allem auf einen individuellen Menschen ab, nicht so sehr auf seine Umgebung. Wie passt das zusammen?

Ludger Tebartz van Elst: Ich bin auch kein großer Befürworter dieser Definition. Ich kann zwar die guten Absichten dahinter erahnen, dass nämlich Gesundheit mehr ist als nur die Abwesenheit von Krankheit. Diese Definition geht aber viel zu weit, demnach wäre auch ich noch nie in meinem Leben gesund gewesen. Wahrscheinlich würde kein Lebewesen jemals alle diese Kriterien erfüllen.

Sollen wir dann zum Beispiel das "soziale Wohlergehen" aus der Definition streichen? Dass das nicht in den Bereich der Medizin gehört?

Ludger Tebartz van Elst: Nein, insbesondere nicht in der Psychiatrie. Die Sozialpsychiatrie ist einer unserer drei Grundpfeiler, neben der Psychotherapie und der biologischen Psychiatrie.

Das Problem zeigt uns aber, dass genauso wenig, wie wir einen Krankheitsbegriff letztendlich definieren können, wir "Gesundheit" definieren können. Die schönste Definition, die ich gefunden habe, stammt aus dem Mittelalter von Thomas von Aquin. Er hat - sinngemäß - geschrieben: "Gesundheit ist die Fähigkeit, sich seines Lebens zu erfreuen." Und danach richten wir uns auch als Kliniker.

Gibt es aber nicht doch ein Missverhältnis, dass man in der Psychiatrie zu stark auf den einzelnen Menschen und zu wenig auf seine Umgebung schaut?

Ludger Tebartz van Elst: Die Psychiatrie hat immer solche Moden. Ich glaube schon, dass die drei genannten Grundpfeiler, diese drei Wurzeln der Psychiatrie, im Kern gesund sind. In der Forschung ist die Sozialpsychiatrie aber wohl ins Hintertreffen geraten. Auf wissenschaftlichen Kongressen kommen Sie mit sozialpsychiatrischen Vorträgen in unserer Zeit nicht so gut an. Und die Leute wollen eben auch Karriere machen.

In der Klinik ist die Sozialpsychiatrie aber eine Selbstverständlichkeit. So haben wir auch mehr als ein Dutzend Sozialarbeiter. Niemand zweifelt an deren therapeutischer Notwendigkeit. Sie können aber nun einmal als einzelner Arzt an der Gesellschaft nicht so viel ändern. Die Sozialpsychiatrie thematisiert die Passung eines Individuums in seine Umgebung. Und natürlich macht eine fehlende Passung oft krank.

Haben Sie hierfür vielleicht ein anschauliches Beispiel?

Ludger Tebartz van Elst: Ein typisches Beispiel hierfür ist das der Autisten. Wenn die beispielsweise in einem Großraumbüro arbeiten müssen, dann funktioniert das einfach nicht. Die sind als Menschen einfach so strukturiert, dass sie diese Reizüberflutung nicht aushalten können.

Eine unserer frühen Patientinnen hat ihr Abitur gut geschafft, hat auch das Informatikstudium gut geschafft, hat sogar einen Preis für ihre Forschung erhalten und dann eine Stelle bei einem großen Software-Unternehmen bekommen - wo sie als Autistin im Großraumbüro gnadenlos scheiterte. Hätte man ihr einen fensterlosen Kellerraum organisieren können und das auch noch beim Betriebsrat durchbekommen, dann hätte sie wahrscheinlich ein Erwerbsleben gehabt.

Dafür müssen das aber alle verstehen: Der Arbeitgeber, was er an dieser Frau hätte haben können. Und der Betriebsrat, dass das keine diskriminierende Maßnahme ist. Das hat aber leider nicht geklappt und diese Frau wurde mit Anfang dreißig schon frühberentet. Das war vergeudetes Talent. Die Sozialpsychiatrie kann dabei helfen, für so einen Menschen eine Nische zu finden - stößt irgendwo aber auch an praktische Grenzen. Und damals war das öffentliche Bewusstsein für Autismus noch nicht so ausgeprägt

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um die Zunahme der psychiatrischen Diagnosen und Medikamentenverschreibungen sowie die Stigmatisierung der Störungen in unserer Gesellschaft.