Im Abgeordnetenhaus von Berlin regiert das Aufklärungschaos

Special Guest: Unangekündigter Besuch des Verfassungsschutzchefs im Breitscheidplatz-Ausschuss

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Angekündigte Zeugen, die dann hinter verschlossenen Türen vernommen werden; dazu ein unangekündigter Verfassungsschutzchef, von dessen Besuch die Öffentlichkeit fast nicht einmal erfahren hätte - im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zum Anschlag vom Breitscheidplatz scheint Chaos zu herrschen. Ausdruck der Widersprüche im Anschlagskomplex?

Freitag, 28. Februar 2020: Um 10:15 Uhr eröffnete der Ausschussvorsitzende die Sitzung und begrüßte noch namentlich ein extra gekommenes Opfer. Die angesetzte Vernehmung der drei Zeugen sollte öffentlich geschehen. So konnte man es zu Sitzungsbeginn noch auf der Webseite des Berliner Parlaments lesen.

Doch nach wenigen Minuten schloss Stephan Lenz (CDU) die Öffentlichkeit wieder aus und bat die fünf Besucher vor die Tür. Das Gremium wollte sich zunächst intern beraten, hieß es. Kurz darauf dann die Ansage: Die ersten beiden Zeugen würden nicht-öffentlich vernommen. Der öffentliche Teil der Sitzung beginne erst um 17 Uhr. Die Pressekonferenz um 15 Uhr sei abgesagt. Ein komplett anderes Programm also.

Der erste Zeuge, abgekürzt als "H-2", ein Kriminaldirektor des Bundeskriminalamtes (BKA), habe vom Bundesinnenministerium keine Aussagegenehmigung für eine öffentliche Befragung erhalten, hieß es zur Erklärung. Später war auf Nachfrage zu erfahren, dass diese Einschränkung dem Ausschuss längst vorlag. Trotzdem wurde das Gegenteil kommuniziert. Beim zweiten Zeugen, "K-4", einem Beamten der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin, wurde durch die Innenverwaltung ein Schutzbedürfnis geltend gemacht. Der Mann war bereits im September 2019 schon einmal vernommen worden, ebenfalls strikt nicht-öffentlich.

Die öffentliche Befragung der dritten Zeugin, "K-5", ebenfalls eine Mitarbeiterin des LKA-Staatsschutzes, begann tatsächlich dann erst nach 18 Uhr, um nach 20 Minuten erneut unterbrochen zu werden. Und zwar für eine Stunde, in der kurzfristig der Chef des Berliner Verfassungsschutzes, Michael Fischer, herbei telefoniert wurde. Das erfuhr man erst hinterher am Ende abends gegen 21 Uhr. Ein unangekündigter, verdeckter Auftritt in bester Geheimdienstmanier also.

Für die kurzfristige Anwesenheit des obersten Verfassungsschützers widmete der Ausschuss die Sitzung kurzerhand zu einer internen Beratung um, in der sich Fischer die Kritik einiger Abgeordneter anhören sollte. Vor allem die Ausschussmitglieder der Linken und der Bündnisgrünen sind unzufrieden mit dem Antwortverhalten von Vertretern des LfV (Landesamt für Verfassungsschutz), wie mit den Unterlagen, die das Amt vorlegte. Unter anderem fehlten zehntausende von Emails, außerdem seien Treffberichte mit V-Leuten übermäßig geschwärzt. Die Rolle des Dienstes lasse sich so nicht überprüfen. Durchaus Dinge, mit denen man einen Geheimdienst-Chef auch öffentlich hätte konfrontieren können, sprich: vor Publikum.

Verfassungsschutz will mit Amri nichts zu tun gehabt haben

Das LfV Berlin hält bisher eisern an seiner Darstellung fest, man habe mit dem Fall Amri nichts zu tun gehabt. Als "islamistischer Gefährder" sei er ein Polizeifall gewesen. Der Verfassungsschutz habe nicht Amri, sondern höchstens die Moschee beobachtet, in der sich der angebliche spätere Attentäter regelmäßig bewegte.

Die Angaben des LfV sind gleich mehrfach unglaubwürdig. Beobachtungen von Moscheen sind kein Selbstzweck und geschehen nicht etwa aus architektonischem Interesse, sondern weil man bestimmte Personen überwacht. In Amris Fussilet-Moschee verkehrte jedenfalls ein LfV-Informant. Und mitunter operiert der Dienst auch mit Einflussagenten. So hatte das LfV in einem konkreten Fall einen V-Mann im Einsatz, der an geplanten Schleusungsaktionen ins IS-Kriegsgebiet aktiv beteiligt war, ehe er vom LKA überführt wurde. Die Kriminalermittler wussten da noch nicht, dass es sich um eine LfV-Quelle handelte. Die Rede ist von Emanuel K.P., der sich im Umfeld der sogenannten "Eisbär"-Gruppe bewegte: drei angeblich gewaltbereite Tunesier, die wiederum vom BKA bearbeitet wurden.

Der Amri-Freund Bilel Ben Ammar, Mittatverdächtiger des Anschlages vom Breitscheidplatz, hatte unmittelbaren Kontakt zu der Gruppe und wurde vom BKA als sogenannter "Nachrichtenmittler" informationell abgeschöpft. Was also wusste das LfV über dieses Umfeld? Das ist die bisher unbeantwortete Frage. Ben Ammar wurde Anfang Februar 2017 auf Betreiben des BKA und durch Anweisung der Bundesregierung aus der Untersuchungshaft nach Tunesien abgeschoben.

Ob die Beratung der Abgeordneten mit dem Verfassungsschutzchef Fischer, der seit November 2018 auf seinem Posten ist, aufklärerische Wirkung zeigt, darf bezweifelt werden. Vor seinem Engagement in Berlin war der 48-Jährige für den Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein (2015 - 2018), Hessen (2007 - 2015) und in Köln beim Bundesamt (2001 - 2007) tätig. Zu den Hochzeiten des NSU-Skandals sozusagen.

Widersprüche zwischen offiziellen Verlautbarungen und nachprüfbaren Befunden

Dass die Öffentlichkeit von seinem unvermittelten Auftritt im Untersuchungsausschuss beinahe nichts erfahren hätte - Kalkül oder Aufklärungschaos? Denn in der Sache wachsen die Widersprüche zwischen offiziellen Verlautbarungen und nachprüfbaren Befunden. Und dazwischen die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, deren Spielraum für großzügige Interpretationen des Anschlaghintergrunds enger wird.

Die Aufklärung der Tat auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, der zwölf Menschen zum Opfer fielen, ist von überragendem öffentlichen Interesse - so wie die Aufklärung der NSU-Morde und aktuell des Doppelattentats in Hanau. Die Arbeitsweise des Berliner Untersuchungsausschusses wird dem nicht gerecht. Vor allem, weil es auf Seiten der Sicherheitsbehörden offensichtlich Gründe geben muss, sich zu verstecken.

Dazu gehören Zeugenvernehmungen in geheimer Sitzung, wie beim Polizeizeugen "K-4", aber auch die Abkürzung ihrer Namen. Die Zeugin "K-5" heißt so, weil sie die fünfte ist, deren Nachname mit "K" beginnt. Am Anschlagstag war sie im LKA Berlin regulär die Leiterin der Abteilung für zentrale VP-Führung im Staatsschutz. Abends um 21 Uhr wurde sie damals in die Befehlsstelle der Berliner Polizei gerufen, wo sie dann für die Entgegennahme und Bearbeitung von Anschlagshinweisen aus der Bevölkerung verantwortlich war. Also nicht für den Einsatz von V-Personen (VPs).

Wie andere Zeugen des LKA vor ihr, erklärte auch sie, sie sei nicht von einem Unfall ausgegangen, der sich auf dem Breitscheidplatz ereignet habe, sondern direkt von einem Anschlag. Auch die Einsatzkonzeption des Polizeipräsidenten sei in diese Richtung gegangen.

Die abgegebenen Täterbeschreibungen reduzierten sich lediglich auf "männlich" und "dunkel gekleidet". Zu dem zunächst festgenommenen und dann wieder freigelassenen Pakistaner haben im Staatsschutz keine Erkenntnisse vorgelegen. Auf Amri habe es keine relevanten Hinweise gegeben. Die haben sich erst durch die Ermittlungen ergeben.

Dass im Fußraum des Tat-LKWs Portemonnaie und Duldungspapiere von Anis Amri gefunden worden seien, habe sie am 20. Dezember 2016 um 19 Uhr in der Lagebesprechung erfahren. Da habe sie überhaupt zum ersten Mal den Namen Amri gehört. Dass ein Kriminalbeamter aus Nordrhein-Westfalen schon am frühen Morgen des 20. Dezember davon gehört haben will, dass der Name Amri kursierte, habe sie erst "im Nachgang" vernommen.

Name und Bild Amris seien in der Presse erschienen, noch ehe die Polizei damit fahnden konnte. Wie es dazu kam, wisse sie nicht. Wie das polizeiintern diskutiert wurde, wollte sie nur in der anschließenden nicht-öffentlichen Sitzung sagen. Das galt auch für die Fragen, welche Aufträge die V-Personen nach dem Anschlag erhielten, und wie der Staatsschutz bei den Kontaktpersonen Amris Informationen beschafft hat.

Eine Unbekannte ist weiterhin auch die Frage, wie die Erkenntnislage unmittelbar nach dem Anschlag im LKW-Führerhaus aussah. Viele Kollegen seien zum Tatort geeilt, um zu helfen, erklärte die Zeugin "K-5". Doch dann habe jemand die Frage aufgeworfen, ob denn das Fahrzeug überhaupt sicher sei, sprich: ob eine Gefahr durch Sprengstoff besteht. Deshalb sei die Spurensicherung zunächst eingestellt und eine Sprengstoffsuche durchgeführt worden. Allerdinge habe sie mit diesen Ermittlungen vor Ort nichts zu tun gehabt.

Ihre öffentliche Befragung war nach gut einer Stunde vorbei. Auch, weil die Ausschussmitglieder von SPD und AfD in dieser Runde keine einzige Frage an die Zeugin hatten.

Das Anschlagsgeschehen wird im Mittelpunkt der nächsten Sitzung des Untersuchungsausschusses im Bundestag stehen. Am 5. März sollen gleich vier Polizeibeamte befragt werden, die in den Stunden nach der Tat mit Ermittlungen oder Fahndungen zu tun hatten. Darunter ein Kriminalhauptkommissar, der die Spurensicherung am Tatort leitete. Außerdem jener Polizeibeamte, der der erste am Tatort gewesen sein soll.