Jim-Crow-Deutschland

Thomas D. Rice als "Jim Crow". Bild: New York Public Library's Digital Library/gemeinfrei

Der Rassismus und die Kontinuität seiner Erscheinungsformen

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Der amerikanische Bürgerkrieg endete nicht 1865 mit dem Sieg der Nord- über die Südstaaten. In gewissem Sinn hält er bis heute an, aber ganz manifest beeinflusste er mit seinen giftigen Voraussetzungen und Hinterlassenschaften die US-Politik bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts.

Die an den Bürgerkrieg anschließenden historischen Perioden werden als "Reconstruction" (1865 - 1877) und "Jim-Crow-Ära" (1877 - 1964) bezeichnet, letztere nach einer rassistischen Witzfigur: Jim Crow war der ständig betrunkene, täppische, aber gleichwohl zu Aufsässigkeit und Verschlagenheit neigende Schwarze, der in unzähligen, sehr populären Shows und Pamphleten die Verachtung der Weißen für die "Negroes" immer wieder manifestierte und am Leben erhielt.

Interessanterweise war die Figur bereits 1828 entstanden, markierte also schon vor dem Bürgerkrieg, was die Sklavenhalter und Rassisten verhindern wollten: den Aufstieg des Afroamerikaners vom sprachbegabten Arbeitsvieh zum gleichberechtigten Citizen. Als sich das nach dem Krieg abzuzeichnen begann, erlebte Jim Crow erst seine Glanzzeit.

Juristisch wurde der Hass im Süden der USA durch sogenannte "Jim-Crow-Laws" kodifiziert, die die Unterdrückung der Schwarzen und die Rassentrennung auf ewig festschreiben sollten. 1865, gleichzeitig mit dem Ende des Bürgerkriegs, entstand der Ku-Klux-Clan, die erste faschistische Geheimorganisation der Welt. Der Klan wurde zwar um 1870 aufgelöst, aber 1915 als offen operierende Massenorganisation neu gegründet.

Blutiger Terror gegen die schwarze Bevölkerung, inklusive Lynchmorden, Pogromen, Bombenanschlägen und Brandstiftungen kostete Zehntausende das Leben. Wie das ständige Bedrohungs- und Terrorszenario für Schwarze noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussah, kann man anhand vieler Zeitzeugnisse, Filme, Romane nachvollziehen, stellvertretend seien hier nur genannt I am not your negro, Lovecraft Country, On a move und The Intruder.

Was hat das alles mit dem Deutschland von heute zu tun? Gab es in Deutschland je Sklaverei? Oder einen Bürgerkrieg wie in den USA?

Obwohl Arbeiter und Arbeiterinnen um die Jahrhundertwende in Deutschland durchaus in sklavereiähnlicher Armut existierten (auch wenn sie formal keine Sklaven waren), und obwohl der deutsche Kolonialismus in "Deutsch-Südwestafrika" (Namibia) bereits genozidale Formen angenommen hatte (Konzentrationslager mit Zwangsarbeit eingeschlossen), obwohl es bereits im Ersten Weltkrieg zur Ausbeutung von deportierten Zwangsarbeitern (z.B. aus Polen) gekommen war, entfaltete sich die deutsche Art der Sklavenhaltung erst während der Nazizeit zu ihrer schrecklichen Blüte.

"Vernichtung durch Arbeit" hieß das Programm, und innerhalb weniger Jahre forderte es Millionen Tote. Deutschland musste in Schutt und Asche gelegt werden, um diesem Treiben ein Ende zu setzen. Zwar hatte man den Zwangsarbeitern im Krieg Milliarden und Abermilliarden an Zusatzprofit im Vergleich zu "normal" Beschäftigten abgepresst, aber man hatte sie ja auch vernichten wollen. Zudem war die Befehlsgewalt über die Übriggebliebenen durch die Niederlage im Krieg verlorengegangen - was taten also die Stützen der Gesellschaft, als im boomenden Nachkriegsdeutschland Arbeitskraft knapp wurde?

Sie suchten, wie schon ihre Vorgänger, in anderen Ländern danach. Im Westen waren das zunächst Italien und die Türkei, im Osten Mozambique und Vietnam, und neue Namen für die "Fremdarbeiter", wie sie in der Nazizeit genannt wurden, gab es auch: Im Westen hießen sie "Gastarbeiter", im Osten "Vertragsarbeiter". Mit Sklaverei hatte das rein gar nichts mehr zu tun, waren die Gemeinten doch freiwillig in Deutschland, als freie Verkäufer ihrer Arbeitskraft, abgesichert durch Verträge und Gastfreundschaft.

Ihre Freiheit war mindestens so groß wie die der befreiten schwarzen Sklaven in den USA nach dem Bürgerkrieg. Wer sich zum Beispiel über die anfänglichen Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Gastarbeiter in der westdeutschen Autoindustrie ein Bild machen will, trifft auf Aussagen wie diese:

Mit wenigen Ausnahmen lebten alle Angeworbenen im sogenannten Italiener-Dorf "Berliner Brücke", das durch seine ausschließlich männlichen Bewohner einzigartig war. Zeitweilig faßte es bis zu 6 000 Italiener und erhielt durch seine Baracken, seine Umzäunung und den bewachten Eingang einen kasernenähnlichen Charakter. Die damit verbundene Isolation der italienischen Arbeiter liegt auf der Hand. Verbindungen zur Wolfsburger Gesellschaft reduzierten sich meist auf Arbeitsbeziehungen. (…) Es ließen sich zahlreiche Berichte zur lllustration der Zustände in der "Berliner Brücke" anführen, zitiert sei hier nur aus einem einzigen italienischen Brief, der für das Jahr 1970 eine erschreckende Bilanz zieht: "Wenn die Neuankömmlinge weiterhin provisorisch in sehr dreckigen Zimmern oder sogar auf dem Boden schlafen müssen, wenn ihnen kein Topf oder keine Pfanne zum Kochen zur Verfügung steht, solange den Italienern nicht die Möglichkeit gegeben wird, ihre Familien nachzuholen und solange nichts zur Freizeitgestaltung unternommen wird - denn sie können nicht nur von Arbeit leben - bis dahin wird weiterhin die große Fluktuation als Herrscherin regieren."

Deutsches Historisches Museum, "Venite a lavorare con la Volkswagen!" "Gastarbeiter" in Wolfsburg 1962-1974

Als sich abzeichnete, dass die Fremden bleiben würden, und das gerne als Menschen mit sozialer Absicherung, familiärem Rückhalt und einer gesellschaftlichen Perspektive, da war es mit der Gastfreundschaft schnell vorbei. Neue Kapitalverwertungs-, Rohstoff- und Überproduktivitätskrisen brachen aus, die Folgen der voll durchgesetzten Automatisierung machten sich in einer verschärften Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, und viele Deutsche entdeckten ihr Lieblingshobby wieder: den eliminatorischen Rassismus.

Schon das Erstarken der NPD Ende der Sechziger vollzog sich im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Ende des Nachkriegsbooms - der ja ganz wesentlich auf die Zusatzgewinne durch Überbausbeutung in der Nazizeit und auf die Arbeitskraft der "Gastarbeiter" zurückging. Die sollten jetzt ganz schnell wieder verschwinden, da waren sich "Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer" oft einig:

Der Hintergrund des vielzitierten "sozialen Konsenses" bei VW zwischen Management und Belegschaftsvertretung tritt hier deutlich zu Tage. 

Eine eindeutig diskriminierende Erklärung für den Massenrückzug der Gastarbeiter in den Jahren 1966 und 1967 gab die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände im Februar 1974: "Die Unternehmen trennten sich vorwiegend von Minderleistungswilligen. Trotz teils schwacher Auftragslage werden als Entlassungsgründe von Seiten der Betriebe hauptsächlich Tatsachen angeführt, die in der Person des Ausländers begründet liegen (Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, Fehlzeiten u.ä.).

Deutsches Historisches Museum, "Venite a lavorare con la Volkswagen!" "Gastarbeiter" in Wolfsburg 1962-1974

In einem solch fruchtbaren Umfeld war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu Gewaltausbrüchen kam. Was mit den Aktivitäten von Leuten wie Peter Naumann, der Hepp-Kexel-Gruppe, den Deutschen Aktionsgruppen, der Gruppe Ludwig und den Gewaltorgien rechter Skinheads und Hooligans in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern begann, bekam einen unerhörten Schub, als west- und ostdeutsche Hässlichkeiten durch die Wiedervereinigung zueinanderfanden.

In der DDR hatte es, wie im Westen auch, Rechtsextremismus und gewalttätigen Hass gegen alles gegeben, was als "fremd" empfunden wurde. Der Historiker Harry Waibel hat dazu ausführlich publiziert.

Da nun zusammenwuchs, was zusammengehörte, explodierte die Situation in der Progrom- und Anschlagswelle der frühen Neunziger Jahre. Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln und Lübeck sind nur einige der Orte, an denen sich der Hass austobte. Der NSU konnte so lange morden, bis er sich selbst enttarnte.

Das Krisenhafteste an der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015 - 2017 war eine Neuauflage der Gewaltwelle aus den Neunzigern und die Etablierung eines parlamentarischen Arms des Rechtsextremismus in Gestalt der AfD. Selbstverständlich haben all diese Schreckenstaten einen gelebten Alltagsrassismus zur Voraussetzung, der Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg immer mitbestimmt hat.

Es ist ja gerade dieses Hintergrundrauschen, das pogromartige Entladungen, faschistische Parteien, rechtsterroristische Zellenstrukturen und Einzelattacken so wahrscheinlich, ja zwingend macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, aber besonders nach der Wiedervereinigung hat das Hunderte Menschen das Leben gekostet.

Und dann Hanau. Über den tödlichsten rechtsextremistischen Anschlag seit dem Oktoberfestattentat ist viel geschrieben worden und wird noch viel geschrieben werden, aber im Zusammenhang mit dem besagten Grundrauschen ist vor allem eines wichtig: Mehrere Kommentatoren (vor allem solche mit einem "Migrationshintergrund") haben auf die Relevanz des Orts hingewiesen, an dem die Tat stattfand.

Shisha-Bars sind Rückzugs- und Ruheräume für Menschen mit "südländischem Aussehen" und nichtdeutschen Namen, die anderswo nicht zugelassen werden, egal ob sie ihre deutschen Pässe vorzeigen oder nicht. Wenigstens dort können sie (theoretisch) mit anderen zusammensitzen, die wie sie ausgegrenzt werden, weil sie keine richtigen Deutschen sind.

An so einem Ort ein solches Massaker zu begehen, soll den Marginalisierten signalisieren, dass sie buchstäblich nirgendwo sicher sind. Nicht in ihren Wohnungen oder in der "Sammelunterkunft". Nicht in ihren Internetcafés. Nicht in ihren Moscheen und Tempeln oder nichttraditionellen Kirchen. Und nicht in Shisha-Bars. Das hört sich nun ziemlich genau nach dem an, was Schwarze in den Jahrzehnten der Jim-Crow-Ära erleiden mussten und was sich teilweise bis heute fortsetzt. Geht in eure Kirchen, sie werden angezündet oder zerbombt. Baut ein Geschäft auf, es wird niedergebrannt. Fahrt in euren Autos, Polizisten schikanieren oder erschießen euch.

Nun hat sich Deutschland nicht auf irgendeine magische Weise in den Süden der USA verwandelt. Jim-Crow-Gesetze gibt es heute in Deutschland nicht, die Nürnberger Gesetze sind nicht mehr gültig. Aber was nützt das, wenn die Sportschützen bei ihren Müttern im Keller sitzen und auf den Tag der Rache warten?

Wenn "Migranten" noch viel schwerer eine Wohnung finden als alle anderen? Wenn sie sich am Arbeitsplatz jeden Tag den gleichen Mist anhören müssen, immer und immer wieder? Die Gemeinsamkeiten zwischen der Jim-Crow-Ära und Deutschland heute sind (bei allen Unterschieden) doch frappierend.

Sie gehen bis zu den Identifikationsangeboten bestimmter, ressentimentgeladener Varianten des Islams, die ihren eigenen Wahn, ihren eigenen Terror mitbringen. Rhetorik und Praxis von Zeigefinger-Imamen in Deutschland gleichen den Tönen aufs Haar, die man von schwarzen Islamisten in den USA schon so lange hört. Diesen Leuten wiederum kann jede Spaltung zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft nur recht sein, sie leben ja davon.

Nein, Deutschland heute ist nicht dasselbe wie die USA während der Jim-Crow-Ära. Hier geht es vielmehr um jahrzehntelange rassistische Kontinuitäten in kapitalistischen Gesellschaften. Wie die zu brechen wären, ist eine Frage für alle, die sich eine bessere Zukunft wünschen.