Coronavirus: Warum Europa jetzt einen Shutdown braucht

Bild: geralt/pixabay.com

Die Daten lassen keinen anderen Schluss zu: Ganz Westeuropa ist nur kurze Zeit entfernt von dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, der in Italien bereits stattfindet. Social distancing kann die Katastrophe aber relativ einfach verhindern

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Zunächst einige Vorbemerkungen. Das Kernargument des exponentiellen Wachstums, das nach wie vor unterschätzt wird, wird anfangs vorgestellt, aber dann Entscheidungsstrategien in unbekannten Situationen diskutiert. Dabei soll auch auf Gegenargumente, Widersprüche und ungeklärte Probleme eingegangen werden, die im Moment nicht abschließend zu beurteilen sind. Ziel ist ein rationaler Handlungskonsens der Bevölkerung und konkrete Handlungsempfehlungen aufgrund sachlicher Information.

Dazu war auch das Forum meines letzten Artikels "Coronavirus: Europa planlos" äußerst nützlich, so dass ich ausdrücklich um Rückmeldung von qualifizierten Experten und Praktikern in Detailfragen bitte, die ich in einem Nachtrag zusammenzufassen plane - am besten mit aussagekräftigem Thread und Link zu Informationen. Vertrauliches kann dem Autor unter coronavertraulich@protonmail.com mitgeteilt werden. An dieser Stelle sei auch der Redaktion von Telepolis gedankt, die - nicht nur bei diesem Thema - ein breites Spektrum von Meinungen zulässt.

Vorliegende Evidenz

Telepolis berichtete bereits über die rigiden Maßnahmen, die Italien getroffen hat. Die Überlastung der Krankenhäuser in der Lombardei führt jetzt bereits dazu, dass lebensnotwendige Therapien manchen verweigert werden müssen. China hat Italien gestern die Lieferung von 1000 Lungenventilatoren und zwei Millionen Atemschutzmasken angeboten. Die meisten europäischen Länder haben ähnliche Ressourcen wie Italien (zur detaillierten Vergleichbarkeit weiter unten).

Die Infektionszahlen bzw. die Zahl der Intensivpatienten ("critical") sind jedoch völlig eindeutig: Alle westeuropäischen Länder sind nur ca. 10 Tage von der Situation in Italien entfernt. Am 10.3. abends hatte Italien 10149 Infizierte, Frankreich 1606, Deutschland 1457 usw. Letzteres entspricht der Situation in Italien am 29.02. bzw. 01.03. In den vergangenen 10 Tagen wuchs die Zahl der Infizierten dort um den Faktor 1,246 pro Tag, Deutschlands Faktor war im 10-Tages-Mittel 1,287 (10. Wurzel aus 1457/117). Dies deutet auf ein erstes Wirken der italienischen Maßnahmen hin, aber auch auf dringenden Handlungsbedarf in Deutschland. Eine Excel-Tabelle, mit der man diese und ähnliche Zahlen leicht verifizieren kann, ist hier.)

Ebenfalls unangenehm stellt sich für Gesamteuropa die Lage dar. Natürlich ist für die Situation eines einzelnen Landes das Gesundheitswesen und die Infektionen pro Einwohner (rechte Spalte) maßgebend. Nach Italien (151 pro Mio.) sind hier noch vor Deutschland besonders kritisch die Schweiz (57, mehr als China!), Norwegen, Spanien, Schweden, Frankreich, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Österreich. Seit dem 6.3. stieg jedenfalls die Fallzahl in Europa auf ca. 18.100 an (10.3. abends), was einem täglichen Faktor von 1,268 entspricht (leicht abnehmend). China hatte zu entsprechender Zeit (vom 30.01. bis zum 03.02.) seinen täglichen Wachstumsfaktor schon auf 1,222 gedrückt. Dies bestätigt die Aussage im Artikel vor 4 Tagen, dass Europa wesentlich stärker als China vom Ausbruch betroffen sein wird.

Dieses drohende exponentielle Wachstum scheint noch keiner der Verantwortlichen richtig verstanden zu haben. Ein didaktisch großartiges Video dazu findet sich hier, welches am Ende auch die richtige Lösung anspricht, nämlich dass die Menschen ihr Verhalten ändern müssen: "Wenn also die Leute ausreichend besorgt sind, dann gibt es viel weniger zu befürchten, aber wenn niemand besorgt ist, dann muss man sich wirklich Sorgen machen."

Paradoxien der Gefahrenwahrnehmung

Insofern waren die beschwichtigenden Aussagen des Robert-Koch-Instituts der vergangenen Wochen ("geringe" Gefahr für die Bevölkerung) nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu ursächlich für die Krise - obwohl sie, darin liegt die Paradoxie - im jeweiligen Moment objektiv gar nicht falsch waren. Eine momentan geringe Ansteckungsgefahr öffentlich zu betonen, beschwört aber eben diese Gefahr gerade herauf. Das sollte eine oberste Seuchenschutzbehörde eigentlich verstanden haben. Überall hörte man, die Angst vor dem Virus sei eine größere Gefahr als das Virus selbst. Durch das Fehlen der Angst wurde dieser aber erst richtig zur Gefahr. Und die Angst groß.

Man ging direkt von verantwortungsloser Sorglosigkeit zu ebensolchem Fatalismus über, anstatt frühzeitig, entschieden und wirksam zu handeln. Länder wie Taiwan, Singapur oder auch bisher Russland haben es vorgemacht, und es ist dafür keineswegs zu spät.

Was allerdings nicht mehr ausreicht, ist das alleinige Nachverfolgen von Infektionsketten, die außer Kontrolle geraten sind - sicher unter anderem durch die zu lange Testdauer. In München - direkte Erfahrung durch Bekannte - dauert dies derzeit noch 4 Tage (Do-Mo). Eine Welle von Verdachtsfällen überschwemmt derweil die Schulen.

Falsches Krisenmanagement

Warum hinken Behörden bei den Entscheidungen so oft hinterher? Einerseits fürchten Politiker unpopuläre Entscheidungen, weil man versäumt hat, die Bevölkerung über den Ernst der Lage aufzuklären. Aber jede konventionelle Abwägung, wie sie derzeit diskutiert wird, öffentliches Leben hier, Wirtschaft dort, geht fehl, weil Aufschieben alles nur noch schlimmer macht, erst recht auch für die Interessen, die man durch Aufschieben schützen wollte. Je später man zu bremsen anfängt, desto härter die Landung. Mit den obigen Faktoren wächst der Schaden, den man der Gesundheit, der Wirtschaft, ja der ganzen Gesellschaft zufügt, stündlich (!) um etwa ein Prozent, solange man nichts tut.

Bevor am Ende Vorschläge zur Eindämmung gemacht werden, würde ich gerne auf die Ansichten eingehen, die die beschriebene Sicht als "zu alarmistisch" ansehen. Grundsätzlich handelt es sich um eine aktuelle Situation mit vielen Unbekannten, in der sich jeder irren kann. Eine Gegenansicht ist zum Beispiel der Tenor der gestrigen Sendung frontal21. Der Präsident der Bundesvereinigung der Kassenärzte, Andreas Gassen, wischt mit einer arroganten Einlassung Befürchtungen weg, dass "uns italienische Verhältnisse drohen". Selbst wenn die Intensivmedizin in Deutschland angeblich so gut ausgestattet ist: Sollen uns die Nachbarn ganz egal sein? Bizarr die Bemerkung in der Sendung, die Ausbreitung in Südkorea und China sei ja "zum Stillstand gekommen". Von alleine?

Widersprüche, Probleme und Ungeklärtes

Ernstzunehmender, weil vielleicht grundsätzlicher, ist die Kritik von Dr. Wolfgang Wodarg, der im Rahmen der Schweinegrippe sich mit Verstrickungen der WHO mit der Pharmaindustrie beschäftigt hatte - sicher verdienstvoll. Aber wie kohärent sind seine Argumente? Coronaviren gebe es viele, sie seien prinzipiell nichts Neues. Aber warum steigen dann die Fallzahlen so rapide an? Wodarg suggeriert, dass dafür falsch-positive Resultate des PCR-Tests verantwortlich sein könnten, die auch auf andere Corona-Arten reagieren könnten.

Prinzipiell wäre dies möglich, ich kann es nicht beurteilen (Forum?), und sicher ist es vielleicht wünschenswert, wenn der derzeit in aller Welt verwendete Test der Charité unabhängig repliziert würde. Allerdings wäre es äußerst merkwürdig, dass der Test in Italien (tamponi) bis zu 14 Prozent positive Resultate ergibt, in Asien aber nur im Promillebereich. Wodarg fand auf kurzfristige Nachfrage keine Zeit, dies zu beantworten.

Auffällig ist schließlich, dass Italien relativ viele Todesfälle und Intensivpatienten hat, und Deutschland sehr wenige, andere Länder (Südkorea, Frankreich, Spanien) liegen dazwischen. Ich weiß nicht, ob es Therapieunterschiede gibt (Forum?). Tatsächlich waren unter den Verstorbenen in Italien viele mit schweren Vorerkrankungen, was die Statistik verzerren kann. Umgekehrt gibt es aber in Deutschland möglicherweise Anreize, Lungenkranke und Tote nicht zu testen. Die Ärzte verkennen (kein Vorwurf bei Überlastung), wie wichtig es wäre, zur Beurteilung der epidemiologischen Gefährlichkeit verlässliche Daten zu erheben.

Die medizinische Gefährlichkeit des Virus wird wohl noch eine Zeit lang ungeklärt bleiben, weil es unter ca. 2500 natürlichen Todesfällen am Tag in Deutschland nicht so einfach ist, den korrekten Anteil von COVID-19 zu ermitteln. Eine günstige Evidenz sind die Erkrankungen auf dem Kreuzfahrtschiff Princess Diamond, die in wohl hoher Altersgruppe relativ glimpflich verliefen (6 Tote, 32 kritisch von 696 Infizierten).

Ursprung des Virus noch nicht eindeutig bestimmt

Viel klinische Forschung benötigen die medizinischen Folgen. Die asymptomatischen Schädigungen der Lunge können zwar reversibel sein, ebenso wie die vereinzelten Übergänge des Virus ins Nervensystem. Ich gestehe zu, dass dies erfahrene Ärzte weniger beunruhigen mag, aber wirklich bekannt sind die Eigenschaften des Virus noch nicht.

In diesem Zusammenhang muss man auch den noch betrachten, dass der Ursprung des Virus nicht endgültig geklärt ist, s. auch die Zuordnung der ersten Patienten. Ich halte zwar Theorien über den Einsatz einer Biowaffe für Unsinn, jedoch bleibt das versehentliche Entkommen aus einem Labor in Wuhan, das sich mit dem Fledermaus-Coronavirus beschäftigte, eine theoretische Möglichkeit (Gegenargumente hier). Das bedeutet nicht unbedingt eine Gefährlichkeit des Virus, jedoch wäre es kompatibel mit der heftigen Reaktion, die China zur Eindämmung unternommen hat. Das alles hat nichts mit "Panikmache" oder "Verschwörungen" zu tun, man muss nur einfach anerkennen, dass die Sachlage noch nicht ganz geklärt und weitere Forschung nötig ist. Ein medizinischer Überblick zur Krankheit hier.

Wie handelt man aber rational bei unsicherer Entscheidungsgrundlage? Es ist hier nicht nur nach der Wahrscheinlichkeit der Gefahr auszugehen, sondern der mögliche Schaden zu berücksichtigen. Ein Überschätzen der Gefahr des Virus ist durchaus möglich, und hat kurzfristig unangenehme Folgen. Irrt man in dieser Richtung kann man aber Maßnahmen wie unten beschrieben problemlos zurückfahren. Ein Unterschätzen hat jedoch katastrophale Folgen. Insofern ist alles andere als konsequentes Handeln im Moment verantwortungslos.

Nicht nur über 1000 Personen vermeiden, sondern auch einen Abstand unter 1000 Millimeter

Dazu folgende Überlegungen: Die Strategie der Unterbrechung der Infektionsketten ist gescheitert, daher muss jede Person (außerhalb der Familie, die sich z.B. gleiche Standards zu eigen macht) als potentieller Überträger gesehen werden, vor dem eine Ansteckung zu vermeiden ist. Dies erfordert folgendes:

Keine Versammlungen mehr (auch keine unter 1000 Personen), Schließen von Universitäten, Schulen und Kindergärten, ausreichender Personenabstand am Arbeitsplatz, etablieren von Gesichtsmasken als soziale Norm, ebensolcher Personenabstand in Restaurants. Vermeidung aller Ansteckungswege durch Händeschütteln, Aufzugsknöpfe, Türgriffe, PIN-pads etc. Desinfektion. Sehr viel lässt sich aber realisieren, wie Telearbeit, Videounterricht etc. Man stelle sich vor, die Welt müsste die Situation ohne Internet bewältigen.

In der Krise wird auch Improvisieren notwendig sein. Man muss nicht unbedingt europäisches Vergaberecht einhalten, wenn dringendst Masken gebraucht werden. Prioritäten müssen gesetzt werden, um die Funktionalität von Gesundheitswesen, Polizei, Feuerwehr zu erhalten, ebenso wie die öffentliche Versorgung. Aber es gibt vielleicht bald schon Fälle, in denen Rechtsgüter gegeneinander vernünftig abgewogen werden müssen. Wenn dies wie bei einem Notstand wie in Italien schon Menschenleben betrifft, bedeutet dies ein Armutszeugnis der Zivilisation. Die Entscheidungsträger sind jetzt gefordert. Versäumen sie die richtigen Maßnahmen, werden sie sich nach der Krise unangenehmen Fragen stellen müssen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor.

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