Die Seuchen der anderen

Bildausschnitt aus "Der Triumph des Todes", Pieter Bruegel der Ältere (vermutlich 1562). Abbildung: Wikimedia

Das vierte Siegel: Gottes Geißel, weiße Grippe schwarzer Tod - Epidemien in der Geschichte der Menschen

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Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.

Offenbarung, 6. 7-8

Seuchen begleiten die Menschheitsgeschichte. Sie wecken vage Ängste und unbestimmte Faszinationen. Über Medizinisches hinaus ziehen sie die ganze Gesellschaft in Mitleidenschaft. Corona ist nur das neueste Beispiel: Seuchen rühren an Urängste.

Die Geschichte der Seuchen zeigt, dass auch moderne Gesellschaften verwundbar sind. Auch heute sind Krankheiten nicht so beherrschbar, wie sich das unsere hochentwickelte Gesellschaft wünscht. Zugleich zeigen Seuchen das Beste im Menschen. Ihre Geschichte ist auch die derjenigen, die sie bekämpfen.

Viele spuckten Blut

Es war ein Bild des Schreckens: Schwerkranke bluteten aus Nasen und Ohren, viele spuckten Blut. Da ihre Lungen kaum noch arbeiten, leiden sie an Sauerstoffmangel und laufen blau an. Der Tod kam qualvoll, aber schnell. Von Oktober bis November 1918 häuften sich die Zeitungsberichte über eine seltsame Grippe. Manches, was die Zeitungen berichteten, erinnert an unsere Gegenwart: Schulschließungen wurden angeordnet. Kino-, Theater- und Tanzveranstaltungen, sogar Gottesdienste in vielen Regionen verboten.

Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wurde eingeschränkt, das Ausspucken auf offener Straße unter Strafe gestellt. Über Seehäfen und Bahnhöfe wurden Quarantänen verhängt, Krankenhäuser richteten Isolierstationen ein. Zur Desinfektion setzte man Chlorbleiche oder Karbolsäure ein.

Die Behörden wiesen darauf hin, dass es sich bei der "spanischen Krankheit" nicht um die Lungenpest oder um Hungertyphus handelte, sondern um eine Grippeepidemie. Die extrem schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln verschärfte die Lage. Weil gerade der Weltkrieg beendet war und in Berlin die Revolution tobte, wurde in den Zeitungen kaum noch über die Grippe berichtet. Die Menschen nahmen die Krankheit als einen weiteren Schicksalsschlag hin und führten die wachsende Zahl der Toten auf schlechte Ernährung zurück.

Vor 100 Jahren wütet die Spanische Grippe (Influenza). Sie forderte von Jahresanfang 1918 bis 1920 weltweit 50 Millionen Todesopfer, mehr als die Pest im 14. Jahrhundert. Dass damals besonders jüngere Menschen sterben, wird mit einer Überreaktion des Immunsystems begründet. Bei den Alten ist das Immunsystem schlicht zu schwach für diese Überreaktion.

Damals hat alles relativ harmlos begonnen, wird berichtet. Während der ersten Welle im Frühjahr 1918 erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Der Auslöser, das Influenza-Virus, konnte erst 1933 entdeckt werden. Die Spanische Grippe ist die schlimmste Seuche der Moderne. Sie veränderte die Gesellschaft.

"Man hörte keine Stimmen, kein Weh..."

Es gibt viel mehr Seuchen, als wir ahnen. Der Medizinhistoriker Stefan Winkle schreibt in seiner über 1.100 Seiten umfassenden "Kulturgeschichte der Seuchen" über Lepra ("Aussatz"), Milzbrand, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Wundinfektionen (die mal Tetanus, dann Gasbrand, dann Sepsis genannt wird), über Kindbettfieber, Ruhr, Typhus, Pest, Fleckfieber, Trachom, Malaria, Schlafkrankheit, Pocken, Tollwut, Gelbsucht, Gelbfieber, Grippe, Krätze, Tanzwut, Papageienkrankheit, das Marburg-Syndrom und schließlich über menschengemachte , "künstliche" Seuchen, die im Bioterror der biologischen Kriegsführung verwendet werden.

Unsere Sprache verrät uns. Unsere Rhetorik führt uns zurück in Höhlenzeiten, als wir noch prähistorische Menschen waren. Denn wenn wir über Infektionskrankheiten reden, sprechen wir davon, dass sie uns "befallen" können wie ein wildes Tier. Dass eine Seuche "ausbricht" wie ein Raubtier aus dem Käfig.

Die bekannteste Seuche ist nach wie vor die Pest. Als sie Mitte des 14. Jahrhunderts plötzlich über das Abendland hereinbrach, und sich in rasender Geschwindigkeit vom Osten aus nach Westen ausbreitete, erwiesen sich die Ärzte als völlig hilflos. Immerhin wussten sie sich zu schützen: Pestärzte des Mittelalters und der frühen Neuzeit stolzierten gekleidet in weite Mäntel und mit einer Schnabelmaske wie Vogelscheuchen umher - die Kleidung half die gefährlichen Flohbisse zu vermeiden, die ein Hauptüberträger der Pest waren.

Zwischen 1346 und 1350 starb fast ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Der Dichter Petrarca schrieb als Augenzeuge über die Verhältnisse in Norditalien zwischen Mailand und Verona: "Städte und Burgen wurden verlassen. Man hörte keine Stimmen, kein Weh, keine Schmerzen, kein Weinen mehr, die Stimmen von Braut und Bräutigam, der Klang der Laute, der Gesang junger Leute und jeglicher Freude waren geschwunden."

"Nur ein großes Leichenfest/ das ist der Rest"

Die Pest schuf ungeahnte soziale Konflikte: Viele verzweifelten an der Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit der Mitmenschen. Die Städte reagierten überaus verschieden. Manche Kommunen lehnten es ab, Flüchtlinge aufzunehmen, andere taten genau das. Zwischen infizierten und nicht infizierten Städten entwickelte sich ein feindseliges Verhältnis. Bürgern, die Flüchtlinge anderer Städte beerdigten, drohte der Kirchenbann.

Aus Angst vor Ansteckung ergriff man Absperrungsmaßnahmen, zuvorderst in den besonders gefährdeten mediterranen Hafenstädten: Zuerst wurde die Quarantäne in Venedig erfunden. Da schuf man die Vorschrift, dass Ladung und Passagiere ankommender Schiffe 30 Tage auf einer Insel vor der Stadt bleiben mussten, bevor man an Land gehen durfte.

Marseille folgte diesem Beispiel und erhöhte die Frist auf 40 Tage. Bis heute heißen darum solche Maßnahmen "Quarantäne" - von "quarantina", dem damaligen italienischen Ausdruck für 40 Tage. Es kam aber auch zu härterem Vorgehen: In Genua versuchte man, Schiffe durch Beschuss mit Brandfackeln am Anlegen zu hindern. Doch alles dies verzögerte den Ausbruch nur. Von den Hafenstädten aus gelangte die Seuche ins Hinterland. Im Sommer des Jahres 1348 war der ganze Kontinent von der Seuche befallen.

Viele Menschen flohen in menschenleere Gegenden. Andere suchten Sündenböcke und es kam mehrfach zu Juden-Pogromen. Wer Trost in der Religion suchte, tat dies oft nicht bei den etablierten Kirchen, sondern in Bewegungen wie den Flagellanten, die sich selbst geißelnd und singend durch Straßen und Felder zogen. Aus dieser Zeit stammt auch der Ursprung eines bekannten deutschen Kinderlieds: "Oh du lieber Augustin Augustin Augustin, oh du lieber Augustin - alles ist hin/ Jeder Tag war ein Fest/ und was jetzt/ Pest die Pest/ nur ein großes Leichenfest/ das ist der Rest."

Wahrnehmungsphänomene und Orientierungslosigkeit

Sogar der Gegenstand selbst macht klar, dass Fall und Untergang der Welt kurz bevorstehen, nur dass scheinbar, so lange Rom unversehrt bleibt, nichts davon gefürchtet werden muss. Doch wahrhaftig, wenn jenes Haupt der Welt gefallen ist und der Umschwung eingesetzt hat, wer wollte bezweifeln, dass dann das Ende der Menschheit und des Weltkreises gekommen ist? Jene Stadt ist es, die bisher alles aufrechterhält.

Lucius Caecilius Firmianus Lactantius (250-320) ca 311 n.Chr

Der Begriff "Pest" ist übrigens nicht eindeutig. Im Lateinischen steht er allgemein für Seuchen, und auch in anderen Sprachen wird nicht zwischen Pest, Pocken, Cholera und anderen Infektionskrankheiten unterschieden.

Berühmt wurde als erstes die "Justinianische Pest", eine Pandemie, die sich zur Zeit des oströmischen Kaisers Justinian ereignete und erstmals 541 in Ägypten auftauchte und 542 Konstantinopel erreichte. Sie gilt als die größte antike Epidemie. Bei dieser Krankheit handelte es sich nicht um eine Pest im eigentlichen Sinn.

Übertragen wurde sie offenbar durch große Fliegenschwärme, deren verstärktes Auftreten durch eine plötzliche klimatische Veränderung verursacht wurde - ein Vulkanausbruch in Asien verursachte eine Aschewolke, die die Atmosphäre verdunkelte und zu einer schlagartigen Abkühlung führte, die etwa 20 Jahre anhielt.

Die Ereignisse im Oströmischen Reich seit 541 tragen alle Merkmale der klassischen Pestepidemie. Der Erreger befiel zuerst Nagetiere, besonders die schwarze Hausratte. Durch einen Biss des infizierten Rattenflohs kam der Erreger in den menschlichen Blutkreislauf, in den Lymphknoten bildeten sich Schwellungen. Wenn diese nicht ausheilten oder nach Außen aufbrachen, ging von ihnen eine septische Infektion aus und in der Folge die Lungenpest - das endete fast immer tödlich.

Die Todesrate wird auf etwa ein Viertel der Bevölkerung geschätzt; diese Werte sind allerdings sehr unsicher. In manchen Berechnungen ist von einem Bevölkerungsrückgang von 60 Prozent die Rede. Besonders betroffen waren größere Städte. Die Pest zog des Weiteren Hungersnöte und wirtschaftliche Krisen nach sich. Hinzu kamen Viehseuchen wie eine Rinderpest.

Die monumentale Habilitationsstudie "Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr." vom Tübinger Althistoriker Mischa Meier nimmt die in einer außerordentlichen Dichte und Schwere auftretenden Katastrophen während Justinians Herrschaft (527-565), und fragt nach deren Erfahrung und Bewältigung. Meier will den Umgang Justinians und seiner Administration mit diesen Katastrophen untersuchen und ihre Auswirkungen auf die Mentalität der Bevölkerung. Was waren die Strategien und Deutungsmuster der Kontingenzbewältigung?

Die Kumulation, Dichte und Schwere der Katastrophen die insbesondere während der Regierungszeit des Kaisers Justinian über die Bevölkerung des Oströmischen Reiches hereinbrachen" schreibt Meier "sind in der Tat einzigartig und meines Wissens in der europäischen Geschichte lediglich mit gewissen Entwicklungen im 14. Jahrhundert im Gefolge des Schwarzen Todes vergleichbar.

Mischa Meier

Die Reaktionen der Menschen auf die Ereignisse verbinden diffuse Endzeiterwartungen gepaart mit Resignation und Panik. Dies scheint eine Orientierungslosigkeit der Menschen angesichts der über sie hereinbrechenden Ereignisse zu spiegeln.

Offensichtlich ist die Justinianische Pest auch eine Frage der Wahrnehmung der Häufung der Katastrophen. Meier spricht von einem "Wahrnehmungsphänomen". Es könne zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass die Sensibilität für ungewöhnliche Naturereignisse im 6. Jahrhundert merklich zugenommen hat.

Diese erhöhte Sensibilität spiegelt sich unter anderem darin, dass plötzlich nahezu jedes Erdbeben verzeichnet wird und auch Erdbeben erwähnt werden, die überhaupt keinen Schaden verursacht haben. Solche Phänomene kennt man aus unserer gegenwärtigen Diskursverschiebung in Fragen der Umwelt- und Klimageschehnisse.

"Ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden"

Eine zweite Geißel der Menschheit waren die Pocken. Zuerst traten sie ab etwa 1515 im neuentdeckten Amerika auf, rotteten Millionen der Ureinwohner aus, während Europäer immun waren. Dann, gut 200 Jahre später, war der Virus mutiert und wütete nun auch in Westeuropa heftig unter den nunmehr angreifbaren Europäern ab Mitte des 17 Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert war einer von 13 Todesfällen pockenbedingt. Die Seuche verschonte keine Klasse und hatte offenkundig wenig mit mangelnder Hygiene zu tun. Auch Königsfamilien erkrankten: So verlor die österreichische Kaiserin Maria-Theresia zwei ihrer Töchter an die Pocken, eine dritte wurde lebenslang verunstaltet. Goethe schildert in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" seine eigene Erkrankung in Kindertagen:

Das Übel betraf nun auch unser Haus und überfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersät, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden … Endlich … fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht … Ich selbst war zufrieden, nach und nach die fleckige Haut zu verlieren. Aber andere waren unbarmherzig genug, mich öfters an den vorigen Zustand zu erinnern.

Johann Wolfgang Goethe

Noch im 20. Jahrhundert forderte die Seuche weltweit rund 300 Millionen Tote. Bei Pocken oder "Blattern" handelt es sich um eine Virusinfektion, die durch Tröpfchen übertragen wird. Die Sterberate lag bei etwa 30 Prozent.