Zweifel an Täterschaft Amris im Untersuchungsausschuss

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Die Abgeordneten im Bundestag geben sich mit den offiziellen Darlegungen zum Anschlagsgeschehen nicht zufrieden: "Irgendetwas ist nicht schlüssig"

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Die Zweifel, dass Anis Amri der Haupttäter des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz war, wurden jetzt erstmals im Untersuchungsausschuss des Bundestags offen formuliert. Grund: Die Ungereimtheiten und Widersprüche zur offiziellen Tat- und Alleintäter-Version nehmen zu.

Schon in der vorherigen Sitzung am 5. März präsentierte der verantwortliche Tatortermittler einen Spurenbefund, der die Frage aufwirft, ob jener Tunesier tatsächlich am Lenkrad des Sattelschleppers saß, der auf dem Weihnachtsmarkt insgesamt zwölf Menschen tötete und Dutzende verletzte. Der Chef der zuständigen Mordkommission sagte aus, dass die erhobenen Finger- und DNA-Spuren aus dem LKW-Führerhaus zur Auswertung an die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin gegangen waren. Die einzige Rückmeldung von dort sei gewesen, zu dem "Attentäter Amri" gebe es zwei Treffer und zwar außen an der Fahrertüre des LKW. Von Amri-Spuren innerhalb der Kabine ist nicht die Rede. Warum?

Dieses "Ergebnis" muss zu grundlegenden Nachfragen führen. Das umso mehr, als die Bundesregierung in einem Dokument vom Sommer 2019 behauptet, es seien "im und am LKW zuordenbare Fingerabdruck- und DNA-Spuren von Anis Amri und des LKW-Fahrers L.U. (...) gesichert" worden. So steht es in einer Antwort des Bundesinnenministeriums (BMI) vom 27. Juni 2019 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Seite 9).

Die Frage, ob Treffer zu Kontaktpersonen Amris aus der sogenannten 123er-Liste gefunden wurden, verneint das BMI. Namentlich auch zu dem Mittatverdächtigen Bilel Ben Ammar (S. 10). Wie fragwürdig die Antworten des Ministeriums sind, zeigt folgende Stelle: Im und am LKW sei kein Spurenmaterial der Brüder M., die mit Amri in Verbindung standen, gefunden worden, heißt es beispielsweise (S. 9). Eine Antwort später liest man jedoch, dass überhaupt keine Fingerabdruckdaten der M.s zum Vergleich vorlagen.

Auf derselben Seite kann man dann noch lesen, dass "an der Kopfstütze des Fahrersitzes eine Hautschuppe gesichert wurde, die bislang keiner Person zugeordnet werden konnte".

Fingerspuren von Amri und das Video einer Überwachungskamera

Das Bundesinnenministerium ist keine Ermittlungsbehörde. Es teilt in der Antwort an die Abgeordneten nicht mit, woher es die präsentierten Ergebnisse hat. Die wahrscheinliche Quelle ist die oberste Ermittlungsinstanz Bundesanwaltschaft, deren Auskunftsqualität allerdings nicht erst seit dem NSU-Skandal ebenfalls fragwürdig ist.

Am 3. Juli 2017 trat der stellvertretende Generalbundesanwalt Thomas Beck im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin auf. Beck trug den Abgeordneten und der Öffentlichkeit Ermittlungserkenntnisse vor. Unter anderem sagte er, an der "Fahrertür und der B-Säule der Zugmaschine seien Fingerspuren von Amri gesichert" worden (Seite 3).

Später sprach er noch davon, Amri habe "DNA- und Fingerspuren am LKW" hinterlassen (S. 11). Der Abgeordnete Marcel Luthe (FDP) fragte nach, ob es "keine Fingerspuren des Amri in der Fahrerkabine" gegeben habe (S. 18). Lapidare Antwort von Bundesanwalt Beck: "Natürlich sind im Innenraum noch zahlreiche Spuren festgestellt worden." Er nimmt keinerlei Konkretisierung vor.

Die Aussage des Chefs der 7. Mordkommission von Berlin am 5. März 2020 im Bundestag muss die Antworten von BMI und Bundesanwaltschaft (BAW) fraglich erscheinen lassen. Es wäre nicht die erste falsche offizielle Angabe in dem Terrorkomplex. Diese Situation schreit geradezu danach, den Ermittlungsbefund unabhängig überprüfen zu lassen. Daten und Spuren, Fingerabdrücke und DNA aus dem LKW-Führerhaus beispielsweise einem unabhängigen Institut zur Auswertung vorzulegen - inklusive Abgleich mit Kontaktpersonen Amris.

Im NSU-Skandal hat der Untersuchungsausschuss im Landtag von Baden-Württemberg einmal diesen Weg beschritten und eigenständig Ermittlungen in Auftrag gegeben. Ein unabhängiger Gutachter sollte das ausgebrannte Auto, in dem der NSU-Zeuge Florian H. ums Leben kam, untersuchen.

Eine solche Überprüfungsmaßnahme stellt sich im Anschlagsfall Breitscheidplatz umso dringender, als in der letzten Sitzung des Ausschusses weitere Ungereimtheiten und Zweifel an der Haupttäterschaft von Anis Amri aufgekommen sind. Zum Beispiel anhand des Überwachungsvideos der Berliner Verkehrsbetriebe in einer Unterführung beim U-Bahnhof Zoo, auf das Telepolis vor drei Monaten erstmals aufmerksam gemacht hat. Das Video hat festgehalten, dass Amri nicht etwa zur U-Bahn hinunter geht, sondern seltsamerweise den Weg nach oben nimmt, also quasi zurück Richtung Tatort.

Wenige Minuten nach der Tat schlenderte der angebliche Attentäter eher gemütlich durch einen Korridor. Er sieht nicht aus wie jemand, der kurz zuvor am Steuer eines 40-Tonners saß, durch eine Menschenmenge und Verkaufsbuden gefahren war, möglicherweise noch den polnischen Speditionsfahrer erschossen hat, aus einem verwüsteten Cockpit mit zerbrochener Windschutzscheibe kam und vielleicht selber verletzt war.

Zwei Zeugen vom Breitscheidplatz, die unmittelbar danach am Fahrzeug waren und die Fahrertür öffneten, hatten ausgesagt, der Fahrer sei "herausgefallen", ehe er floh. Ein Passant verfolgte ihn, verlor ihn dann aber aus den Augen. Sah Amri im weniger hunderte Meter entfernten U-Bahn-Tunnel aus, als habe er eben einen Verfolger abgeschüttelt?

Der Verfolger beschrieb später an der Kleidung des geflüchteten Fahrers deutliche Unfallspuren, Glas und Blut etwa. Amri in der Unterführung erscheint sauber wie aus dem Ei gepellt. Und dann nimmt er noch einen Gegenstand aus der Anoraktasche, der aussieht wie ein Mobiltelefon, obwohl er doch gar keines mehr gehabt haben dürfte. Seine beiden Handys wurden später im und am LKW gefunden. Das Handy der Marke HTC übrigens nicht im Kühler-Grill vorne am LKW, wie es bei der vorangegangenen Ausschusssitzung hieß, sondern, wie der Abgeordnete Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) nun konkretisierte, "in der aufgeplatzten Stoßstange", also an einem noch merkwürdigeren Ort. Als Amri in Italien erschossen wurde, soll er kein Handy bei sich gehabt haben.

"Irgendetwas ist nicht schlüssig"

Die Abgeordneten führten die etwa 30-sekündige Videoaufnahme aus der Unterführung am Hardenbergplatz öffentlich vor und befragten dazu einen BKA-Beamten, der in der BAO City mit der Auswertung von Videoaufnahmen nach dem Anschlag zu tun gehabt hatte.

Das Video soll erst am 1. Januar 2017 entdeckt worden sein, so der Kriminalhauptkommissar T.V. Sie seien entsetzt gewesen über diesen "federnden Schritt", wie jemand so kaltblütig sein kann, sagte er ganz in der vorgegebenen Täterlogik.

Klaus-Dieter Gröhler, Ausschussvorsitzender (CDU): "Haben Sie das Video mal mit einem Polizeipsychologen angeschaut? Ich habe es ein Dutzend Mal getan. Irgendetwas ist nicht schlüssig. Viereinhalb Minuten nach der Tat läuft er völlig ruhig durch die Kamera. Er soll vorher 12 Menschen ermordet haben, ist nicht abgehetzt, nicht verschwitzt."
BKA-Zeuge T.V.: "Wir haben uns die Frage auch gestellt, können ihn aber nicht mehr fragen. Wer so etwas macht, an den kann man keinen normalen Maßstab anlegen."
Ausschussmitglied Irene Mihalic (Bündnisgrüne): "Hat jemand geprüft, wie es möglich war, dass der Tatverdächtige den LKW verlässt und um 20:06 Uhr hier in der Unterführung erscheint?"
BKA-Zeuge T.V.: "Natürlich. Zwei Berliner Kollegen sind den möglichen Weg abgelaufen und haben dafür zwei bis drei Minuten gebraucht."
Gröhler: "Dann muss man aber gut zwischen dem Verkehr durchrennen."
Ausschussmitglied Konstantin von Notz: "Sind diese Zweifel, diese offensichtliche Unstimmigkeit irgendwo verschriftlicht? Dass er da entlang schlendert, was er aus der Tasche zieht. Gummibärchen sind es nicht, die Erma-Pistole ist es auch nicht. Was soll das anderes sein als ein Handy? Mit wem kommuniziert er? Hat er ein drittes Handy?"
BKA-Zeuge T.V.: "Natürlich haben wir die Frage gestellt, was er aus der Tasche zieht. Ich werde nicht spekulieren. Fakt ist, wir wissen es nicht."

Gröhler zitierte dann einen irritierenden Vermerk der Ermittler: Die Unterführung habe zwei Zugänge und es sei nicht erkennbar, welchen Zugang Amri genommen habe. Tatsächlich ist vor Ort erkennbar, dass Amri den Zugang auf Seite des Bahnhofgebäudes nahm. Das ist entscheidend, weil er dann auf der anderen Seite des Platzes in der Nähe des Eingangs zum Zoo wieder heraus kam. Der Polizei muss das bewusst gewesen sein. Aber gerade diese Gehrichtung wirft zusätzliche Fragen auf.

Gröhler: "Warum geht Amri einen Weg Richtung Tatort?"
BKA-Zeuge T.V.: "Natürlich, das erscheint nicht logisch. Aber wir haben keine Anhaltpunkte, die das erhellt hätten."

Der BKA-Mann machte dann noch eine Bemerkung, als ob gar nicht sämtliches Videomaterial der Berliner Verkehrsbetriebe vorliege. Der BVG sei es gar nicht möglich gewesen, innerhalb der Löschfrist von 48 Stunden alles flächendeckend zu erheben, sagte er. Dagegen hatte eine Sprecherin des Unternehmens gegenüber Telepolis erklärt, die Polizei - also das LKA - habe "sehr schnell nach dem Anschlag sämtliches Videomaterial sichergestellt".

Von der Szenerie, wie der gekaperte Lastwagen durch den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche rast, existiert eine einzige Videoaufnahme. Gedreht wurde sie von einer Hamburger Filmfirma vom Europacenter aus. Das bisher bekannt gewordene Material muss bearbeitet worden sein. Nachdem der LKW zum Stehen kam, sieht man die Fahrertür aufgehen und eine Person aussteigen. Nach ein paar Sekunden bricht die Szene ab, ein schwarzer Balken schiebt sich ins Bild. Die Handlung setzt erst 30 oder 40 Sekunden später wieder ein, als ein Linienbus in einiger Entfernung hinter dem LKW steht. Man kann nicht verfolgen, wohin sich der Fahrer bewegt hat und ob möglicherweise noch eine zweite Person ausgestiegen ist. Wer hatte diese "Bearbeitung" des Videomaterials zu verantworten? Das BKA? Die Frage wurde in der Sitzung nicht aufgeworfen.

Dafür wurde eine weitere Zeugenaussage eines Polizisten bekannt, der kurz nach dem Anschlag in der Fahrerkabine war. Er beschreibt den toten polnischen Speditionsfahrer sitzend und kauernd auf dem Beifahrersitz mit dem Kopf zur Beifahrertüre geneigt. Er habe ihn angesprochen, ohne Reaktion.

Diese Aussage widerspricht jener, der Tote habe in eine Decke eingehüllt im Fußraum gelegen. Möglichweise bezog sich diese Beschreibung auf später, als Lukasz Urban geborgen war und auf dem Boden lag. Der kauernde Tote passt dagegen zu der Wahrnehmung von Zeugen, die im heranrasenden LKW einen zweiten Mann gesehen haben wollen. Ein Zeuge bekräftigt unverändert, der zweite Mann habe von der Beifahrerseite aus dem Fahrer ins Lenkrad gegriffen. Wenn das Urban war, wäre er erst auf dem Breitscheidplatz von dem Attentäter im LKW erschossen worden.

Sollen durch die Konzentration auf die Haupttäterschaft Amris bestimmte Tatbeteiligte geschützt werden?

Anis Amri war erwiesenermaßen während der Tatzeit in Tatortnähe und seine Fingerabdrücke finden sich außen an der Fahrertür des LKW - aber war er auch der Fahrer? Da die Alleintätertheorie längst unglaubwürdig ist, wäre es nicht einmal etwas Besonderes, wenn auch Amris Haupttäterschaft in Zweifel stünde. Im Raum steht allerdings die Frage, warum sich die Ermittlungsbehörden einseitig auf den Tunesier als Täter festgelegt haben. Sollen bestimmte Tatbeteiligte geschützt werden?

Jedenfalls hatte und hat diese Festlegung Auswirkungen auf Fahndung und Ermittlung. Sie werden ausschließlich an der Person Anis Amri gemessen. Auch die Videoauswertung erhielt gezielte Aufträge, so der BKA-Kriminalhauptkommissar T.V., nach Bezügen zu Amri zu suchen. In einem Fall gab es einen Hinweis, dass auf Bildmaterial eine Person aus den Maghrebstaaten zu sehen sei. Dazu zählt Tunesien. Doch BKA-Ermittler T.V. entschied, dem nicht nachzugehen. Warum, wollten die Abgeordneten wissen? Antwort: Es sei kein Zusammenhang zu Amri erkannt worden.

Eine selektive Ausrichtung, die aus NSU-Ermittlungen bekannt ist. Vor der Aufdeckung des NSU-Trios wurde nicht in alle Richtungen ermittelt und nach seiner Aufdeckung im November 2011 nur noch in Richtung der mutmaßlichen Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Eine tendenziöse und letztlich erfolglose Ermittlungspraxis. Methodisch lässt sich hier beobachten, wie leicht ein ganzer hierarchischer Apparat manipuliert werden kann. Eine zentrale Stelle muss lediglich den Namen "Anis Amri" vorgeben, und alle folgenden Stellen suchen nur noch in dieser Richtung.

Diese Polung hat aber auch Auswirkungen auf Politik und Medien. Die Presse folgt zum Großteil dieser Täterfestlegung und ihrer daraus entstehenden Logik: Wer in der Geschichte zählt, ist nur noch Anis Amri. Und auch die Aufklärungsagenda der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse entspricht der Vorgabe. Wie fatal das ist, zeigt sich jetzt bei der Behandlung des Anschlagsgeschehens. Hätte man es an den Anfang der Aufklärungsarbeit gestellt, wie es die kleinen Fraktionen FDP, Linke und Grüne, aber auch die Angehörigen der Getöteten und die Opfer immer gefordert haben, hätten sich zum Teil andere Fragen gestellt und Untersuchungsschritte ergeben.

Ungeklärt ist beispielsweise die Anwesenheit von - möglicherweise - zwei LKA-Beamten zu einem frühen Zeitpunkt am Anschlagsort. Das hatte jener Streifenpolizist bezeugt, der als erster am LKW war. Jörg E., der Schichtleiter des Kriminaldauerdienstes, der mit seinem Team etwa 20 Minuten nach der Tat am Breitscheidplatz war und die ersten Ermittlungen vornahm, erklärte jetzt im Untersuchungsausschuss, von LKA-Beamten zu dieser Zeit wisse er nichts, er habe keine festgestellt. Das Landeskriminalamt Berlin übernahm erst nach drei Stunden, nach 23 Uhr, offiziell die Verantwortung für die Tatortarbeit.

Vor der öffentlichen Sitzung hatte der Bundestagsausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit Emrah C. vernommen, eine der Kontaktpersonen Amris. C. habe abgestritten, Amri sowie Ben Ammar zu kennen, konnte man hinterher von Abgeordneten erfahren. Emrah C. galt als Aktivist in der Fussilet-Moschee, in der auch Amri und Ben Ammar verkehrten. Er gehörte zu Führung des Moscheevereins und war dort zugleich Ansprechpartner für die Polizei. Vor einem Jahr wurde C. vom Staatsschutzsenat des Kammergerichts Berlin zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er zusammen mit den ebenfalls Verurteilten Soufiane A. und Resul K. die terroristische Vereinigung IS unterstützt habe.

Anfang Dezember 2016 seien sie mit weiteren Personen aus der Fussilet-Moschee auf dem Weg ins Kriegsgebiet gewesen. Sie wurden gestoppt und kehrten nach Berlin zurück. Nach dem Anschlag wurde Anklage erhoben und der Prozess durchgeführt. Obwohl der 35-Jährige Emrah C. als Kind nach Deutschland gekommen war und die meiste Zeit seines Lebens hier verbrachte, soll er demnächst in die Türkei abgeschoben werden.

Corona verändert auch die Arbeit der Untersuchungsausschüsse

Dem Corona-Regime musste sich ein weiterer BKA-Zeuge beugen, der in Italien als Verbindungsbeamter fungiert und der über die Todesumstände Amris in Sesto San Giovanni bei Mailand berichten sollte. Er durfte nicht ausreisen.

Die Corona-Regeln bestimmen inzwischen aber auch die parlamentarische Arbeit im Abgeordnetenhaus von Berlin. Verfügt wurde, dass Untersuchungsausschüsse nicht länger als sechs Stunden tagen dürfen. Um das einzuhalten, sollten die Abgeordneten darauf verzichten, alle Fragen zu stellen, die sie haben. Nicht jeder wollte das einsehen. Ausschussmitglied Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) kritisierte offen diese Beschneidung seines Fragerechts.

Der Berliner Polizeipräsident hatte etwa einen Monat nach dem Anschlag das Handeln der Polizei vom Anschlagszeitpunkt bis zum Tod Amris am 23. Dezember 2016, 3:00 Uhr, polizeiintern untersuchen lassen. Dafür wurde eine sogenannte Nachbereitungskommission (kurz: Nakom) unter der Leitung des inzwischen pensionierten Polizeidirektors Michael Krömer eingerichtet. Krömer nahm jetzt im Ausschuss des Abgeordnetenhauses zu den Ergebnissen, die in einem über 100-seitigen Bericht niedergelegt sind, öffentlich Stellung.

Allerdings ein Dokument von äußerst begrenztem Wert, wie die Befragung des Verantwortlichen ergab. Die Einsatzdokumentation habe "viele viele Schwachstellen", so Krömer selber, in der Anfangsphase sei kaum etwas schriftlich festgehalten worden. Deshalb habe sich die Kommission "nicht so richtig ein Bild machen" können. Beispielsweise liegen auch über den Funkverkehr ganz wenige Informationen vor. Vieles aus der ersten Phase sei nicht bekannt geworden. Woher die Nachricht über eine Schussabgabe kam, ist ungeklärt. Eine Übersicht über alle eingesetzten Kräfte, wie stark die Polizei zu welchem Zeitpunkt war, fehlt. Die kürzlich bekanntgewordene frühzeitige Anwesenheit von möglicherweise zwei LKA-Beamten am Anschlagsort taucht im Nachbereitungsbericht nicht auf.

Fragwürdig auch der Umgang mit dem zunächst festgenommene Pakistaner Navid B. gegen 20:30 Uhr am 19. Dezember. Der Schichtleiter des Kriminaldauerdienstes hatte am Tag zuvor im Untersuchungsausschuss des Bundestages erklärt, seine Leute, die den Festgenommenen im Abschnitt 25 vernahmen, hätten sehr schnell, zwischen 21 und 22 Uhr, gemeldet, nicht der richtige sei festgenommen worden. Die Beschreibung des Augenzeugen habe nicht mehr gepasst, er sei nicht der Attentäter, alles hätte nicht zusammengepasst. Obwohl klar war, dass der Festgenommene nicht der Täter ist, verblieb er allerdings weiterhin in Gewahrsam. Und zwar erstaunliche 24 Stunden lang. Laut Nakom-Bericht soll der Unschuldige erst einen Tag später, am 20. Dezember um 20:20 Uhr entlassen worden sein. Warum, darauf gibt der Bericht keine Antwort.

Seltsam dann, dass die Fahndung nach Amri anlief, nachdem am 20. Dezember nachmittags sein Duldungspapier im LKW gefunden worden war, der Flüchtige aber schon um 7 Uhr morgens dieses Tages in Polas (Polizeiauskunftssystem) zur Festnahme ausgeschrieben worden war. Auch dieser Sachverhalt taucht im Nakom-Bericht nicht auf.

Um 21 Uhr am Anschlagsabend erging vom Staatsschutz an die Führung der V-Personen der Auftrag, die Polizeiquellen nach Erkenntnissen abzuschöpfen. Ausschussmitglieder der Linken haben in den Unterlagen nichts darüber gefunden, wie diese Maßnahme in die Ermittlungs- und Fahndungsarbeit eingegangen wäre. Dazu sei ihm auch nichts bekannt, sagte der Polizeidirektor a.D. Krömer. Und wörtlich: "Gewundert hat's mich auch." Er habe auch im Nachhinein nichts dazu erfahren. Er habe keinen Auftrag gehabt, das in die Arbeit der Kommission einzuführen. Er berichtete von Flurgesprächen, in denen es hieß: Was hat sich der Staatsschutz da gedacht?

Der Nachbereitungsbericht der Berliner Polizei: Ein Dokument, das die Ungereimtheiten im Terrorfall Breitscheidplatz innerhalb der Polizei fortschreibt.