"Haben Sie schon mal probiert, ein Minicroissant mit Vinylhandschuhen zu essen?"

An der französisch-deutschen Grenze. Bild: O. Arndt

Auf dem Rückweg nach Deutschland gestrandet - Ein Erlebnisbericht in Zeiten des Seuchen-Notfalls - Teil 2

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Erstes Tageslicht nach unruhiger Nacht, 17. März 2020, 5.30 Uhr morgens. Auf dem Weg zum Parkplatz stelle ich als erstes fest, dass die LKW-Schlange vor dem Kontrollpunkt auf der Rhein-Brücke am Laufwasserkraftwerk Ottmarsheim unverändert ist. Weder länger noch kürzer. Gewissermaßen "totaler" Stillstand. Wenig ermutigende Aussichten (Coronavirus-Maßnahme: "Bis Basel ist alles dicht, bis Karlsruhe ist alles dicht"). Da ohnehin alle großen Speditionen Europas Hunderte von gleich beschrifteten Fahrzeugen auf der Bahn haben, lässt sich nicht feststellen, ob es dieselben Lastwagen sind, die dort schon gestern Nacht standen, als wir mit dem ADAC-Pickup aus dem Nachbarort Chalampé zum Hotel neben dem Grenzübergang gebracht wurden.

Ich packe Bücher und Wäsche in eine Handtasche in der Erwartung, dass unser Wagen nicht mehr fahrtüchtig ist und wir 14 Tage Quarantäne in einem improvisierten Zeltlager am Rheinufer vor uns haben, weil wir bei der Prüfung mit dem Thermometer genauso überhitzt wirken mögen, wie der Motor des Mercedes.

Was wählt man aus, wenn man kaserniert wird? Meine Freundin entscheidet sich für den dickleibigen Sapkowski "Lux perpetua". Ich für Manès Sperber, "Wie eine Träne im Ozean". Auch nicht gerade viel dünner. Sollte zwei Wochen halten.

Beim Zurücklaufen zum Hotel sehe ich im ersten Morgenlicht, dass ich gestern Fake News verbreitet habe, wie schon einige Forumsmitglieder in ihren kritischen Kommentaren zu Teil 1 meines Coronatagebuchs angemerkt hatten: Die Fachwerkbalken des Hotels sind nicht aufgemalt. Es ist Holz. Es wirkt in dieser Architektur allerdings so authentisch wie echt fotografierte Holztapete.

Die Schiebetür des Hotels geht auf, bevor ich meinen Werbekugelschreiber aus der Tasche ziehen kann, um den Code zu drücken. Die aseptischen Rollläden der Rezeption sind hoch. Eine junge Frau mit Atemschutzmaske bereitet Tabletts mit Frühstück vor. Es ist verboten, die Kaffeemaschine eigenhändig zu bedienen. Haben Sie schon mal probiert, ein Minicroissant mit Vinylhandschuhen aus dem Tridome-Baumarkt zu essen oder den Zucker richtig zu dosieren, wenn man den Löffel kaum in der Hand spürt? Gespenstisch. Die wenigen Gäste, die so früh schon wach sind, wählen freiwillig zwei Tische Abstand voneinander.

Die nette Rezeptionistin sagt, sie habe gehört, der kleine Grenzverkehr sei offen. Nur die LKWs würden geprüft. Aber der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen: "Wir-sind-im-Krieg"-Macron hat die Ausgangssperre ausgerufen - für heute Mittag. Krieg - das ist die höchste Form des Ausnahmezustands. Sie rechtfertigt jedes Mittel, jeden Eingriff in die Rechte. Hat nicht der "Krieg gegen den Terror" den Einsatz von Drohnen als gezielte Ferntötungsmaschinen akzeptabel werden lassen? Wer "Krieg" sagt, rechnet mit hoher Akzeptanz - für welche drastischen Beschränkungen oder Veränderungen auch immer. Hauptsache der unbekannte Gegner wird besiegt.

Wenn das Virus überall lauert, auch auf Unbelebtem, werden wir dann nicht ganz schnell Bargeld abschaffen müssen, das durch zu viele schmutzige Hände geht? Werden wir nicht wieder innere Grenzen brauchen, quasi eine Anti-Viren-Kleinstaaterei? Wird sich nicht das "Migrationsproblem" endgültig lösen: Wer will denn schon "Viren-Bomben" ins Land holen? Müssen wir nicht vielleicht angesichts der Pandemie den Ausnahmezustand auf Dauer stellen und die Bundeswehr den Alltag regeln lassen?

Wir jedenfalls haben jetzt akut nur ein Problem - wir müssen es vorher schaffen, bevor der Krieg gegen die Viren ausbricht. Zur Not zu Fuß. Sollen sie doch zusehen, was sie mit unserem kaputten Auto anfangen.

Wir kontrollieren also flink den Kühlwasserstand. Der Wagen startet zum Glück ohne Murren und zwei Minuten später fahren wir mit erstaunlichen 25 km/h an den endlosen Kolonnen vorbei über den Rhein. Doch die Freude währt nur wenige Sekunden. LKWs stehen quer über die Spuren. Gendarmerie-Einsatz. Angst macht sich breit.

Im Stop & Go schnellt die Temperatur des Motors hoch. Wir reißen die Heizung voll auf, damit der Kühler nicht überkocht und wir nicht an diesem "non-lieu", diesem Unort zwischen den Staaten, liegen bleiben. In der Heizungsluft trocknen die Schleimhäute in Windeseile aus. Wir sitzen verspannt und mit hochroten Köpfen in der Hitze und versuchen verzweifelt, nicht zu popeln. Jetzt haben sie uns. Bestimmt keine normale Temperatur. Der eigene Körper ist einem in wenigen Tagen ganz fremd, geradezu gefährlich geworden.

Das Thermometer ist nun das Werkzeug der Willkürherrschaft, der wir unterworfen sind. Stimmt die Temperatur nicht, wirst du selektiert. Das Thermometer entscheidet über die Freiheit deiner Bewegung.

Die Gendarmen sind stecken geblieben und laufen zu Fuß weiter, die Fernfahrer auf die Seite scheuchend, damit sie eine Gasse bilden. Was passiert, wenn sie uns nach Frankreich zurück schicken? Dürfen sie das? Werden wir dann wie die Protagonisten von Erich-Maria Remarque ewig im Niemandsland zwischen den Grenzen ausharren müssen? Mit Unvorhersagbarkeit staatlichen Handelns regiert sich am leichtesten.

Was dann passiert, ist genau so unglaublich, aber doch ganz anders, als es unsere aus der Angst vor Gefangensetzung überhitzte Phantasie entworfen hatte. Am Kontrollpunkt steht das gefürchtete Zelt mit einem Aufdruck des Technischen Hilfswerks Müllheim. Es ist rundum offen. Es ist niemand darin. Es wirkt dadurch wie ein vergessener Unterstand nach dem Ende einer Gartenparty. Kein Arzt weit und breit, kein behandschuhter Polizist mit dem Fiebermessgerät. Nur etwa 10 Bundespolizisten ohne Mundschutz, ohne Handschuhe, mit entspannt freundlichen Gesichtern. Als wir mit bockendem Motor auf sie zu rollen, gucken die links stehenden Beamten freundlich durch das herunter gekurbelte Fenster und winken uns wortlos durch.

Das war's? Wir sind fassungslos. Aber auf der badischen Seite. Meine Freundin stößt einen befreienden Schrei aus, so als hätten wir einen Sieg errungen. Vor lauter Freude kocht der Kühler endlich über, doch wir riskieren, noch außer Sichtweite zu fahren.

Die Krankheit hat eine Botschaft

Nach einer Stunde Pause fahren wir mit frischem Kühlwasser weiter Richtung Krisenherd Freiburg, vorbei an Spargelfeldern unter Folie. Kein Arbeiter weit und breit.

Das ist die gespenstisch leere Landschaft aus der Schlusssequenz der "Hamburger Krankheit", am Ende der Odyssee der Protagonisten durch eine Bundesrepublik, die in Seuchen-Zonen aufgeteilt ist. Peter Fleischmann hat mit seinem kleinen Meisterwerk 1979 eine so verblüffend exakte Beschreibung dessen geliefert, was täglich dieser Tage in den Medien zu sehen ist, dass wir den Film vor der Abreise noch einmal angeschaut haben wie ein Trainingsprogramm für das, was uns erwartet.

Das war vielleicht keine gute Idee, denn wirklich beruhigend ist das nicht. Was passiert? Ein unfassbar guter Ulrich Wildgruber mit zu kurzem Pulli, ein wahnwitzig schimpfender Fernando Arrabal im Rollstuhl und eine unbekannte Schöne (Carline Seiser) flüchten als ungleiches Trio aus dem abgeriegelten Hamburg. Sie treffen auf den kurzhaarigen (sic!) Rainer Langhans, der einen Wohnwagen nach Süddeutschland überführt und sie mitnimmt. Städte meiden sie möglichst, fahren quer zu den Verkehrsachsen, die kontrolliert werden. In allen Dörfern Leichenberge.

Das Sicherheitspersonal der allpräsenten Staatsmacht in grotesk improvisierten Schutzanzügen, lächerlichen Ponchos aus Transparentfolie. Keiner weiß, gegen was genau er sich schützen muss. Nur das Trio steckt sich nicht an, keiner weiß warum. In Freiburg geraten sie auf eine Endzeitparty mit Romy Haag. Freunde der Ansteckung und des Untergangs haben sich versammelt und lassen allen Anstand fahren. Der Tod ist laut und als Kostüm präsent. Später, als sie wieder zur Musik von Jean-Michel Jarre durch die stille Landschaft gleiten, spricht Langhans die entscheidenden Sätze: Die Krankheit hat eine Botschaft. Sie will zu uns sprechen. Hört zu! Was hat sie uns zu sagen?

Dieser Gedanke geht uns durch den Kopf, während wir in der Gegenrichtung, gen Norden im Kriechtempo, mit starren Blick auf den Temperaturanzeiger, durch die leeren Spargelfelder gleiten, deren verwaist daliegende Folienhüllen wie die absurden Ganzkörper-Kokone wirken, in denen uns die Kranken des Jahres 2020 vorgeführt werden.

Das Virus ist unsichtbar. Es erscheint in seiner ganzen Gefährlichkeit erst im medialen Bild der Einhüllung des befallenen Körpers.

Die Coronisten und die Skeptiker

Wir haben es geschafft. An jeder Raststätte, wo wir Wasser nachgefüllt haben, interessante Gespräche. Wir haben die Deutschen noch nie so kontaktfreudig erlebt wie seit der offiziell verordneten Kontaktsperre. Im Notstand - das weiß seit drei Tagen jeder - musst du dir selbst helfen - und gegenseitig Hilfe anbieten. So viel Solidarität überrascht. Und sie nimmt Angst.

Zugleich nimmt die Skepsis zu. Man muss das Thema gar nicht selbst anschneiden. Wo die neokonservative Presse von "gefährlichem Wohlstandstrotz" spricht, erleben wir auf der Autobahn, an jeder Tankstelle kritischen Verstand, der sich nicht alles vorsetzen lässt. Das Wort vom "gesunden Zweifel" macht die Runde.

Aufgrund des ersten Teils unseres Tagebuches gehen über den gesamten Tag Emails und Anrufe ein.

Wenn das Grauen eine bestimmte Dimension erreicht hat, spaltet es die Gesellschaft offenbar in zwei Hälften: Jene, die glauben wollen, dass wir jetzt alle sterben müssen und, um das zu verhindern, jedes Mittel angemessen wäre - nennen wir diese Gruppe die Coronisten -, und jene, deren Zweifel von staatlicher Maßnahme zu Maßnahme stärker werden - nennen wir sie die Skeptiker. Von beiden Gruppen gibt es Exemplare in unserem Bekanntenkreis.

Die Coronisten wollen den Skeptikern die Zweifel verbieten. Dazu wird als chemische Keule die Beschuldigung der "gefährlichen Verharmlosung" eingesetzt. Die Skeptiker sollen den Mund halten. Die Skeptiker würden schon sehen, dass es "um eine Jahrhundert-Pandemie geht, die besonders sozialschwache, kranke und alte Menschen in gigantischer Zahl töten wird. Dazu muss man kein Wissenschaftler sein. Jetzt ist nicht der Moment, irgendwelche kruden Impfgegner und Verschwörungstheoretiker herauszukramen, die in Sachen Ignoranz noch Donald Trump in den Schatten stellen. Wenn auch nur irgendwer aufgrund solch angeblicher Informationen sein Verhalten ändert, ist das gemeingefährlich. Jetzt ist der Moment, sein eigenes Verhalten selbst krass zu ändern."

Die Skeptiker hinterfragen Zahlen und Fakten, wollen nicht bedingungslos glauben, haben Verdachtsmomente, dass wir einer "Propaganda-Lüge" aufsitzen und "bestreiten mit Nichtwissen", wie es die Juristen so treffend ausdrücken. Bis es nicht bewiesen ist, glauben sie nichts. Sie sagen: Schafft uns Belege her, die der Überprüfung standhalten. Die Skeptiker sehen "nicht durchdachten Aktionismus. Allerorten. Hier treffen sich jetzt ALLE bei Edeka, der gestern halb leer gehamstert war." Die Skeptiker führen an: Die Briten hätten sich für Ansteckung entschieden, weil "Herdenimmunität" allen helfen würde.

Ich will die Coronisten und Skeptiker nicht bewerten. Ich will keiner Gruppe den Vorzug geben. Aber weniger Panik und eine andere Form von Wachsamkeit täte not. Eine Wachsamkeit, die verhindert, dass unter dem Eindruck der Krise in Windeseile Veränderungen unseres Alltags durchgesetzt werden, die unumkehrbar sind - und die nichts mit Gesundheit zu tun haben.

Insofern ist die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erste Bürgerpflicht. Das Netz bietet dazu ausreichend kontaktfreie Gelegenheit - für die kritischen vierzehn Tage, die vor uns liegen. Weil wir alle diese Risikogebiete durchreist haben, wenn auch bewaffnet mit Unmengen von Einmalhandschuhen, Desinfektionstüchern und Wasser & Seife, werden auch wir erst einmal zwei Wochen zu Hause bleiben und abwarten, was sich zeigt. Genug zu essen hatten wir zum Glück noch in Frankreich gehamstert.