Die Offenbarung der vierten Gewalt - Medien im Ausnahmezustand

Bild: Colling-architektur/CC BY-SA-3.0

Ein Offener Brief an den Deutschlandfunk

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Es beschleicht einen das unheimliche Gefühl, dass eines Tages, "wenn die Pandemie vorbei ist", die Politiker*innen wehmütig zurückblicken und feststellen werden: Nie war es so einfach zu regieren, wie im Ausnahmezustand. Noch vor wenigen Wochen - Tagen eigentlich - waren die ehemaligen Volksparteien von inneren Konflikten geplagt, in der großen Koalition hat es beständig geknirscht, Gesetzesvorhaben waren Gegenstand langer und zäher Aushandlungsprozesse und ihre Ergebnisse wurden bisweilen von Gerichten kassiert. Nun aber herrscht große Einigkeit innerhalb und zwischen den Parteien und selbst drastische Maßnahmen werden fraktionsübergreifend mit Applaus bedacht. Natürlich gibt es vereinzelte Ausnahmen, welche die Regeln bestätigen, in den Medien aber wenig Beachtung finden.

Diese Maßnahmen werden oft per Dekret erlassen oder tragen zumindest einen solchen Charakter. Von Parlamenten oder Rechtsgrundlagen ist erstaunlich wenig die Rede dieser Tage. Das ist in Anbetracht der Schwere - ja Einzigartigkeit - der getroffenen Maßnahmen wirklich bemerkenswert und desaströs. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beweisen sich immer erst dann, wenn sie unter Druck geraten. Wenn sich in Ausnahmesituationen niemand mehr auf sie beruft oder berufen kann, handelt es sich um Potemkinsche Dörfer.

Dabei soll nicht suggeriert werden, dass dieser Ausnahmezustand nicht in Form der Geheimdienste bereits in den Normalbetrieb eingesickert wäre und eine rechtsstaatliche Aufklärung u.a. rechtsterroristischer Attentate bereits damals zu verhindern wusste. Aber hier muss den Medien zugute gehalten werden, dass sie ihre Finger in diese Wunde legten. Wahrscheinlich haben sie dadurch auch dazu beigetragen, dass sich keine große "alternative Erzählung" zur Verwicklung staatlicher Stellen in die Morde des NSU als "Verschwörungstheorie" etabliert hat.

Im Kontext der aktuellen SARS-Pandemie jedoch scheinen die Medien jedes Interesse an Kontroverse verloren zu haben. So wie sie noch vor wenigen Tagen kritiklos die Beschwichtigungen des Bundesgesundheitsministers und die zurückhaltenden Einschätzungen des Robert-Koch-Institutes wiedergegeben haben, so unwidersprochen verbreiten sie jetzt die alarmierenden Stellungnahmen derselben Akteure. Haben sie vor wenigen Wochen noch im Einklang mit den politischen Entscheidungsträger*innen hierzulande die "drastischen" Maßnahmen des chinesischen "Regimes" kritisiert, berichten sie nun kritiklos über die Grenzschließungen in Europa und jeden Schritt, der uns weiter in Richtung Ausnahmezustand befördert.

Die täglichen, ausführlichen Nachrichtensendungen des Deutschlandfunks zum Beispiel, die "Informationen am Morgen" und die "Informationen am Abend" sind in Sachen SARS-Cov-2 zu reinem Verlautbarungsjournalismus degeneriert, der ohne Widersprüche die drastischsten Einschätzungen und Maßnahmen quer über den Kontinent und durch die Republik wiedergibt. Das erzeugt eine Sogwirkung. Wer in den Nachrichten auftauchen will, schließt sich diesen Einschätzungen an und setzt bezüglich der Maßnahmen noch einen drauf. Wer eine abweichende Meinung vertritt oder die rechtlichen bzw. parlamentarischen Grundlagen der Maßnahmen ernsthaft in Zweifel zieht, taucht in der veröffentlichten Meinung hingegen kaum auf.

Darin besteht eine ernsthafte Gefahr angesichts der Tatsache, dass sich die Meinungsbildung und das öffentliche Leben in den nächsten Tagen und Wochen noch deutlich mehr in die Sphäre des Rundfunks und der neuen Medien verlagern wird. Je weniger die etablierten Medien angesichts der drastischen Maßnahmen Kritik üben, Kontroversen abbilden und Fragen nach demokratischen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen stellen, wird sich diese Diskussion vorwiegend in jene "Filterblasen" verlagern, wo umso absurdere und v.a. mit konkreten Interessen verbundene "alternativen Fakten" von Akteuren in die Welt gesetzt werden, die sich hierfür nicht und niemals werden verantworten müssen.

Dass gerade in dieser Situation von der Politik das Problem der "Fake News" - auf äußerst dünner Faktenlage - wiederum primär auf staatliches russisches Handeln zurückgeführt und damit von jener Gemeinschaft externalisiert wird, die sich nun wieder primär (wie die Grenzschließungen und die täglichen Meldungen nationaler Infektionszahlen versinnbildlichen) als nationale oder gar Volksgemeinschaft solidarisch zeigen soll, ist immerhin in einigen journalistischen Zusammenhängen auf Widerspruch gestoßen. Gerade in Zeiten eines aufdämmernden Ausnahmezustandes muss jedem Versuch, der Verbreitung "alternativer Fakten" mit Verweis auf die "hybride Kriegführung" eines angeblichen "Feindstaates" mit Mitteln der Zensur zu begegnen, entschieden zurückgewiesen werden.

Stattdessen sollte anerkannt werden, dass v.a. die Offenheit für "Fake News" und "alternative Fakten" v.a. auch daher rührt, dass notwendige gesellschaftliche Kontroversen in den "etablierten" Medien nicht hinreichend abgebildet werden. Sicherlich nutzen dies allerlei Akteure und darunter auch Regierungen, die sich in einer geopolitischen Konkurrenz mit Deutschland und der NATO sehen, v.a. aber ziehen daraus auch jene Akteure ihren Nutzen, die das parlamentarische System von Innen heraus schwächen wollen, namentlich die AfD und die mit ihr verbündeten extremen Rechten.

Bei den gegenwärtig weniger diskutierten als deklarierten bzw. durchgesetzten Maßnahmen handelt es sich zusammenfassend um eine Abwägung zwischen den Freiheiten auf der einen Seite, die wir mit dem System der parlamentarischen Demokratie und dem Rechtsstaatsprinzip verbinden, und der Gesundheit auf der anderen Seite, die nicht als individuelle Gesundheit, sondern in rasanter Selbstverständlichkeit als "nationale" Gesundheit gedacht wird - man denke nur an die zeitgleiche völlige Auslieferung der Geflüchteten in den Lagern an den EU-Außengrenzen.

Von einer tatsächlichen Abwägung ist jedoch wenig zu hören. Es gilt als selbstverständlich, dass die Freiheit nun der Gesundheit geopfert werden muss. Dieser Diskurs ist zumindest potentiell katastrophal - im eigentlichen Sinne. Denn die Gesundheit ist durch einen unsichtbaren Feind bedroht und die Wirksamkeit von Maßnahmen lässt sich nur verzögert und anhand indirekter Indikatoren ermitteln. Der unsichtbare Feind erzeugt sowohl bei den Einzelnen wie - verständlicherweise - auch in den Medien Unsicherheiten. Er schafft damit ein gewisses Bedürfnis nach Menschen, die mit nachdrücklicher Autorität die Lage beschreiben und sagen, was zu tun ist.

Sowohl in der Wissenschaftsgeschichte, als auch in der Epidemologie werden sich wenige seriöse Wissenschaftler*innen finden, die behaupten, dass bei Epidemien der eigentliche - meist unscharf - naturwissenschaftlich definierte Erreger von Diskursen und Praktiken zu trennen wäre. In ihren "Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920" beschreiben (Wissenschafts-)Historiker*innen, wie der "unsichtbare Feind" in Form von Erregern auf der anderen Seite Vorstellungen eines "Volkskörpers" hervorgebracht, autoritären Vorstellungen und Praktiken den Weg geebnet hat, die letztlich im Ersten Weltkrieg gemündet haben. Die fortgesetzte, seltsame Gleichzeitigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis über Mikrobiologie einerseits und autoritär-nationalistisch aufgeheizten Diskursen andererseits scheint sich aktuell zu bestätigen.

Gerade in einer Zeit, wo das öffentliche Leben - vermutlich durchaus mit guten Gründen - drastisch eingeschränkt wird und die Menschen im Kontext allgemeiner Verunsicherung zur Meinungsbildung verstärkt auf Medien angewiesen sind, stehen diese in der Verantwortung, kontrovers zu berichten und das Handeln der Politik - wirklich - kritisch zu reflektieren. Sie sollten das nicht interessierten Dritten überlassen und sich klar sein, dass Krisen immer auch Phasen der Transformation sind. Ob am Ende dieser Transformation noch die Idee von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie steht, von einem Europa ohne Grenzen (und Außengrenzen), liegt nun in ihrer Hand. Und darin liegt auch die Offenbarung, ob sie ihrem Ruf als Vierte Gewalt gerecht werden.

Christoph Marischka ist Konfliktforscher, Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung, Autor der Buches "Cyber Valley - Unfall des Wissens", in dem er sich kritisch mit den Produktionsbedingungen und Folgen der Digitalisierung beschäftigt.