Corona-Krise in Frankreich: Festnahmen von "Rebellen"

Paris. Bild: Paul Guillotel/Unsplash

Gebissene Polizisten und Frust wegen Freiheitseinschränkungen: Nur bedingtes Vertrauen in Macron

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Person soll einen Polizisten gebissen haben. Am Donnerstagnachmittag wurde im Departement Seine-Saint-Denis eine Person von der Polizei festgenommen, weil sie gegen die Ausgangsbeschränkung verstoßen hat, die Macron am Montagabend in einer TV-Ansprache verkündet hatte.

"Gefährdung des Lebens anderer" und "Rebellion"

"Gefährdung des Lebens anderer" und die "Beleidigung eines Polizeibeamten" lauten die Anklagepunkte, dazu kommt möglicherweise "Körperverletzung". Die fragliche Person, von der weiter nichts mitgeteilt wird, wird im Bericht von France Inter als Teil einer Gruppe geschildert, die sich nicht nur wegen der Nichteinhaltung der Regeln der Quarantäne verantworten muss, sondern zum Teil auch wegen "Rebellion".

Sie wurden zeitweise in Polizeigewahrsam genommen, nachdem sie sich vorhergehenden Verwarnungen seitens der Polizei widersetzt haben, anscheinend auch tätlich. Die Person, die den Polizisten gebissen haben soll, wurde umgehend vor den Untersuchungsrichter gestellt.

Das geht schnell in Frankreich, wie das auch deutsche Eltern im August letzten Jahres bei der Verhaftung ihres Nachwuchses im Kontext des G7-Gipfels erfahren haben (Freilassung der drei in Frankreich inhaftierten Nürnberger gefordert). Die Polizei und die Justiz legen Wert darauf, sich als durchsetzungsstark und effizient darzustellen.

Der "kurze Prozess" kann, wie das Verhalten der Polizei und auch Richtern gegenüber Teilnehmern von Gelbwesten-Protesten im gesamten letzten Jahr wie auch jüngst demonstriert hat, "mächtig, massiv und brutal" ausfallen.

Mit diesen drei Adjektiven, bei denen man im Geiste pro Wort einen Schlag auf den Tisch mithört, beschrieb der französische Premierminister Edouard Philippe (im Nebenberuf Schriftsteller) gestern die "Vollbremsung der Wirtschaft durch die Corona-Pandemie.

Kritik an den Ausnahmemaßnahmen

Die beiden Härten sind miteinander verbunden. Präsident Macron wie auch Minister äußerten sich erbost, darüber dass die Ausgangsbeschränkungen, die de facto einer Ausgangssperre sehr nahekommen, nicht respektiert werden. "Imbéciles", nannte Innenminister Castaner, unbedingter Vertreter einer harten Polizeilinie, diejenigen, die gegen das Reglement verstoßen und sich für "moderne Helden" halten.

Anderseits wird der Regierung der Vorwurf gemacht, bei den Ausnahmebestimmungen erneut die Elite zu bevorzugen. Die soziale Ungerechtigkeit, Grundantrieb der Proteste der Gelbwesten und der Gewerkschaften, prägt auch die Kritik und die Opposition gegen den verhängten Ausnahmezustand in Frankreich infolge der Corona-Epidemie.

Deutlich wird das am Widerstand der linken Opposition gegen ein medizinisch begründetes Notstandgesetz, das am Freitag vom Parlament (Assemblée nationale) angenommen wurde. Zuvor war es bereits durch den Senat gegangen.

Die Opposition war gegen die Befugnisse, die den Arbeitgebern damit eingeräumt werden. Deren Rechte, über die Zeiteinteilung der Angestellten und Arbeiter zu bestimmen (Urlaub, Überstunden, Kurzarbeit), werden ausgedehnt.

Skepsis gegenüber einer politischen Instrumentalisierung

Das mag manchem angesichts der derzeitigen Situation als wenig nachvollziehbar erscheinen. In Frankreich hat man jedoch schon Erfahrungen mit einem langanhaltenden und immer wieder verlängerten Ausnahmezustand gemacht, dessen Gründe - die Terrorgefahr - plausibel oder überzeugend waren, der aber "Kollateralerscheinungen" mit sich brachte, die alle Züge einer "politischen Instrumentalisierung" hatten, wie etwa das Vorgehen gegen Demonstrationen.

Dass es sich um Demonstrationen gegen die Reform des Arbeitsrechts handelte, für die der damalige Wirtschaftsminister Macron verantwortlich war (Der Ausnahmezustand als Mittel gegen unerwünschte Demonstrationen), bestätigt die Skepsis gegenüber einer politischen möglichen Instrumentalisierung.

Den politischen Vertretern der Arbeitnehmer geht es darum, Rechte, für die man jahrelang gestritten hat, nicht einfach aufzugeben. Man will ein Signal setzen. Wie es ankommt, ist die andere Frage. Das Misstrauen gegenüber der Regierung zeigte sich in den letzten Tagen auch in Verweisen darauf, dass Obdachlose einen Bußgeldbescheid wegen Missachtung der Ausgangsbeschränkung bekommen haben sollen.

Während sich die Bessergestellten ohne große Umstände in ihr komfortables Homeoffice zurückziehen können, müssen sich Bauarbeiter und Angestellte in den "systemkritischen" Segmenten der Wirtschaft, im Einzelhandel, an den Kassen zum Beispiel, weiter der Ansteckungsgefahr aussetzen. Es zeige sich wieder einmal, dass die Härten vor allem Schichten treffen, die ohnehin schon schlechter gestellt sind, könnte man die Vorwürfe zuspitzen. Orte der Kritik sind wie in Deutschland weniger die großen Medien, sondern Off-Mainstream-Plattformen.

Blinde Flecken: Die Banlieues

Dass in den reichweitenstarken Medien wie im eingangs genannten Beispiel Saine-Sainte-Denis so dargestellt wird, wie es zur gängigen Erzählung über die Banlieues passt: "Rekordzahl von Verhaftungen, Polizei und Justiz verschärfen ihren Ton", fügt sich in eine politische Kultur, die es sich an vielen Stellen einfach macht.

So standen die französischen "Leitmedien" lange Zeit bei den Protesten firm und unbeirrt auf der Seite der Polizei, wenn es um Gewalt bei den Demonstrationen ging. Man einigte sich bequem darauf, dass die schwarzen Blocks und die Extremisten bei den Gelbwesten der ausschlaggebende und zu kritisierende Faktor sind. Erst seit kurzem bewegt sich die Wahrnehmung anhand schlagkräftiger Beweise für das brutale Vorgehen der Polizei auf eine differenziertere Sichtweise zu. Auch die politische Motive der Gelbwesten werden weniger leicht abgetan. Die Banlieues sind aber weiterhin ein blinder Fleck, vollgestellt mit Stereotypen.

Dass 1.348 Personen in Seine-Saint-Denis wegen Verstößen gegen die Ausgangsbeschränkungen ermahnt oder zur Zahlung eines Bußgelds (festgelegt sind 135 Euro) aufgefordert wurden, ist schon eine beachtliche Zahl, die mit dem Eifer der Polizisten nicht vollständig erklärt ist, sondern einen Abstand zu einer Ordnung bestätigt, die von der Staatsgewalt in Paris geformt wird.

Die Regierung Macron ignoriert die Welt der Banlieues. Es gab die Ambition, anhand eines breit angelegten Lageberichts eine neue Politik zu entwickeln. Das wurde aber völlig fallen gelassen. Die Banlieues wurden als monde à part behandelt, als fremde Welt, die man am besten ignoriert. Jedenfalls wandte sich Macron anderen Themen zu.

Das könnte im Fall, dass sich dort die Corona-Epidemie verbreitet, in sehr unangenehmen Nahaufnahmen auf ihn zurückkommen, wenn sich drastisch zeigt, dass die Verbindung zu den "sensiblen Zonen" überhaupt nicht stimmt und die Versorgung große Schwierigkeiten hat. Dann würde das Fehlen einer Anbindung zur "Zentrale" zu einem vitalen Problem, das nicht länger übersehen werden kann.

54 Prozent zufrieden mit Krisenbewältigung, aber wenig Vertrauen

Im Großen akzeptieren die Französinnen und Franzosen die Maßnahmen der Regierung, so die Resultate einer aktuellen Umfrage. Aber die Mehrheit von 54 Prozent, die mit der Art und Weise zufrieden sind, mit die Regierung mit der Corona-Krise umgeht, sind keine allzu große Mehrheit.

Bezeichnend sei die Zunahme der Sorgen und Ängste der letzten Wochen werden die Umfrageergebnisse kommentiert. Das Vertrauen zur Regierung ist nicht gerade überwältigend. 39 Prozent vertrauen der Regierung "völlig" oder "eher". 61 Prozent "eher nicht" (33%) oder "gar nicht" (28%). Auch Macron schneidet nicht besonders gut ab: 43 Prozent vertrauen ihm, 57 Prozent nicht.

Die Notwendigkeit

Wer Bilder aus Krankenhäusern in Italien sieht oder die Konvois der Leichentransporter in Bergamo, hat freilich genug Anschauungsmaterial dafür, dass "soziale Distanz" momentan absolut Gebot der Stunde ist. Soweit damit räumliche Distanz gemeint ist.

Auf Dauer und nach den politischen Prämissen, wie "soziale Distanz" von der Regierung in Paris vor dem Ausbruch der Corona-Krise praktiziert wurde, verstärkt sie Spannungen zwischen Teilen der Gesellschaft, die den Eindruck machen, dass sie wenig mehr voneinander wissen wollen außer dem, was Feindbilder so hergeben.

Die Skepsis gegenüber dem rapide georderten Abräumen von Freiheitsgrundrechten hat angesichts der langen Vorgeschichte der Unterminierung von Solidarität - die nun von allen möglichen Kirchensängern heraufbeschworen und gepredigt wird - gute Gründe. Der Ausnahmezustand wird noch länger in Kraft sein, heißt es ja auch diesmal.

Anders als der vorgängige ist er gegen eine Bedrohung gewendet, die das Risiko birgt, dass es mit Zigtausenden einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung schwer treffen kann, auch die jüngeren Covid-19-Erkrankten sind nicht vor schlimmen, lebensbedrohlichen Verläufen gefeit, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür sehr viel geringer ist als für die Über-60-Jährigen.

Dass die Solidarität mit den älteren Mitbürgern (der Median bei den bisher Angesteckten liegt bei 60 Jahren) so groß ist, ist ein erfreuliches Zeichen für eine Gesellschaft, die auf vielen Ebenen vom Gift des Sozialdarwinismus heimgesucht wird.

Für eine Zeitlang ist die Vorgabe klar gegeben: Die Zahlen der Ansteckung so klein wie möglich halten. Alles andere erscheint im großen Konsens, den die Medienberichte in Frankreich widerspiegeln, erstmal nachrangig. Man wird sehen, wie sich das in einer, zwei oder drei Wochen entwickelt.