Wenn die Europäische Zentralbank freihändig jongliert

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Die EU-Kommission greift den Slogan von Lagarde auf und setzt den Stabilitätspakt angesichts der bevorstehenden tiefen Rezession aus

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"Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln", twitterte die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) Christine Lagarde und kündigte am Donnerstag ein neues Anleihekaufprogramm im Umfang von 750 Milliarden Euro an. Lagarde griff nun doch den Leitspruch ihres Vorgängers Mario Draghi auf. Der hatte in der Eurokrise im Jahr 2012 angekündigt, die Notenpressen könnten auch unbegrenzt zum Einsatz kommen. "Whatever it takes" erklärte Draghi damals.

Lagarde schob nun nach, dass es auch für sie keinerlei Begrenzungen gäbe. Das "Pandemic Emergency Purchase Programme" (PEPP) soll es so lange geben, bis der EZB-Rat die Coronavirus-Krise für bewältigt hält. Mindestens soll es bis zum Ende dieses Jahres laufen. Man sei bereit ,"ohne Einschränkung" den Umfang des Programms zu erhöhen und die Zusammensetzung der angekauften Papiere anzupassen. Erstmals in der Geschichte der EZB sollten jetzt auch kurzfristige Unternehmensanleihen gekauft werden, die besonders gefährlich sind.

Die Geld-Junkies wurden nach den massiven Crashs an den Börsen nun darüber zunächst beruhigt. Auf dem Parkett gab es auch in Frankfurt wieder Gewinne. Der Leitindex DAX legte auch am Freitag um 3,7% zu. Doch eigentlich sollten zwei Vorgänge verunsichern. Einer hatte zum Crash der Börse in New York diese Woche beigetragen. Denn die zweiten drastischen Notmaßnahmen der Notenbank FED waren das Eingeständnis, dass es gegen bisherige Beschwichtigungsformeln nun richtig hart kommen wird, auch für die USA.

In welchen Händen sich die EZB jetzt befindet, die nun offensichtlich freihändig jongliert, ist auch nicht gerade ein Faktor, der für Beruhigung sorgen sollte. Hatte nicht die EZB gerade vor einer Woche erklärt, dass sie bis zum Jahresende Anleihen im Umfang von "nur" weiteren 120 Milliarden Euro aufkaufen will? Dass man es nun mit einer planlosen Zentralbank zu tun hat, ist durch den fundamentalen Kurswechsel in nur wenigen Tagen nur noch bestätigt. Vielleicht sollte man die ratlose Lagarde deshalb an ihre Worte vor einer Woche erinnern, wonach sie kein "Whatever it takes 2.0" anstrebe. Wie in der Finanzkrise ab 2008 schrumpfen die Halbwertszeiten gemachter Aussagen gerade wieder massiv zusammen.

Natürlich sprang Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier der EZB-Chefin sofort bei und begrüßte, die Gelddruckmaschinen zur Not auch unbegrenzt auf Hochtouren laufen zu lassen, um das Vertrauen an den internationalen Finanzmärkten zu stärken. Und der Wirtschaftsminister hält es für "entscheidend", dass der Wirtschaft "schnell und unbürokratisch" geholfen werde. Es müsse verhindert werden, dass der Euroraum insgesamt in eine Schieflage komme, etwa dadurch, dass einzelne Mitgliedsstaaten in eine schwierige Situation gerieten.

Aber ist das, vor allem im Dauerkrisenfall Italien, nicht längst der Fall? Warum hat die EZB, obwohl die Krise doch angeblich längst beendet gewesen sein sollte, den Krisenmodus nie verlassen. Real wurden in all den Jahren die EZB-Krisenmaßnahmen nur etwas zurückgefahren. Am Ende der Draghi-Ära wurde im Krisenmodus sogar wieder einen Gang nach oben geschaltet und das umstrittenen Anleihekaufprogramm ohne Not wieder gestartet, weil die Konjunktur schwächelte.

Ohne Stoßdämpfer unterwegs

"Heute", so hatten Experten wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman gewarnt, "stehen wir schlechter da, um mit einer Krise umzugehen, als 2007." Er erklärte, dass man ohne "Stoßdämpfer" unterwegs sei, man "die Lektion" aus der letzten Krise nicht gelernt habe. "Wenn sich morgen ein Kollaps ereignet, sind die Werkzeuge zur Reaktivierung der Wirtschaft viel schwächer", kündigte er das an, was nun ganz offensichtlich kommt.

Und somit erklärt sich auch, warum nun sofort die dicken Geschütze aufgefahren werden. Krugman nahm solche Stimmen, die die EZB-Maßnahmen als "Lehre aus den Jahren 2008/2009" bezeichnen, schon als absurd vorweg. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) meint dazu auch, dass die EZB eine "Abwärtsspirale verhindern" wolle. "Man will eine Finanzmarktpanik gar nicht erst entstehen lassen." Doch ist auch die nicht längst da, wie die Entwicklungen der letzten Wochen anschaut. Und das ist erst der Anfang.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Interview mit Hans-Werner Sinn. Der ehemalige Präsident des Ifo-Instituts sieht im EZB-Programm nämlich "überhaupt keine Maßnahme gegen die Coronakrise". Auch er meint, dass man sich auf eine solche Situation hätte vorbereiten müssen, "indem man das Pulverfass trocken" gehalten hätte. "Das hat man aber nicht getan." Sinn erinnert daran, dass an der EZB-Politik tatsächlich nichts neu ist. "Man hat in den letzten Jahren diese Politik schon immer gemacht." Man habe von 2015 bis 2018 insgesamt für zweieinhalb Billionen Euro Anleihen gekauft. "Da ist bereits sehr viel Geld gedruckt worden, um diese Papiere zu kaufen, die der Markt gar nicht mehr haben wollte, weil er kein Vertrauen mehr in die Länder hatte, die diese Papiere emittiert haben, und das macht man jetzt weiter."

Er hält es für wichtiger, die Realwirtschaft zu stützen. Wenn Geld ausgegeben wird, dann zuerst in Medizintechnik, Krankenhäuser und alles, was damit zusammenhängt: "Da würde ich überhaupt keine Grenze setzen, sondern wirklich massiv intervenieren." Erst danach kommt für ihn die Realwirtschaft. Erst danach könne man auch an Banken denken. Aber die Priorität ist, wie man schon aus der Finanzkrise kennt, genau umgekehrt. Heute kommt es teuer, das wird vielen Menschen das Leben kosten, dass in dieser Krise massiv das Gesundheitswesen zusammengespart wurde, vor allem in Krisenländern wie Spanien oder Italien.

"Das wurde noch nie zuvor gemacht"

Während die EZB ihr umstrittenes Aufkaufprogramm nun unbegrenzt ausweitet, wird den Ländern, die wie Spanien und Italien davon durch niedrige Zinsen besonders profitiert haben, von der EU-Kommission zudem erlaubt, auch die Staatschulden weiter zu erhöhen. Erstmals werden von der EU-Kommission die Defizitregeln ausgesetzt. Man aktiviert "die allgemeine Ausweichklausel" des EU-Stabilitätspakts, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag. "Der Schritt bedeutet, dass nationale Regierungen so viel Liquidität wie nötig in die Wirtschaft pumpen können."

Die Coronavirus-Krise habe "dramatische Folgen für unsere Wirtschaft", sagte die deutsche Kommissionspräsidentin. Die meisten Branchen seien über kurz oder lang betroffen. Aus Brüssel wolle man "alles Notwendige tun", weshalb man "vorübergehend die sonst sehr strengen Haushaltsregeln" aussetze. "Das wurde noch nie zuvor gemacht", fügte sie an. Sie vergaß nur zu erklären, dass in all den Jahren etliche Staaten die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gebrochen haben. Spanien hatte es gerade einmal geschafft, wieder unter die Defizitgrenze von 3% zu kommen. Die Verschuldungsquote Italiens liegt mit 137% mehr als doppelt so hoch, als sie mit 60% der Wirtschaftsleistung sein sollte. Die Quote dürfte nun auf griechische Werte explodieren.

Inzwischen meint auch das Ifo-Institut, dass auch Deutschland tief in eine Rezession stürzen werde und damit natürlich auch die gesamte Eurozone, um von Italien oder Spanien nicht zu sprechen, wo das Virus besonders wütet. In einem "sehr günstigen" Szenario (das man getrost ausschließen kann) wird erwartet, dass das Bruttoinlandprodukts (BIP) in Deutschland nur um 1,5% schrumpfen würde. Die Krise werde demnach "ihre volle Wirkung im zweiten Quartal entfalten und zu einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 4,5% führen". Die mit diesem Szenario in Zusammenhang stehenden gesamtwirtschaftlichen Kosten würden sich in zwei Jahren auf etwa Milliarden Euro aufsummieren.

Es sei aber "nicht unwahrscheinlich, dass sich die Krise länger hinzieht, etwa weil sich die Pandemie deutlich langsamer eindämmen lässt oder weil das Wiederhochfahren der wirtschaftlichen Aktivität nicht reibungslos funktioniert bzw. eine erneute Ansteckungswelle auslöst". In einem Risikoszenario geht das Institut davon aus, dass sich der Konjunktureinbruch verstärkt, die Rezession verlängert und die Erholung verlangsamt. "Der Rückgang der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr würde auf 6% steigen, und Ende 2021 läge das Bruttoinlandsprodukt immer noch 2,0 Prozent unter dem Niveau, das sich ohne die Corona-Krise eingestellt hätte." In diesem Szenario seien "Verwerfungen im Finanzsystem als Folge umfangreicher Kreditausfälle und Unternehmensinsolvenzen wahrscheinlicher, die im Basisszenario nicht unterstellt wurden".