Was heißt hier Volksgesundheit?

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Die Corona-Pandemie - vom Fernost-Problem zum nationalen Notstand

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Das Auftreten des Corona-Virus hat die Öffentlichkeit in vielfältiger Weise beschäftigt. In der legendären deutschen Zivilgesellschaft konnten sich die Menschen so ihre Meinung bilden, was zu unterschiedlichen Resultaten führte: Einige finden die stattfindenden Maßnahmen und Aktivitäten übertrieben, feiern etwa - teils bewusst provokativ - Coronapartys, andere schließen sich ein und hamstern Vorräte, um jeden Kontakt mit der Umwelt zu vermeiden.

Mittlerweile sind die traditionellen Medien, die Tageszeitungen, die "seriöse" Presse, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, zu einer Art Verlautbarungsjournalismus übergegangen, der täglich die offiziellen nationalen Notstandsansagen in die Haushalte schickt und die Verhaltensregeln bekannt macht - auch mit den Konsequenzen droht, die die Politik noch ergreifen könnte. Das Volk wird aufgefordert, an den Volksempfängern zu bleiben, damit es weiß, woran es ist.

Neben den offiziellen Durchsagen und der Erteilung von lebenspraktischen Ratschlägen gibt es aber auch eine lebhafte Diskussion über die Bedeutung der Pandemie - die ja durchaus unterschiedliche nationale Interpretationen, Laissez-faire und Ignorieren inbegriffen, kennt. Begleitet wird das Ganze von Stellungnahmen ausgewiesener Virologen, die den verschiedenen Standpunkten entsprechende Begründungen liefern und die auch immer wieder Differenzen bei ihren eigenen Erkenntnissen oder Einschätzungen deutlich werden lassen. Im Vordergrund stehen natürlich die Politiker, die die Entscheidungen treffen und, je nachdem, ihre Positionen ändern, allerdings nicht ohne den Verweis darauf, dass ihre Maßnahmen medizinisch begründet seien.

Dies alles schafft die Basis für muntere Spekulationen und Verschwörungstheorien, die in den sozialen Medien zirkulieren. Daher hier ein Angebot, auf welche zentralen Punkte man das Augenmerk richten sollte.

Volksgesundheit - ein Sorgeobjekt besonderer Art

Kritiker der aktuellen Krisenmaßnahmen berufen sich auf den Tatbestand, dass die "normale" Grippe höhere Krankenzahlen und Todesraten aufweist, als dies bisher bei der Corona-Pandemie der Fall ist. Dafür können sie etwa die hohe Zahl der Todesfälle im Straßenverkehr anführen, die nicht zu einer solchen Aufregung führen, die, je nachdem, sogar zu einer Erhöhung der Grenzwerte führen, wie in der letzten Feinstaub-Debatte praktiziert (vgl. Lungenärzte zum Dieselskandal - Ein Lehrstück in Sachen Medizin). Bekannt sind ja zahlreiche Schädigungen durch Lärm, Umweltgifte etc., die viele Opfer kosten und nicht die besondere Aufmerksamkeit eines nationalen Notfalls erhalten.

Dies zeigt, dass im Alltag dieser Gesellschaft ständig mit Kranken und Toten kalkuliert wird und mit der Frage, ob man sie sich leisten will; auch hierzulande und nicht allein in den immer wieder beschworenen totalitären Regimen gibt es "die Banalität, dass ständig Berechnungen des Werts von Menschenleben stattfinden" (vgl. Was kostet ein Leben, was darf es kosten?). Von daher ist die Frage berechtigt: Wieso gerade jetzt diese Aufregung und der Ausnahmezustand?

Gleichgültigkeit kann man den Gesundheitspolitikern in Sachen normale Grippe, Schadstoffe oder Verkehrstote allerdings nicht vorwerfen. Die Zahl der Geschädigten wird registriert, die Schadstoffe, die man der Bevölkerung verabreicht, werden gemessen und im Herbst wird regelmäßig zum Impfen aufgefordert. Von Zeit zu Zeit werden auch die Regelungen verändert, wenn es zu viele Tote oder Kranke gibt oder wenn bestimmte Auflagen für das freie Unternehmertum als zu einschränkend angesehen werden. Das heißt: Wenn Gesundheit Thema in der Öffentlichkeit ist, dann geht es nicht um die Sorge des Einzelnen, der seine Gesundheit erhalten oder wiederherstellen will, sondern um die Volksgesundheit, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt.

Für die sieht sich der Staat zuständig, schließlich sind seine Bürger und Bürgerinnen die Basis seiner Macht, und er tritt auf als Garant der Existenz seines Volkes, das von ihm abhängig ist. Die Volksangehörigen sollen in seiner Gesellschaft ihr Glück machen können; dass es dazu des Schutzes durch den Staat bedarf, macht deutlich, dass die Existenz in dieser Gesellschaft eine bedrohte Angelegenheit ist. Und diese Bedrohung geht nicht nur von der Natur, ihren Katastrophen oder Epidemien aus, sondern auch von der Konkurrenz und Rücksichtslosigkeit der Bürger untereinander, wie sich etwa im Straßenverkehr zeigt, und vor allem von der Wirtschaft, von deren Erfolg jede Lebensregung in dieser Gesellschaft abhängt. Deren Aktivitäten gefährden die Lebensgrundlagen der Menschen und ihre Gesundheit, so dass zahlreiche Umweltschutz-, Arbeitsschutz- oder Verbraucherschutzmaßnahmen dafür sorgen sollen, dass die Vermehrung des Reichtums in Form eines Geldwachstums nicht die Natur und die Menschen ruiniert.

Alle sollen im Prinzip in dieser Gesellschaft existieren können; das bedeutet nicht, dass dies auch jeder kann. Die Verhältnisse sollen so beschaffen sein, dass die Menschen sich in einem Gesundheitszustand befinden, der es ihnen erlaubt, als Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Polizist, Arzt, Rechtsanwalt oder Mutter die jeweilige gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, aber auch im Alter und bei Krankheit das eigene Leben zu bestreiten. Dies bedeutet nicht, dass alle Menschen im Land gesund sein müssen. Eine gewisse Ausfallquote kann hier einkalkuliert werden und wie die Beispiele des Straßenverkehrs oder der Feinstaubbelastung zeigen, wird auch ständig mit solchen Ausfallquoten von Seiten der Politik kalkuliert, solange sie sich in gewissen - äußerst dehnbaren - Grenzen halten.

Vorgetragen wird die Sorge um die Volksgesundheit in einer Form, die den Bürgern die gute Meinung nahelegt, es ging um ihre Gesundheit. Zwar sind sie von den staatlichen Maßnahmen bezüglich Gesundheitsschutz abhängig, denn sie können nicht die Qualität der Luft, die sie atmen müssen, die Belastungen in der Arbeit oder die Qualität der Lebensmittel bestimmen; hier sind sie vielmehr darauf angewiesen, dass auf ihre Belange Rücksicht genommen wird. Dennoch dienen diese Maßnahmen nur bedingt dem Schutzes des Einzelnen (vgl. Was ist wichtiger: Wirtschaft oder Klimaschutz?), sondern dem Funktionieren des staatlichen und wirtschaftlichen Gemeinwesens, in dem der Einzelne als Mittel zur Produktion von Reichtum und zur Sicherung des staatlichen Lebens dient - und für den nach Ablauf des Dienstes sogar, man höre und staune, die Existenz gesichert wird, wobei die Existenzsicherung dann oft gerechter Weise mit der bekannten Altersarmut zusammenfällt.

Kritikern, die dem Staat jetzt Hysterie beim Thema Corona-Pandemie vorwerfen, ist es offenbar die größte Selbstverständlichkeit, dass der Alltag in dieser Gesellschaft ständig gesundheitliche Schädigungen und Tote mit sich bringt. Sie betrachten dies als "Lebensrisiko", also als eine notwendige Gefährdung, die nicht politischen Kalkulationen, sondern dem Leben schlechthin geschuldet sei. Auf diese Weise kann man sich noch mit jeder Schädigung abfinden!

Der Krankheitserreger: SARS-CoV-2

Der Erreger SARS-CoV-2, bekannt als Corona, ist neu und in seinen Auswirkungen bisher nicht kalkulierbar. Die Bezeichnung SARS-CoV-2 oder Covid-19 zeigt, dass der Erreger identifiziert und biologisch eingeordnet ist. Es handelt sich demnach um eine Variante des SARS-Erregers, der aus der Vergangenheit bekannt ist. Im Gegensatz zur normalen Grippe, bei der auch immer mögliche Abwandlungen des Erregers erforscht werden, um so Impfstoffe vorzubereiten, ist dies hier nicht passiert. Offenbar gab es dafür kein politisches oder wirtschaftliches Interesse.

Die Diagnose ist zudem noch mangelhaft. Es gibt keine eindeutigen Symptome, durch die diese Erkrankung von der normalen Grippe oder von anderen Atemwegserkrankungen abzugrenzen wäre. Deswegen wird bei der Diagnose immer zusätzlich nach Kontakten mit schon Infizierten oder nach einem Aufenthalt in Risikoregionen gefragt, wobei in Deutschland im Gegensatz zu China eine Testung auf diese Fälle beschränkt ist. Die Diagnose mittels Abstrich stellt dabei eine Momentaufnahme dar, bis zur Auswertung kann sich der Patient bereits wieder infiziert haben. Die Latenz- und Inkubationszeit von zwei Wochen ist lang und nicht jeder zeigt Symptome, so dass die Verbreitung nicht zu kontrollieren ist.

Als Viruserkrankung gibt es ferner keine Behandlungsmöglichkeiten und die von der Pharmaindustrie angebotenen Mittel erweisen sich als relativ wirkungslos. Die Therapie konzentriert sich auf die schweren Verläufe und auf lebenserhaltende Maßnahmen, die den Körper bei seinen Selbstheilungsmaßnahmen unterstützen sollen. Ein Impfmittel gibt es noch nicht und zur Entwicklung braucht es, wie man hört, noch ca. ein Jahr. Das alles sind Unsicherheitsfaktoren, die den Umgang mit der Krankheit erschweren. Was jetzt in Deutschland greifen soll, ist die Seuchenbekämpfung durch Hygiene und Unterbrechung der Infektionskette. Das Ideal ist dabei die Identifizierung des Patienten Null, von dem die Infektion ausgegangen ist, sowie die Isolierung seiner Kontaktpersonen. Was aber nicht immer möglich ist! Also gilt es, die Sozialkontakte insgesamt einzuschränken.

Dieses Problem stellt sich jeder Gesellschaft - unabhängig davon, wie sie politisch verfasst ist. Die konkreten Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens, die dann verfügt werden, verdanken sich nicht einfach einer medizinischen Notwendigkeit, sondern einer politischen Entscheidung. Ganz einschränken kann man die Kontakte ja nicht, die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen muss sichergestellt werden. Somit handelt es sich im Ergebnis um Opportunitätserwägungen, die immer auch Inkonsequenzen beinhalten.

Die Einschränkungen der Sozialkontakte machen sich entsprechend der Gesellschafts- und Wirtschaftsform unterschiedlich geltend. Musterbeispiel: Die EU-Grenzen sind für Personen zu, aber für Waren müssen sie unbedingt offen bleiben! Im Wesentlichen sind die Maßnahmen davon bestimmt, dass das Geschäft im Lande, also der Einsatz von Geld und sein Return on Investment, möglichst ungehindert seinen Gang gehen kann.

"Wir sind gut aufgestellt" (Minister Spahn)

Gleich zu Beginn der Epidemie betonte Gesundheitsminister Jens Spahn, dass Deutschland dafür gut vorbereitet sei. Dies sollte so etwas wie eine Entwarnung darstellen, eine Vorbeugung gegen Panik - und es war im eigentlichen Sinne, was die Konsequenzen für die Bürger betrifft, eine Lüge. Es sind eben zwei verschiedene Dinge, wenn die Sorge der Volksgesundheit gilt oder wenn den Bürger Sorgen um seine eigene Gesundheit umtreiben. Was Erstere betraf, sah sich der Minister in einer guten Position. Er kann offenbar, im Gegensatz zu den Patienten, mit multiresistenten Keimen in den Kliniken, mit dem Mangel an Pflegekräften und mit unnötigen, aber profitablen Operationen gut leben.

Spahn verwies auf die niedergelassenen Ärzte, Krankenhäuser und Gesundheitsämter, die Deutschland aufzuweisen hat. Die dementierten allerdings sofort, dass sie in der Lage seien, mit der Epidemie umzugehen. So wurden die Patienten angewiesen, beim Auftreten von Symptomen nicht in die Praxis zu gehen, sondern dort anzurufen und auf einen Hausbesuch vom Hausarzt zu warten. Doch weder waren die Symptome klar, bei denen der Patient statt Arztbesuch einen Anruf tätigen sollte, noch wussten die Ärzte Bescheid, hatten weder ausreichende Diagnose- noch Hygieneartikel oder Schutzkleidung zur Verfügung. Sie wiesen daher auch die Verantwortung von sich und zeigten auf die Gesundheitsämter. Diese sind für die Seuchenbekämpfung, neben anderen Aufgaben, zuständig und auch personell so schwach ausgestattet, dass sie nicht alle gesetzlich vorgegebenen Aufgaben erfüllen können, wie die Lebensmittelskandale gezeigt haben.

Auch die Krankenhäuser sind auf Epidemien nicht eingestellt. Seit Jahren werden Betten abgebaut und Krankenhäuser geschlossen, und diese Notwendigkeit wird in der Öffentlichkeit - hart, aber fair - gegen alle Bedenken vertreten (vgl. Wie die Medien - hart, aber fair - die Fakten verbiegen: Beispiel Gesundheit). Laut Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Nr. 011 vom 13.3.2020) wurden im Zeitraum von 2007 bis 2017 145 Krankenhäuser geschlossen und 9.754 Betten abgebaut. Dabei zeigt der Gesundheitssektor praktisch, dass der Staat der Ideologie, der Markt würde für die beste Versorgung der Kunden oder Allokation der Güter sorgen, nicht glaubt. Darauf verlässt er sich jedenfalls nicht.

Es gibt zwar einen Gesundheitsmarkt, aber der ist über die Preise staatlich geregelt. Für die Krankenhäuser bedeutet dies, dass sie mit politisch festgelegten Fallpauschalen kalkulieren sollen, d.h., sie bekommen für jeden Fall, den sie bearbeiten, einen festgelegten Betrag. Das "wirtschaftliche Bett" ist daher eins, in dem für kurze Zeit jeweils ein abrechenbarer Fall liegt. Lange Krankheitsdauer bedeutet Blockierung von Betten, die sich aber gerade lohnen sollen. Also sind Epidemiefälle nicht lukrativ und Hüftoperationen eher angesagt.

Die Fallpauschalen berechnen sich nach Punktwerten. Über den Basispunktwert wird politisch entschieden, und zwar in einer Höhe, die viele, vor allem kleine Krankenhäuser zur Aufgabe zwingt. Die Krankenhausplanung unterliegt dabei den Ländern, die als Kofinanzierer auftreten und ihre Investitionszuschüsse so vergeben, dass es zu Spezialisierung und Zentralisierung kommt. Krankenhausplanung kann man in unterschiedlicher Weise betreiben: So, dass auch Epidemien und Katastrophenfälle berücksichtigt werden, oder so, dass man von einem normalen Durchschnitt ausgeht, mit zeitweiliger Über- und Unterbelegung, oder eben als Imperativ zur wirtschaftlichen Kalkulation, so wie es heute als Selbstverständlichkeit gilt. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurde übrigens noch mit dem Katastrophenfall - der weniger in einem Naturereignis als einem Kriegsfall bestand - kalkuliert. Seit dem Ende der Blockkonfrontation wird nur noch der Bettenberg abgebaut. Und daran haben sich alle regierenden Parteien in Bund und Ländern beteiligt, von der CDU/CSU über FDP, SPD bis zu den Grünen und Linken.

Dass die deutschen Krankenhäuser nicht auf die Epidemie eingestellt sind, gab Spahn zu erkennen, als er ankündigte, das Gesundheitssystem könnte unter Stress geraten. Als eine Maßnahme wurde vorgeschlagen, durch Verschiebung von Operationen die notwendigen Intensiv- und Beatmungsplätze in den Krankenhäusern freizumachen. Ganz so, als ob diese überwiegend von OP-Patienten belegt seien. Die Behandlung von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Unfällen lässt sich jedoch nicht so leicht verschieben, und die betreffenden Patienten liegen ebenfalls auf der Intensivstation. Wenn jetzt die Kliniken aufgefordert werden, Betten frei zu machen, die Zahl der Intensivbetten zu erhöhen und weitere Beatmungsgeräte zu beschaffen, sollen sie - auf einmal laut Ansage von oben - gegen ihre wirtschaftliche Vernunft handeln; dabei sind sie darauf angewiesen, dass ihnen das auch finanziert wird.

Andere Vorschläge waren auch zur Hand. Doch: Zusätzliche Betten in einem Kongresszentrum aufzustellen, mag als tatkräftiges Eingreifen erscheinen, die Frage bleibt nur, wer da die ärztliche und pflegerische Versorgung übernehmen soll. Die Schaffung zusätzlicher Betten in Rehabilitationseinrichtungen bedeutet, dass man Menschen, die rehabilitiert werden müssten, nach Hause schickt.

Was sich also insgesamt schon abzeichnet, ist die Konsequenz, dass man bei Überlastung auf die Triage, ein bewährtes Verfahren im Krieg, zurückgreifen wird: Man sortiert das Patientengut danach, bei wem sich eine Behandlung nicht mehr lohnt, also der Aufwand wenig Erfolg verspricht, man die Betreffenden daher sterben lässt, nach den dringlichen Fälle, die eine Behandlung erfahren, und danach, und den als harmlos eingestuften Fällen, die man mit ihrer Krankheit allein lässt und in die Warteschleife verweist.

Der Auftrag: Das Gesundheitssystem retten!

Mit diesem Stichwort machten die politisch Verantwortlichen, so die Bundeskanzlerin und der Gesundheitsminister, deutlich, wie ihre Krisenstrategie aussah: Die Kanzlerin sprach in eine Pressekonferenz davon, dass sie von einer Infektionsquote von ca. 60 Prozent in der Bevölkerung ausgehe. Das würde in etwa dem entsprechen - was man in den nationalen Strategien anderer Länder, z.B. Japan oder Schweden, als Leitlinie findet -, dass man (fast) nichts tut und wartet, bis der Erreger keinen Wirt mehr findet, weil die Mehrzahl der Menschen die Krankheit durchgemacht hat und damit gegen den Erreger immun ist. Mit diesem Rettungsauftrag kann man auch ausdrücken, dass es nicht um die Verhinderung von Krankheiten geht, sondern dass die Politik die Kontrolle über die Volksgesundheit erhalten will, was möglichst wenige Einschränkungen vor allem im Wirtschaftsleben einschließen soll.

Empfohlen werden jetzt vorwiegend Hygienemaßnahmen, die Vermeidung direkter Kontakte, Niesen in den Ellenbogen und regelmäßiges Händewaschen. Das soll bewirken, dass die Epidemie einen langsameren, damit nicht so dramatischen Verlauf nimmt. Während in anderen Ländern die Menschen aufgefordert werden, in der Öffentlichkeit einen Mundschutz zu tragen, um die Verbreitung durch Tröpfchen-Infektion einzuschränken, gibt es in Deutschland diese Empfehlung nicht, und zwar deshalb, weil keine Vorräte von diesem einfachen Mittel vorhanden sind. Weil der Gesundheitssektor wie ein Markt - gesteuert durch den Staat - funktionieren soll, gibt es weder eine Stelle, die Schutzkleidung für den Notfall vorhält, noch Laborkapazitäten, die es erlauben würden, Massentestungen auszuwerten. Also werden diese auch nur eingeschränkt durchgeführt.

Wenn von der Vermeidung eines dramatisch Verlaufs der Epidemie die Rede ist, so ist nicht die Schwere der Erkrankung der Betroffenen gemeint, sondern die Zahl der Fälle, die medizinisch betreut oder gar in einer Intensivstation untergebracht und beatmet werden müssten. So soll das Gesundheitssystem, weil nicht für eine Epidemie gerüstet, durch die jetzt eingetretene nicht überfordert werden. Unterstützt wird diese Argumentation z.B. durch einen Virologen der Charité, wobei dessen Fachlichkeit, wie auch die der anderen Ärzte, zwar in der Kenntnis von Viren bestehen mag; die fachliche Argumentation ist aber statistischer Natur, stützt sich also auf Schätzungen und Hochrechnungen, bei denen man unterschiedliche Annahmen zu Grunde legen kann.

So sollten ja anfangs weitergehende Maßnahmen wie Schulschließungen oder gar Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens vermieden werden. Denn auf Letzteres kommt es in dieser Gesellschaft besonders an, schließlich ist das gesamte gesellschaftliche Leben vom Gelingen des Wirtschaftswachstums, sprich der Vermehrung von Kapital, abhängig gemacht und der Schulunterricht, wie man jetzt erfährt, eine Ermöglichungsbedingung der elterlichen Berufstätigkeit. Eine solche zurückhaltende Strategie zur Kontrolle des Epidemieverlaufs erwies sich aber mit steigenden Infektionszahlen, die sich nicht an die Vorhersagen hielten, als problematisch und so wurden auch weitere Einschränkungen vorgenommen und ein weiteres Sorgeobjekt trat unter breiter öffentlicher Anteilnahme in den Vordergrund.

It's the economy, stupid!

Das wirtschaftliche Leben in Form von Produktion und Verkauf sollte möglichst weiter gehen, aber dazu braucht es auch eine funktionstüchtige Bevölkerung, die den betreffenden Aufgaben - jeder und jede an seinem und ihrem Platz - nachgehen kann. Und so stand die Politik vor einem Dilemma. Um die Volksgesundheit zu sichern, wurden Einschränkungen der Sozialkontakte unvermeidlich, mit diesen aber auch Einschränkungen des Geschäfts.

Zwar bemühte sich die Politik darum, eine Trennung vorzunehmen zwischen den Kontakten, die nicht unmittelbar die zentralen Wirtschaftsbereiche betreffen, und den privaten Aktivitäten der Bevölkerung, auf die man verzichten kann. Nur ist dies in einer Gesellschaft, in der alles auf das Geschäftsleben ausgerichtet ist, nicht möglich. So sind auch das Privatleben und seine Vergnügungen Mittel des Geschäfts - und Einschränkungen in diesem Bereich führen zu Geschäftsausfällen, die sich auch auf andere Wirtschaftsbereiche, bis hin zum sinkenden Ölpreis, auswirken.

Weil es dabei um Opportunitätsabwägungen geht, gibt es, wie gesagt, entsprechende Ungereimtheiten, die vielen Bürgern auffallen und sie am Sinn der ergriffenen Maßnahmen zweifeln lassen. Wenn die Produktion und der Handel um der profitablen Fortführung des Geschäfts willen weitergehen sollen, dann gelten die Gesundheitsvorschriften in diesem Bereich nur bedingt, dann ist der Platz an der Supermarkt-Kasse ein Hochrisikoplatz ebenso wie die Zusammenarbeit in der Kolonne oder am Band. Und weil alles dem Geschäft untergeordnet ist, können sich die Pendler nach Schließung von Schulen und Behörden nicht über mehr Abstand in den Öffentlichen Verkehrsmitteln freuen, diese schränken vielmehr - im Gegensatz zu China, wo die Taktzeiten verkürzt und so die Enge vermieden wurde - den Verkehr ein, um für eine wirtschaftliche Auslastung ihrer Fahrzeuge zu sorgen; und so schaffen sie es, dass die Infektionsgefahr aufrechterhalten wird.

Hinzu kommt, dass die Wirtschaft bereits am Beginn einer Rezession steht, wie die zahlreichen Ankündigungen von Massenentlassungen bei Großbetrieben schon seit einiger Zeit deutlich gemacht haben (vgl. Massenentlassungen zur Arbeitsplatzsicherung?). Alle haben darauf gesetzt, durch eine Verbilligung und Ausdehnung ihrer Produktion größere Marktanteile für sich erobern zu können, wobei sie dann regelmäßig vor dem Ergebnis stehen, dass es plötzlich von allem zu viel gibt: zu viele Produkte, die unverkäuflich sind, auch wenn viele Menschen sie benötigen; zu viele Fabriken, mit denen nützliche Dinge hergestellt werden könnten, die aber stillgelegt oder verschrottet werden; zu viele Menschen, die Arbeit für ihren Lebensunterhalt brauchen, aber entlassen werden; zu viel Geld, das nach Anlage sucht, um sich zu vermehren, aber keine lohnende Gelegenheit findet.

Diese Entwicklung wird durch die Epidemie nun verschärft, weil Lieferungen ausbleiben, Absatzmärkte weiter zusammenbrechen und Geschäfte schlichtweg unterbunden werden. Zu spüren bekommen dies zuerst diejenigen, die von ihrer Arbeit leben müssen, und zwar durch Entlassungen oder Kurzarbeit, was nichts anderes bedeutet, als dass sie mit ihrem Lohn oder Gehalt für die Krise gerade zu stehen haben. Dabei werden jetzt in der Krisenbereinigung einzelne Einschränkungen der Produktion oder des Handels nicht wegen ausbleibender Gewinnmöglichkeiten angekündigt, sondern ideologisch als eine einzige Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter aufbereitet.

Die Politik sieht sich in dieser Situation besonders gefordert. Sie will sowohl der Wirtschaft den Fortgang ihres Geschäfts sichern, indem sie Kredite absichert, vergibt oder Steuern stundet. Damit erhöht der Staat die Verschuldung derer, die ein Geschäft betreiben, und es hängt ganz vom Standing des Unternehmens ab, ob es damit auch in den Zustand versetzt wird, jemals die Schulden zu bedienen, oder ob nur der Konkurs aufgeschoben wird. Denn neues Geschäft ist mit dieser Aktion noch nicht gestiftet. Auch den abhängig Beschäftigten gilt die Sorge, ihnen wird der Arbeitsplatz in Form von Kurzarbeit gesichert, d.h. mit gekürztem Lohn, der dank seiner Kürzung den Lebensunterhalt nicht mehr sichert, sie aber weiter an den jeweiligen Arbeitgeber bindet.

Das Ausland: ein einziger Seuchenherd

Da es um die Kontrolle der Volksgesundheit geht, entdecken die Politiker aller Länder im Ausland einen Unsicherheitsfaktor, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Unabhängig von den dort auftretenden Infektionen oder Seuchenmaßnahmen stehen Ausländer prinzipiell als Seuchenherd unter Verdacht, und so werden Grenzen für Personen geschlossen, soweit dies nicht den Güter- und Warenverkehr beeinträchtigt, denn das Geschäftemachen soll ja weitergehen.

Während das Robert-Koch-Institut die Risikogebiete nach Fallzahlen sortiert und sich somit Heinsberg auf dem Stand von Wuhan befindet (wo übrigens inzwischen so gut wie keine Neuinfektionen mehr auftreten sollen), stellt der Gesundheitsminister alle aus den Nachbarländern wie Frankreich, Schweiz oder Österreich zurückkehrenden Touristen unter Infektionsverdacht und empfiehlt ihnen, sich in häusliche Quarantäne zu begeben. Während die Grenzschließungen der USA noch als verrückte Maßnahme eines verrückten Präsidenten besprochen wurden, sind jetzt so gut wie alle Grenzen dicht ...

Auch wenn eine Gemeinschaftlichkeit der Menschheit bezüglich der Betroffenheit durch das Virus beschworen wird, so bleibt die Konkurrenz der Staaten erhalten und in der Sorge um die Gesundheit des eigenen Volkes werden gerade auch Maßnahmen gegen die anderen ergriffen. So schränkt Deutschland den Export von Schutzkleidung und Masken sogar gegen andere EU-Länder ein und beschwert sich, dass die USA einen exklusiven Zugriff auf den noch zu entwickelnden Impfstoff geplant hätten. In der Konkurrenz der Staaten gilt es eben, den Schaden im eigenen Land für die Wirtschaft gering zu halten und darauf zu setzen, dass dies den anderen nicht in dem gleichen Umfang gelingt. So soll ja Deutschland - wie in der letzten Krise - anschließenden gestärkt aus ihr hervorgehen.

Prof. Dr. Suitbert Cechura lehrte Soziale Arbeit im Bereich Gesundheitswesen/Sozialmedizin. Buchveröffentlichung u.a.: Unsere Gesellschaft macht krank, Tectum Verlag, Baden-Baden 2018.

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