Hygienestaat: "Im Namen der Volksgesundheit"

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"Für den Moment keine Gefahr" - Politikwissenschaftler Münkler zu Corona und den politisch-sozialen Folgen

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Ist Markus Söder der Cosimo de Medici unseres Zeitalters? Wer es an den steigenden Umfragewerten für die Regierungskoalition und am jeweiligen Gesichtsausdruck von Armin Laschet, Markus Söder und Jens Spahn noch nicht gemerkt hatte, dem erklärt es jetzt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem heute veröffentlichten Interview im Spiegel: Große Seuchen produzieren große Männer.

"Wer in einer ernsten Situation nur reden, aber nichts anordnen kann, ist klar im Nachteil", sagt Münkler, die Regierenden aller Länder seien deshalb die Profiteure der Corona-Krise, "denn sie können handeln". Politisch seien die regierenden Parteien gerade klar im Vorteil.

Vergleich mit der Pest

Münkler, Experte für Geschichte und Politische Theorie der Frühen Neuzeit, zieht eine historische Parallele: Allenfalls mit der großen Pestwelle des 14. Jahrhunderts sei die derzeitige Corona-Pandemie vergleichbar. Sie habe "das öffentliche Leben ähnlich zum Erliegen gebracht wie Corona heute".

Die Obrigkeiten konnten im Namen von Krankheitsbekämpfung und Gesundheitsschutz der Bevölkerung, Ordnungs- und Disziplinierungsmaßnahmen und Ausnahmegesetze durchsetzen, die unter normalen Umständen auf scharfe Opposition getroffen wären. "An solchen Herausforderungen wuchsen die frühneuzeitlichen Staaten und etablierten sich - die Herrschaft konnte sich legitimierten, indem sie dabei erfolgreich war."

Mit den Notstandsgesetzen der sechziger Jahre und der Debatte über sie - einer Initialzündung der kulturellen Revolte von 1968 - könne man die jetzige Lage dagegen nicht vergleichen: "In der jetzigen Situation wird ja gar nicht mit Gesetzen gearbeitet... Im Moment nutzen die Regierungen vor allem administrative Möglichkeiten."

"Für den Moment" keine Gefahr für die Demokratien

Grundsätzlich sei der derzeitige von der Exekutive dominierte Ausnahmezustand aber gefährlich, weil er leicht Tür und Tor für fundamentale Veränderung der sozio-politischen Ordnung öffnen könne. Für die Demokratien sieht Münkler zwar "für den Moment" keine Gefahr.

Aber in autoritären Staaten wie China ist die Pandemie eine gute Begründung, das ohnehin schon herrschende Kontrollsystem mit Handyüberwachung und Bewegungsprofilen weiter auszubauen. Wenn man auf diese Weise die Krankheit besiegt, lässt sich einiges rechtfertigen.

Herfried Münkler

Darum sei in Staaten, in denen sehr autoritäre Regierungschefs agieren, damit zu rechnen, dass die Pandemie "zum Einfallstor für weitreichende Veränderungen der politischen Ordnung wird". Politiker würden dort versuchen, sich als charismatische Bezwinger der Krise darzustellen. Münkler nennt hier gewählte Präsidenten demokratischer Staaten wie Donald Trump und den Brasilianer Bolsonaro mit jenen in einem Atemzug, bei denen Rechtsstaatlichkeit und Fairness der Wahlen mindestens in Zweifel stehen: Erdogan, Putin und Xi Jinpin.

"Für den Moment" - diese Formulierung ist verräterisch, denn hier lässt der Politikwissenschaftler eigene Unsicherheit erkennen oder deutet diplomatisch an, was er mittelfristig erwartet. Offen bleibt daher eine Antwort auf die noch viel zentralere Frage: Ob und wodurch demokratische Staaten eigentlich dauerhaft vor derartigen Tendenzen zu charismatischen, autoritären Herrschaften geschützt sind?

Die Aushöhlung

Es scheint zwar optimistisch, wenn Münkler sagt: "Unsere Demokratien werden die Krise wohl gut überstehen". Die Begründung dieser Behauptung bleibt der Politikwissenschaftler aber schuldig. In seinem frühen Buch über den Staatsphilosophen Machiavelli und "die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz" hatte Münkler 1984 in Bezug auf das Gefahrenpotential derartiger Krisensituationen noch deutlich pessimistischer argumentiert.

Nach einer breiten Darstellung der Folgen der Pest für den Stadtstaat - "Die Pest zerschlug die sozialen Beziehungen in Florenz" und führte zum "völligen Stillstand aller produktiven Tätigkeiten ... " - beschreibt er "die Zerstörung der Republik" durch Cosimo de Medici.

Charismatische und autoritäre Herrschaftsmodelle folgten auf den Verfall des städtischen Gemeinwesens, der Gewaltenteilung und die innere Aushöhlung der Republik. Sie ging mit einer massiven Finanzkrise, dem "wachsenden Desinteresse der Florentiner Humanisten an politischen Problemen" und "dem Verfall des politischen Engagements der Bürger" einher. Man braucht keine Pandemie, um hier Parallelen zu erkennen.

Hygienestaat und Gesundheits-Diktatur?

"Heute profitieren die Erreger eher vom Frieden", behauptet Münkler. Die zentrale Frage sei, wie man die Verwundbarkeit durch Globalisierung verringern könnte, ohne Freiheiten einzuschränken.

Man kann die Ausführungen des Wissenschaftlers auch so verstehen, dass er für die mittelfristige Zukunft die Gefahr eines Hygienestaats und einer von Reinheit, Gesundheit und Nachhaltigkeit getragenen Öko-Diktatur fürchtet: Die frühneuzeitlichen Staaten, egal ob absolutistische Monarchie oder Republik, reglementierten, so Münkler, "immer stärker das Alltagsleben der Menschen ... Sogenannte Policey-Ordnungen entstanden, etwa zur Ausweisung Kranker im Seuchenfall oder zur Müllbeseitigung. Der englische Philosoph Thomas Hobbes prägte die Formel: 'Pro protectione oboedientia' - für den Schutz, den der Staat bietet, haben die Bürger Gehorsam zu leisten".

Auch Europa bietet für Münkler nur begrenzt Hoffnung auf einen Ausweg auf der Krise. Die Institutionen seien zu schwach, verschiedenartige politische Kulturen werden hingegen zurzeit noch sichtbarer. Zwar sei die europäische Idee noch nicht bedroht. Aber: "Die Pandemie verstärkt Entwicklungen... Nach 1989 gab es eine Tendenz zur Großräumigkeit, zur Langfristigkeit und Rationalität. Jetzt denken wir wieder verstärkt in kleinen Räumen, kurzfristig und emotional."

EU-Skeptiker und Grenzschließungs-Fetischisten können sich allerdings auf Münkler nicht berufen. Das sei "reine Symbolpolitik". In einer global vernetzten Welt ist Abschottung illusorisch.