Sachbücher des Monats: April 2020

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.

Jens Malte Fischer
Karl Kraus
Der Widersprecher. Biografie

Im Alter von 25 Jahren gründet er "Die Fackel", die er von 1911 bis 1936 alleine schreibt, die "Letzten Tage der Menschheit" werden zur radikalen Abrechnung mit dem Weltkrieg, die "Dritte Walpurgisnacht" nimmt es auf mit der Hitlerei. Karl Kraus: Das sei der größte und strengste Mann, der heute in Wien lebe, heißt es bei Elias Canetti. Kraus, geboren 1874 im böhmischen Jicin, gestorben 1936 in Wien: Für die einen war er Gott, für andere der leibhaftige Gottseibeiuns. Sein Name ist legendär geblieben, doch wofür er stand, das verblasst mehr und mehr. Jens Malte Fischer holt ihn jetzt mit einer Biografie in die Gegenwart. Persönlichkeit und Werk, Freund- und Feindschaften, Sprüche und Widersprüche zeigen einen der größten Schriftsteller in seiner Zeit und darüber hinaus.
Zsolnay Verlag, 1102 Seiten, € 45,00
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Thomas Piketty
Kapital und Ideologie

Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz. Märkte, Profite und Kapital sind Konstruktionen, die von unseren Entscheidungen abhängen. Thomas Piketty erforscht die Entwicklungen des letzten Jahrtausends, die zu Sklaverei, Leibeigenschaft, Kolonialismus, Kommunismus, Sozialdemokratie und Hyperkapitalismus geführt haben. Seine These: Nicht die Durchsetzung der Eigentumsrechte oder das Streben nach Stabilität sind der entscheidende Motor des Fortschritts über die Jahrhunderte gewesen - sondern das Ringen um Gleichheit und Bildung. Die heutige Ära extremer Ungleichheit ist in Teilen eine Reaktion auf den Zusammenbruch des Kommunismus, aber sie ist auch das Resultat von Ignoranz, intellektueller Spezialisierung und unserer Drift in die Sackgasse der Identitätspolitik. Thomas Piketty plädiert für einen neuen "partizipativen" Sozialismus, eine Ordnung, die auf einer Ideologie der Gleichheit, des sozialen Eigentums, der Erziehung und Bildung und der Teilhabe an Wissen und Macht basiert.
Übersetzt von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler.
C. H. Beck Verlag, 1312 Seiten, € 39, 95
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Michael Hampe
Die Wildnis, die Seele, das Nichts
Über das wirkliche Leben

Wie finden wir das wirkliche Leben? Im Rückzug in unberührte Natur? Nach dem Tod in der Unsterblichkeit? Durch das Leben unserer Kinder? Diese Fragen treiben auch den fiktiven Lyriker und Philosophen Moritz Brandt um. Sein Freund Aaron sortiert dessen Nachlass, stößt dabei auf Tagebücher und Essays, in denen Brandt über das wirkliche Leben nachdenkt. Je mehr er sich aber in diese Texte vertieft, desto häufiger fragt sich Aaron: Woher kommt der Wunsch, sich zu verwandeln, wirklich zu werden? Michael Hampe verknüpft Erzählung und Reflexion, damit wir erkennen, wie uns die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit daran hindert, mit unserem Leben klarzukommen.
Carl Hanser Verlag, 304 Seiten, € 26,00
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Ruud Koopmans
Das verfallene Haus des Islam
Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt

Das "Haus des Islam" ist vielerorts zum Haus von Krieg, Terror, wirtschaftlicher Stagnation und Diktatur geworden. In seiner Analyse dieser desolaten Lage setzt der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans harte Fakten gegen islamkritische Pauschalurteile und eine modische Selbstkritik des Westens. Er zeigt, wie der Fundamentalismus den Islam weltweit in den Würgegriff nimmt, und fragt, welche Wege aus dieser Sackgasse führen.
C. H. Beck Verlag, 288 Seiten, € 22,00
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Roger de Weck
Die Kraft der Demokratie
Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre

Rundum bedrängen Autoritäre die Demokratie. Doch warum bleiben Liberale und Linke so defensiv? Kippen die Konservativen nach rechts? Die Schwäche der Demokraten ist viel gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionäre, warnt Roger de Weck. Sein Buch zeigt die Methoden und Schwachstellen der Rechten. Wer will, kann sie sehr wohl stoppen in ihrem Kulturkampf wider die Liberalität.
Suhrkamp Verlag, 327 Seiten, € 24,00
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Patrik Svensson
Das Evangelium der Aale

Nie in seiner Kindheit war Patrik Svensson seinem Vater so nah wie beim Aalfischen. Als Erwachsener stellt er fest: Der Erinnerung an seinen Vater kommt er nicht auf die Spur, ohne nach dem Fisch zu suchen, der sie miteinander verband - und über den wir bis heute erstaunlich wenig wissen. Svensson entwirft eine Natur- und Kulturgeschichte der Aale, von Aristoteles und Sigmund Freud über Günter Grass bis zu Rachel Carson, und verbindet sie mit seiner persönlichen Geschichte. Auf verschlungenen Wegen wird das Rätsel des Aals zum Bild für das Leben selbst.
Übersetzt von Hanna Granz.
Carl Hanser Verlag, 256 Seiten, € 22,00
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Zoran Terzik
Idiocracy
Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten

Jenseits der universellen Geschichte menschlichen Unvermögens gibt es heute eine neue Qualität des Idiotentums. Während der alte Idiot aus der Isolation ein Wissen bezog, verweigert sich der neue Idiot jeglichem Weltverständnis. Er erscheint nurmehr als die Figur einer systemischen Inkompetenz, die bis in die letzten Verzweigungen des politischen und medialen Lebens ihre Wirkung entfaltet und dabei neue, meist völlig absurde Kompetenzen ausbildet. Die heutigen Debatten über "Fake News" oder "postfaktische Gesellschaft" können in dieser Perspektive auch als Anzeichen einer umfassenden Transformation von Formen der Selbstpolitik gelesen werden, in der das Absurde das Bild der Realität neu definiert. Denn während viel von globalem Bewusstsein und Gemeinschaft die Rede ist, scheint der Solipsismus des idiotischen Subjekts unterschwellig eine umso wirksamere Rolle zu spielen. Als isoliertes Selbst der Vielen bildet es das leere Zentrum eines planetarischen, sich um sich selbst drehenden Idiotismus.
Diaphanes Verlag, 360 Seiten, € 24,00

Alexandre Grandazzi
Urbs
Roms Weg zur Weltmetropole

Die Geschichte der Stadt Rom ist die Geschichte der Eroberung des Mittelmeerraumes und der Errichtung eines Weltreiches. Rom steht im Zentrum dieser ersten Globalisierung der Geschichte. Jahrhundert für Jahrhundert, Sieg für Sieg, schrieben die Römer den Fortschritt ihrer Eroberungen im Raum ihrer Stadt ein, die so zu einem steinernen Denkmal wurde, in dem die Römer ihre Geschichte lesen und eine kollektive Identität feiern konnten. Alexandre Grandazzi zeichnet ein Panorama der Frühzeit Roms von den Ursprüngen bis zum Tod von Augustus, der die Politik und das Antlitz der Stadt mit einem epochalen Bauprogramm für die kommenden Jahrhunderte grundlegend veränderte. Unter Einbeziehung der wichtigsten Themen, von der Umwelt und Topografie, über die ethnische Zusammensetzung und materielle Kultur, bis zur Entwicklung der Weltsprache Latein und der politischen Geschichte des Reiches, erklärt er den unglaublichen Erfolg der "Ewigen Stadt".
Übersetzt von Clemens Klünemann, Sabine Grebing, Regine Schmidt und Nathalie Lemmens.
Verlag Philipp von Zabern (wbg), 976 Seiten, € 75,00
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Fred Pearce
Fallout
Das Atomzeitalter - Katastrophen, Lügen und was bleibt

Gekündigte Atomabkommen, drohendes Wettrüsten, marode Kernkraftwerke … der Geist der Radioaktivität schwebt weiter über uns. Aber was genau wissen wir über die Folgen von Verstrahlung und die Gefahren, die von stillgelegten Meilern ausgehen? Wie leben die Menschen in und um die Sperrzonen? Und wohin mit dem ganzen Atommüll? Eine Reportagereise durch das nukleare Zeitalter.
Übersetzt von Tobias Rothenbücher.
Verlag Antje Kunstmann, 350 Seiten, € 25,00
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Stefan Koldehoff/Tobias Timm
Kunst und Verbrechen

Die Liste der Verbrechen, die in Zusammenhang mit Kunst begangen werden, ist lang. Mit dem enormen Anstieg der Preise und der Globalisierung des Kunstmarktes hat die Kriminalität jedoch eine neue Qualität erreicht - so ist etwa Artnapping, bei dem ein Kunstwerk als Geisel genommen und erst gegen Lösegeld wieder zurückgegeben wird, heute keine Seltenheit mehr. Stefan Koldehoff und Tobias Timm nehmen vom Kleinganoven bis zum schwerreichen Meisterfälscher all jene in den Fokus, die sich illegalerweise an Kunst bereichern wollen.
Galiani Verlag, 319 Seiten, € 25,00

Besondere Empfehlung des Monats April: Prof. Dr. Ulrike Guérot (Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems):

Marina Garcés
Neue radikale Aufklärung

In ihrem Plädoyer für eine neue, radikale Aufklärung wendet sich Marina Garcés gegen die Leichtgläubigkeit heute. Autoritarismus, Populismus, Terrorismus dominieren in einer Welt, in der wir bereitwillig neue Formen der Knechtschaft und Unterdrückung akzeptieren, anstatt Freiheit und Würde anzustreben. Welche Alternativen bietet sich zur neuen "selbstverschuldete Unmündigkeit"? Wie können das soziale, kulturelle und politische System, aber auch die Geisteswissenschaften dazu beitragen, effektive Werkzeuge gegen den von Garcés so apostrophierten "Nekrokapitalismus" zu schmieden? Vor dem Hintergrund der Deaktivierung der kritischen Subjektivität zielt dieser Essay darauf ab, den Status des Menschlichen in Bezug auf die Welt, und hier auch auf die nichtmenschlichen Daseinsformen, neu zu denken.

Nicht mehr ganz neu, aber dafür in Corona-Zeiten besonders wichtig: Marina Garcés "Neue Radikale Aufklärung". Nach Moderne und Postmoderne lässt sie die "Postume Kondition" der Menschheit beginnen. Marina Garcés diskutiert den "antiaufklärerischen Krieg" der zeitgenössischen Gesellschaft, die zynisch daran glaubt, was in jedem Moment das Beste für sie ist und die dem "Solutionismus" frönt, dem Alibi eines Wissens, das nicht mehr darauf zielt, uns als Personen oder als Gesellschaft besser zu machen. In Verbindung mit der Neutralisierung jeder Kritik steuern wir, so Garcés, auf eine smarte Welt für unheilbar dumme Bewohner zu. Wer dem widersprechen will, sollte dieses kleine, leichte und erhellende Büchlein lesen, das nichts Minderes ist, als die Skizze eines Forschungsprogramms für die Humanities im 21. Jahrhundert: Sapere aude!
Ulrike Guérot

Übersetzt von Charlotte Frei.
Verlag Turia + Kant, 127 Seiten, € 12,00

Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter (Wien); Peter Ehmer, WDR 5; Dr. Eike Gebhardt; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Literaturarchiv Marbach; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz; Prof. Dr. Joachim Treusch, Jacobs-University, Bremen; Dr. Andreas Wang; Michael Wiederstein, Schweizer Monat; Prof. Dr. Harro Zimmermann; Stefan Zweifel, Schweiz

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