Die missachtete Risiko-Studie zur Pandemie

Der Bericht wurde nicht ernstgenommen, im eingetretenen Risikofall steht die Bundesrepublik nackt und die Ärzte unversorgt im Dilemma

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Die Neue Züricher Zeitung wies vor gut einer Woche darauf hin, dass 2012 eine Risiko-Studie des Bundesamts für Bevölkerungsschutz zur Pandemie vom Typ Corona-Virus erschien, die einen erstaunlich ähnlichen Ablauf zur aktuellen Situation beschreibt. Das lässt aufhorchen, denn kurz zuvor hatten BR24 und das Recherchenetzwerk Correctiv in regierungsfreundlicher Art dementiert, dass diese Analyse vergleichbar wäre. Sie habe einen wesentlich krasseren Verlauf als aktuell dargestellt und deshalb sei ein Vergleich mit der jetzigen Pandemie "Desinformation".

Eine ziemlich wilde Interpretation. Denn der dargestellte Verlauf und die (nicht beachteten) Ratschläge passen genau auf die aktuelle Situation. Der Erreger wird dort von dem bekannten SARS-Typ unterschieden und als Corona-Virus bezeichnet. Zwar ist richtig, dass diese Studie mit einer Inkubationszeit von nur drei Tagen und einem Intensivpflegebedarf von 30 % mathematisch horrende Zahlen hervorbrachte - 8 Millionen Tote beispielsweise. Die jetzige Pandemie hat Inkubationszeiten von zehn Tagen und einen Intensivpflegebedarf von ca. 3% Prozent, aber alles Andere entspricht genau dem aktuellen Ablauf.

Im Übrigen liegt es im Charakter einer "Risiko-Analyse", dass sie nicht absolut wörtlich zu nehmen ist, sondern Szenarien zeigt, um die das Ausmaß der Gefahr variieren kann. Die vom gleichen Bundesamt analysierten Katastrophen "Wintersturm" und "Sturmflut" werden auch nicht mit genau der gleichen Windgeschwindigkeit oder Sprungfluthöhe auftreten. Es ist zweifelsfrei, die genannte Analyse beschreibt Risiken und Handlungsoptionen einer Corona-Pandemie.

Nur die ausländische Presse berichtet

Der österreichische Standard hat nun vor einigen Tagen diese weitgehende Ähnlichkeit der damaligen Analyse mit der aktuellen Situation genauer vertieft. Bedrückend, dass erneut eine ausländische Zeitung in die Analyse des Berichts einsteigt und zeigt, dass sie eine deutliche Warnung war, die aber völlig negiert wurde.

Auch der Standard betont, dass es im Charakter einer Risiko-Analyse liegt, ein Grundszenario zu beschreiben, das auch bei etwas abweichenden Modellannahmen nicht irrelevant wird. Vielmehr sollen grundsätzlich wichtige Abwehrmaßnahmen aufgezeigt und für entsprechende Vorbereitung gesorgt werden. Auch diese Studie geht von einem fehlenden Impfstoff aus und entsprechend empfehlen die Autoren auf Seite 59:

Neben Einhaltung von Hygienemaßnahmen können Schutzmaßnahmen ... ausschließlich durch ... den Einsatz von Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen getroffen werden.

Risiko-Studie

Die Schwächen des Berichts

Diese Aussagen mahnen also eine gute Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung an, genau das, was jetzt fehlt. Allerdings ist trotz der Wichtigkeit der Aussagen der wichtigste Satz in keiner Weise hervorgehoben - durch Fettdruck beispielsweise - und steht fast wie eine Nebenbemerkung im Text. Er wird auch nicht weiter vertieft und nicht explizit darauf hingewiesen, dass die Pandemie auch etwas schwächer ausfallen kann.

Weil der Bericht nicht ernst genommen wurde, steht die Bundesrepublik jetzt im eingetretenen Ernstfall nackt da und die Ärzte befinden sich unversorgt im Dilemma. Ein klares behördliches Versagen! Genauer gesagt: ein Versagen des Bundestags, denn an ihn war der Bericht gerichtet. Er ging allen Abgeordneten zu. Aber Reaktionen gab es offensichtlich keine und wenn, dann allenfalls für den kommerziell wesentlich interessanteren Teil der Ausstattung der Kliniken.

Die Empfehlungen wurden wiederholt

Das Fatale: Dieser Bericht zur Risikoanalyse wird alle fünf Jahre wiederholt und erschien 2017 neu. Er ist kommentiert mit einer Reihe weiterer Katastrophenszenarien, erinnert aber unübersehbar an den Pandemie-Bericht von 2012. Ich zitiere:

Einen Schwerpunkt der Arbeiten bildete die ausführliche Betrachtung der seit 2012 durchgeführten Risikoanalysen im Bevölkerungsschutz:

• Extremes Schmelzwasser aus den Mittelgebirgen • Pandemie durch Virus Modi-SARS • Wintersturm • Sturmflut • radioaktive Stoffe aus einem Kernkraftwerk • Freisetzung chemischer Stoffe

Und weiter:

Hierbei zeigte sich, dass das Ergebnis Pandemie durch Virus-Modi SARS (d.h. Typ Corona) bei fast allen betrachteten Schutzgütern (Mensch, Volkswirtschaft und Immaterielles) die größten Schäden hervorruft.

Und

Der Führung wird die Erstellung eines medizinischen und pharmazeutischen Lagebildes empfohlen ...und die Vernetzung der Ressourcen von Bundesländern und privaten Hilfsorganisationen zum Gesamtsystem "Bevölkerungsschutz".

Im Abschnitt Notfallplanung:

Es wird empfohlen, als Vorbereitung auf eine Pandemie mögliche Auswirkungen und entsprechende Maßnahmen im Vorfeld zu planen, um die Pläne im Ereignisfall rasch aktivieren zu können. Eine Orientierung für Inhalte einer solchen Planung bietet der nationale Pandemieplan von 2005, überarbeitet 2016.

Der Bundestag wurde also 2017 nochmals informiert und aufgefordert, entsprechende Abwehrfahrmaßnahmen einzuleiten. Der Pandemieplan des Robert-Koch-Instituts sieht dazu im Abschnitt Arbeitsschutz ausdrücklich Schutzmasken für Personal und Patienten vor - empfiehlt also genau das, woran im Moment größter Mangel besteht.

Offensichtlich besteht ein Problem mit der Wissenschaft, die vereinfachten Modellannahmen und Theorien zu verstehen, zu verarbeiten und in praktisches Handeln der Regierenden umzusetzen. Dabei wiegt besonders schwer, dass dieser Pandemieplan sich auch auf schwerere Influenza-und Grippe-Epidemien bezieht und schon da spezielle Schutzkleidung und Maskenarten empfohlen werden, die nun bekanntlich alle ein riesiger Engpass sind.

Bill Gates - Mäzen der Impfforschung

Dass diese Gefahr von Pandemien in der heutigen globalen Welt eine zwangsläufige Folge der Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens und auch unserer Reisegewohnheiten ist, war seit dem ersten SARS-Ausbruch außer Zweifel. Microsoft-Gründer Bill Gates hat seit 2010 immer wieder auf die Gefahr weltweiter Pandemien hingewiesen, so auch auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz in Anwesenheit der Kanzlerin und zahlreicher Minister. Er setzt im Übrigen einen großen Teil seines Vermögens für die Vorsorge und Forschung in diesem Gebiet und die Förderung der Entwicklung von Impfstoffen ein. Dass SARS-Modifikationen eine große Gefahr für Menschen sind, war und ist also schon lange Allgemeinwissen.

Umso unverständlicher ist es, wenn das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und die 2013 und 2017 informierten 700 Bundestagsabgeordneten nicht dafür gesorgt haben, zumindest die oben genannten Schutzmaßnahmen zu sichern. Auch im Bundestag sitzen Ärzte, darunter Rudolf Henke, langjährig Vorsitzender des Marburger Bundes und im Vorstand der Bundesärztekammer.

Selbstorganisation - besser als Regierungsverordnung

Meiner Meinung nach liegt es daran, dass Regierungsmitglieder und Beamte fast immer nur in staatlichen Maßnahmen denken und deren Möglichkeiten dabei überschätzen. Es gibt auch die Alternative der Selbstorganisation von Wirtschaftszweigen. Es wird übersehen, dass Regierungen die Wirtschaft auffordern können, sich zu bestimmten Themen selbst zu organisieren. Auch die EU-Kommission schlug das 2012 in ihrer Strategie für die soziale Verantwortung von Unternehmen vor.

Selbstorganisation hat sich längst als ein starkes Element wirtschaftlicher Regulierung bewährt, wie auch in meinem letzten Buch "Zähmt die Wirtschaft" ausgeführt. Ein besonders bekanntes und auch erfolgreiches Beispiel ist die Selbstverpflichtung von 30 Modefirmen, bei Auftragsvergaben nach Bangladesch für ausreichende Arbeitssicherheit und für Mindestlöhne zu sorgen. Nun sechs Jahre in Kraft, hat allein diese Selbstverpflichtung der Bekleidungsindustrie zu einer generellen Verbesserung der Situation der arbeitenden Bevölkerung in Bangladesch geführt.

Allerdings muss Selbstregulierung angestoßen werden. In diesem Fall war es der Druck aus der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft wegen der in Bangladesch vorhandenen katastrophalen Arbeitssicherheit in maroden Gebäuden mit entsprechenden tragischen Unfällen. Das führte schließlich zu dem tollen Programm des Bangladesch-Accord. In anderen Fällen, für Verhaltensregeln gegen Korruption im Gesundheitssektor beispielsweise, wurden solche branchenweite Regeln durch die Regierung angestoßen.

Da die Politiker aufgrund der vorangegangenen Risikoanalysen eigentlich im Bilde sein mussten, hätte die Bundesregierung für den Pandemiefall den Verbänden des Gesundheitswesens und der Medizintechnik die Auflage machen sollen - ja müssen, in Abstimmung mit Virologen mit entsprechenden Kapazitäten und Lagervorräten für den Ernstfall vorzusorgen.

Solche Vorgehensweisen die jetzige Versorgungsnotlage. Sie zeigt, dass diese Versorgungsaufgaben nur als verpflichtende Selbstorganisation der beteiligten Wirtschaftszweige gelöst werden können. Bei entsprechenden gesetzlichen Vorgaben können so auch lokale Fertigungen und Mindestbevorratung - auch von Ausgangsmaterialien - gesichert werden, teils allerdings mit staatlicher finanzieller Unterstützung. Gerade die jetzige Freiwilligkeit vieler Firmen, ihre Fertigung umzustellen auf Masken und Schutzkleidung, zeigt, welche organisatorischen Maßnahmen ein solcher Notfallplan haben könnte.

Wir werden die Nichtbeachtung dieser Studie durch die Regierungen und den Deutschen Bundestag nicht mehr korrigieren können. Die Versäumnisse werden eine erhöhte Zahl von Infizierten und auch Todesopfer fordern. Dass also aus der jetzigen katastrophalen Lage ein neues, wirkungsvolleres Pandemieprogramm entstehen muss, sollte deshalb zweifelsfrei sein. Auch, dass ein Untersuchungsausschuss unausweichlich ist.

Die Verwaltungsschwäche der Bundesregierung

Im Fazit bleiben eine erschreckende Beratungsresistenz und Verwaltungsschwäche der Bundesregierung und der Parlamente. Wir kennen das schon aus der schleppenden Verwaltungsdigitalisierung, der Bearbeitungsdauer von Asylbewerbern, der "Energiewende" - Stichwort nutzloses EEG - und natürlich dem ewigen Bau des Berliner Flughafens.

Aber "Verwalten-Können" ist eine Regierungsaufgabe, die gleich wichtig ist wie Innen- und Außenpolitik. Dazu gibt es keine Alternative, gute Verwaltungsarbeit der Regierungen ist zwingend notwendig.

Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.

Von Peter Grassmann ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Zähmt die Wirtschaft! Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen".

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