Coronavirus: Gefährlich falsche Schwerpunkte der Regierung

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Die Vermeidung von Neuansteckungen ist noch viel wichtiger als die Erhöhung der Kapazitäten. Die Unsicherheiten im Infektionsweg stellen daher ein enormes Risiko dar

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Erfreulich ist zunächst, dass ein Umdenken eingesetzt hat, welches von der abenteuerlichen Strategie der Herdenimmunität abrückt. Ein endlich realistisches (und daher wohl vertrauliches) Papier des Innenministeriums bezieht sich dabei erstmals auf die einzig sinnvolle Strategie The hammer and the dance. Denn sogar unter teils optimistischen Annahmen kamen Fachleute des RKI zu katastrophalen Fallzahlen. Trotzdem sind die bisherigen Maßnahmen zur Infektionsvermeidung noch unzureichend.

Warum Kapazitäten nicht das Problem sind

Wie schon am 19. März ausgeführt, errechnet sich die Belastungsgrenze der Bettenkapazität aus der täglichen Zahl der Neuinfektionen N, der Wahrscheinlichkeit p, dass ein Infizierter intensivpflichtig wird, und der mittleren Behandlungsdauer T. Ich schließe mich hier Harald Lesch und dem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie an. Diese geht von T=20 und p=6 Prozent, bestenfalls p=2 Prozent aus.

Aus dem prognostizierten Bettenbedarf in diesem Bericht wird auch deutlich, wie sensibel dieser von der Reproduktionszahl R abhängt (Abb. 2a und 2b). Hier liegen die größten Gefahren, aber auch die größten Möglichkeiten. Eine Erhöhung der Bettenkapazität oder Beatmungsgeräte führt vielleicht dazu, dass statt 10.000 Kranken 12.000, 14.000 oder vielleicht 20.000 behandelt werden können. Maßnahmen zur Infektionsvermeidung können aber darüber entscheiden, ob es 10.000, 100.000 oder eine Million Behandlungsbedürftige gibt.

Kampf gegen den falschen Feind

Die Dynamik exponentiellen Wachstums, das der menschlichen Intuition widerspricht, führt auch hier zu einem falschen Fokus, wie man ihn an dem martialischen Gebaren der USA (Lazarett-Kriegsschiffe einsetzen, Befehl, Beatmungsgeräte zu bauen) beobachten kann.

Der Krieg gegen das Virus wird aber ganz anders gewonnen: durch Kooperation der Bevölkerung, sich nicht mehr gegenseitig anzustecken. Besorgniserregend - gerade auch in Deutschland - ist das dafür fehlende Bewusstsein und die noch nicht geklärten Ansteckungswege. An dieser Stelle wird auch der Vergleich zwischen europäischen Ländern sehr unsicher, weil sich schon kleine kulturelle Differenzen (Begrüßung, Mobilität, Bevölkerungsdichte, Generationenkontakt, Bereitschaft, behördlichen Anordnungen Folge zu leisten) oder gar meteorologische Bedingungen massiv auf die Ansteckungsrate auswirken können. Es kann sein, dass sich die Situation in Deutschland besser als in Südeuropa entwickelt, es kann aber auch das Gegenteil eintreten.

Infektion durch die Luft unterschätzt

Die größte Gefahr liegt darin, dass der Hauptansteckungsweg missverstanden wird. Nachdem seit Wochen bereits auf die einfachen Maßnahmen Hände waschen statt schütteln, keine Berührungen usw. hingewiesen wird, und diese auch leicht zu befolgen sind, ist es befremdlich, dass diese Eindämmung der Schmierinfektionen so wenig Wirkung zeigt.

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Tröpfcheninfektion nicht nur durch klassisches Husten und Niesen übertragen wird, sondern auch durch kleinere Tröpfchen, die beim Ausatmen entstehen. Da die Sinkgeschwindigkeit von der Größe abhängt, können kleinere Tröpfchen mit Viren sehr lange in der Luft bleiben. Eine neue Studie hält daher die Übertragung durch Aerosole für "plausibel", da sich das Virus "über viele Stunden" in der Luft halten kann.

Dies deckt sich mit Berichten über eine Ansteckung auf Distanz und sogar im Freien. Das (weniger infektiöse!) SARS-Virus von 2002 drang sogar über geöffnete Fenster in andere Wohnungen ein, weitere Hintergründe hier und ein Übersichtsartikel. Es könnte sein, dass der Übertragungsweg über die Luft fatal unterschätzt wird.

Virus einsperren, nicht Personen - sofort

Konsequenz kann natürlich nur sein, die gesamte Bevölkerung möglichst schnell mit Mundschutzmasken auszurüsten, was bei Gesunden die Verbreitung vermindert und bei Infizierten erst recht. Es ist bizarr, dass Europa glaubt, ohne dies auszukommen, nachdem es noch in keinem anderen Land gelungen ist, die Verbreitung ohne Schutzmasken auch nur einzudämmen. Zur Motivation der Bevölkerung wäre es sicher auch hilfreich, wenn ein Verantwortlicher einmal öffentlich eingestehen würde, dass man hier Vorsorge versäumt hat.

Ein gemeinsamer Aufenthalt von Personen in Büros ohne Mundschutz muss daher verboten werden, aber er muss auch in Supermärkten im öffentlichen Verkehr obligatorisch werden. Auch im Freien ist er ab einer gewissen Personendichte angezeigt, Abstandsregeln sollten erweitert werden. Die epidemiologische Gefahr gerade von Supermärken wird hier modellartig veranschaulicht.

Weiter ist die Isolierung von Infizierten sinnvoll. Es wird vom Gelingen dieser Infektionsvermeidung, nicht von der Bettenkapazität, abhängen, ob das Gesundheitssystem an die Wand fährt. Noch ist die Gefahr keineswegs gebannt. Ein Warten auf die Wirkung der bisherigen Maßnahmen, die sich mit 2-3 Wochen Verspätung auf die Todesrate auswirkt, wäre höchst fahrlässig.

Vertrauliche Informationen an den Autor unter coronavertraulich@protonmail.com. Meinungen sind im Forum besser aufgehoben.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.

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