Erste Überfälle auf Supermärkte in Italien

Ausgangssperren verlieren ihren Sinn, wenn sie dazu führen, dass Menschen sich nicht mehr ernähren können. Für viele Italiener ist dieser Punkt bereits erreicht

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"Die Supermärkte bleiben offen", stellte die Politik zu Beginn des Shutdowns immer wieder klar, sowohl in Italien als auch in Deutschland und anderen Staaten, die gegen die Verbreitung des Virus strikte Maßnahmen setzten. "Wir sind weiterhin für euch da", besänftigten manche Supermarktketten auf beinahe fürsorgliche Art und Weise. Was geschieht aber, wenn der sonst zahlungskräftige Kunde plötzlich kein Geld mehr hat, um sich Essen zu leisten? Darf er dann noch immer auf den Beistand der Lebensmittelläden rechnen?

Im Zweifelsfall entscheiden sich die Supermärkte wohl eher für die Rentabilität des eigenen Geschäftes. So wie in der sizilianischen Stadt Palermo: Dort lassen sich größere Einkaufszentren seit einigen Tagen durch Ordnungskräfte bewachen, nachdem eine Bürgergruppe am vergangenen Donnerstag versucht hatte, mit der Ware ohne Bezahlung einfach an der Kasse vorbeizugehen. "Wir haben kein Geld mehr", sollen die Menschen aus der Gruppe gerufen haben. Die Polizei war schnell vor Ort und verhinderte den Plünderungsversuch.

Bemerkenswert an diesem Fall ist, dass er sich von den Taschen- und Ladendiebstählen, die im unter Lockdown stehenden Italien ohnehin schon zahlreicher als sonst auftreten, in einem Punkt grundlegend unterscheidet. Diesmal handelte es sich nicht um die üblichen Kleinkriminellen, die sich unbemerkt etwas unter den Mantel zu stecken versuchten, sondern um ansonsten völlig unbescholtene Bürger, die den offenen Überfall probten.

In Facebook-Gruppen wird zum Aufstand aufgerufen

Der Plünderungsversuch trat in den italienischen Medien eine Welle an Berichten über ein Problem los, das bisher ignoriert wurde, sich für die Politik aber noch zur tickenden Zeitbombe entwickeln könnte. Immer mehr Menschen fehlt wegen des Shutdowns schlicht das Geld für Lebensmittel.

Symptomatisch dafür sind verschiedene Videos, die seit einigen Tagen in Italien in den sozialen Medien viral gehen, auf denen mittellose Menschen sich an der Supermarktkasse zu zahlen weigern. In einem Video aus Neapel ist beispielsweise ein Mann zu sehen, der sich mit folgenden Worten an die verstörten Mitarbeiter des Supermarkts wendet: "Sehen Sie her, da ist kein Champagner, kein Wein, nur das Allernotwendigste. Rufen Sie meinetwegen die Polizei. Es ist kein Geld mehr da, um einzukaufen."

In manchen Fällen handelt es sich um gezielte Aktionen. So soll der Überfall in Palermo nur die Umsetzung dessen gewesen sein, was in einer lokalen Facebook-Gruppe mit inzwischen über 2500 Mitgliedern schon in den Tagen zuvor gefordert worden war: "Unsere Familien müssen essen. Gehen wir auf die Straßen und holen wir uns, was uns zusteht." Ein anderer schreibt: "Um uns Gehör zu verschaffen, müssen wir die Supermärkte plündern. Das ist der einzig richtige Protest, nur so verstehen sie, in welche Lage wir geraten sind."

Am selben Tag des Überfalls beantragten allein in Palermo mehr als 1000 Familien Lebensmittelbeihilfen von der Gemeinde und von der Caritas. Dass die Menschen in Süditalien besonders hart betroffen sind, hat verschiedene Gründe. Zum einen leidet der Süden an einer ohnehin schon sehr leistungsschwachen Wirtschaft, was dazu führt, dass nur wenige Menschen - im Gegensatz zu den wohlhabenderen Norditalienern - dazu in der Lage sind, Rücklagen zu bilden. Zum anderen spielt auch der große Anteil an Schwarzarbeit eine entscheidende Rolle. Wer bereits vor dem Shutdown keiner angemeldeten Arbeit anging, hat nun auch keinen Anspruch auf die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen. Nach einer Studie der Gewerkschaft Cgil trifft dies in Palermo auf jeden dritten Arbeitnehmer zu.

Die italienische Tageszeitung "Il Fatto Quotidiano" schreibt angesichts dessen, dass sich in Süditalien zurzeit "ein ganz anders geartetes Virus" ausbreite, die Armut. Und die könnte - zumindest unter sozialen Gesichtspunkten - noch verheerender sein als das Coronavirus an sich.

Mafia profitiert von der Krise

Im Innenministerium ist die Sorge in diesen Tagen groß, dass sich die Überfälle auf Supermärkte tatsächlich noch zu Aufständen ausweiten. Ein internes Papier, das die Zeitung Repubblica einsehen konnte, versammelt verschiedene Ereignisse, die ein Bild der Verzweiflung zeichnen. Dazu gehören eine Stadträtin von Bari, die Familien ohne Anspruch auf staatliche Unterstützung persönlich Lebensmittelpakete bringt, und ein flehentlicher Video-Appell von Palermos Bürgermeister, der von der Regierung ein bedingungsloses Grundeinkommen mit zeitlicher Begrenzung fordert. Andernfalls, so warnt der Bürgermeister, werde die Mafia die Notsituation für sich zu nutzen wissen.

Auf den einschlägigen Facebook- und Whatsapp-Gruppen rufen nicht nur verzweifelte Bürger, sondern auch bekannte Mafia-Mitglieder zu zivilem Ungehorsam und Protestaktionen auf. Für die organisierte Kriminalität wären soziale Aufstände eine perfekte Gelegenheit, um Einfluss zu gewinnen und die Institutionen des Staates zu schwächen. Wenn man sich dabei noch als Wohltäter und Fürsprecher der Unterdrückten inszenieren kann, ist das ein willkommener Nebeneffekt.

Auch von der Krise gebeutelte Unternehmer sind jetzt ein leichtes Angriffsziel. Ihnen bietet die Mafia an, sich am kriselnden Unternehmen zu beteiligen, dadurch hat sie die Möglichkeit, schmutzige Gelder reinzuwaschen. Auch länger anhaltende Geschäftsbeziehungen werden angeboten. Das Risiko, dass außerdem untreue Verwaltungsmitglieder und Politiker von der Mafia bestochen werden, um staatliche Unterstützungsgelder für Unternehmen und Einzelpersonen abzuzwacken, stuft Italiens Polizeichef Franco Gabrielli als sehr hoch ein.

Zumindest für die Schwarzarbeiter gibt es seit gestern aber Grund zur Hoffnung. Da verkündete die Regierung in Rom, weitere 6 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, um Bürger mit einer Notzahlung von 600 bis 800 Euro zu unterstützen. Der Vizewirtschaftsminister präzisierte, dass es dieses Mal keine Unterscheidung mehr zwischen angemeldeten Arbeitnehmern und Schwarzarbeitern geben soll. Das käme der Forderung des Bürgermeisters von Palermo nach einem bedingungslosen Noteinkommen ziemlich nahe.

Solange die staatlichen Hilfen ausbleiben, helfen sich einige Bürger inzwischen gegenseitig. In Neapel und Potenza etablierte sich das Konzept der "spesa sospesa", des erweiterten Einkaufs. Wer kann, zahlt eine zusätzliche Packung Nudeln oder eine zusätzliche Dose Tomatensoße, und hinterlässt sie an der Kasse. Wer sich die Lebensmittel nicht leisten kann, holt sie anschließend dort ab.